Zur Geschichte des Vibrato (und anderer Spieltechniken) bei Streichinstrumenten
Liebe Cappricisten,
mich beschäftigt ein Thema, bei dem ich nicht so recht weiter weiß.
Bis vor kurzem war die Welt noch in Ordnung. Mein Wissensstand bezüglich der Verwendung des Vibratos (ich beschränke mich hier zur Vereinfachung auf Streichinstrumente, da ich bei diesen von der Technik des Vibratos etwas mehr verstehe) lautete so: Im Barock (und wohl auch noch etwas danach) wurde das Vibrato nur als gezielte Verzierung, also quasi wohldosiert, eingesetzt (wenn überhaupt). Das, was manche gern als "Dauervibrato" bezeichnen (der Begriff ist m. E. Quatsch mit Soße, da kein Streicher auf jedem Ton, und sei er noch so kurz, wie wild vibrieren wird, aber sei es drum), habe ich als Ergebnis der romantischen Musizierpraxis gesehen. Ich war mir auch bewußt, daß es zum Thema ein leider von mir noch ungelesenes Standardwerk gibt: Greta Moens-Haenen, "Das Vibrato in der Musik des Barock".
Dann jedoch hat dieses Weltbild ausgerechnet Roger Norrington durcheinandergebracht, als ich nämlich dessen "http://www.zeit.de/2009/13/Interview-Norrington" Interview in der ZEIT vom März 2009 las. Er behauptet, das "Dauervibrato" (ein besserer Begriff wäre wohl "unselektives Vibrato") im Orchester sei erst ein Produkt der 1920er Jahre! Moment mal - Mahlers Adagietto aus der 5. Symphonie ohne Vibrato? Ebenso das Adagio aus der 10.? Das kommt mir irgendwie spanisch vor.
Schließlich habe ich einen Text von David Montgomery zum Thema gefunden, der Moens-Haenen und Norrington i. W. widerspricht, aber bei mir die Verwirrung komplettierte. Ich kann hier nicht den ganzen Text zusammenfassen, aber versuche mal, ein paar generelle Thesen zum Thema zu formulieren, mit herzlicher Bitte um Widerspruch, wo immer er angebracht erscheint.
1) Es scheint eine erhebliche Begriffsverwirrung zwischen Termini wie "Tremolo", "Bebung" und "Vibrato" zu geben, die den Erkenntnisstand auf Basis einschlägiger Instrumentalschulen unklar erscheinen läßt.
2) Moens-Haenen, die soweit mir bekannt als anerkannte Expertin zum Thema gilt, scheint mit ihren Schlußfolgerungen nicht ohne Widerspruch zu sein - oder ist Montgomery ein Exot, so wie ein Physiker, der die Quantenmechanik ablehnt?
3) Vollkommen unklar ist für mich, ob Norrington mit seinen Ausführungen nur das Orchesterspiel meint, oder ob er auch die sonstige Musizierpraxis (also auch Kammermusik) einbezieht. Kein Vibrato im Streichquartett des 19. Jahrhunderts?
4) Norrington scheint sich insofern nicht ganz im gesicherten Terrain zu bewegen als er seine Behauptung, das Vibrato gehe auf Kaffeehausmusiker und Zigeuner-Fidler zurück (vom latent rassistischen Unterton dieser Äußerung abgesehen), wohl kaum wissenschaftlich untermauern können wird.
5) Die Chronologie der Dinge kommt mir spanisch vor. Geiger wie Heifetz, Milstein und Oistrach haben alle bei Leuten wie Stoljarski und Leopold Auer gelernt (noch vor 1920!), die wiederum im 19. Jahrhundert ausgebildet worden waren. Für alle drei genannten Geiger von Weltruhm war das Vibrato selbstverständlicher Teil ihres Violinspiels. Es hätte doch im künstlerischen Ideal dieser drei großen Geiger irgendwann einen Bruch durch die vermeintliche Einführung des "Dauervibratos" geben müssen, den ich aber nicht erkennen kann. Stattdessen gelten sie als typische Vertreter der großen russischen Geigenschule.
Vielleicht können mir einige mit dem Thema Vertraute weiterhelfen - oder andere sich in meine Fragerei einklinken.
LG