Bewertung von Konzerten - live vs. Konserve

  • Bewertung von Konzerten - live vs. Konserve

    Die folgenden Zitate sind dem Thread über Teodor Currentzis, der ja stark polarisiert, entnommen:

    Vielleicht wartest Du erst mal das Konzert am 25. Juni in Wien ab. Wenn Dir dann immer noch "völlig schleierhaft" ist, "was man an diesem gehypten Jungstar finden kann", ist das eine Meinung, mit der man sich auseinandersetzen kann. Vor dem Konzert schon solche Beurteilungen in die Welt zu setzen, kann ich nur dann ernst nehmen, wenn Du ihn - was ich nicht weiß - schon aus anderen eigenen Live-Erlebnissen her kennen solltest.

    Es kann ja durchaus sein, dass Currentzis live Qualitäten entwickelt, die sich in seinen Studioaufnahmen nicht vermitteln. Ich werde seine Karriere sicherlich gerne weiter verfolgen und versuchen, ihn beizeiten auch mal live zu sehen.

    Du hast recht, ich habe ihn noch nie live gehört, aber es gibt ja Mitschnitte, mit Hilfe derer man sich eine Meinung bilden kann. Davon abgesehen wäre es aber eine interessante Frage, inwieweit das Live-Erlebnis für die Beurteilung eines Dirigenten oder Orchesters eine Rolle spielt. Bei Sängern spielt es für mich klar eine Rolle, viele Sänger wirken live einfach anders (Beispiel: Falk Struckmann). Aber bei reiner Instrumentalmusik? Da kommt es doch nur auf den Höreindruck an und nicht auf das, was daneben so veranstaltet wird (könnte man auch Show nennen). Oder versteh ich Dich hier falsch? Bzw wurde diese konkrete Fragestellung schon einmal hier im Forum abgehandelt? Ich fände sie nämlich wirklich interessant.

    Stimmt, das wäre eine interessante Frage.

    Meines Wissens nicht, jedenfalls nicht als eigener Thread. Aber ich kann mich irren.

    Na dann, leg los ;)

    Wenn ich jetzt mal ganz ehrlich bin, interessiert mich das Thema nicht soo sehr, dass ich dafür einen eigenen Thread eröffnen möchte.. :pfeif:

    Schade. Mach das doch mal, denn letztlich glaube ich, dass, egal ob Solisten oder Orchester, es immer einen Unterschied zwischen live und Studio gibt und zwar einen nicht ganz unerheblichen. Wenn du da anderer Meinung bist, würde sich eine Diskussion bestimmt lohnen.


    Generell geht es darum, inwieweit ein Urteil, das auf mindestens ein Live-Erlebnis zurückgeht, ebenso "Relevanz" hat wie eines, das sich nur aus dem Hören von Aufnahmen speist. Ich denke, dass bei Sängern durchaus eine große Diskrepanz zwischen den beiden Urteilen bestehen kann. Insbesondere in der Oper nimmt man ja auch die schauspielerische Leistung wahr, was für manche Sänger vorteilhaft ist, für manche kontraproduktiv. Das betreffend dürfte ja Konsens bestehen.

    Aber wie verhält es sich bei Konzerten mit ausschließlich Instrumentalmusik?
    Natürlich könnte man einwenden, dass selbstverständlich große Unterschiede bestehen: Der Mitschnitt des Konzertes besitzt eine möglichst optimale Klangabalance, da ja mehrere Mikrophone oberhalb des Orchesters verteilt sind, so die Klänge möglichst gut eingefangen werden und im Optimalfall richtig abgemischt werden. Wenn man hingegen live einen Platz mit schlechter oder einfach nur unvorteilhafter Akustik hat, hört man vielleicht generell schlechter oder bestimmte Instrumentengruppen (Blechbläser, Schlagzeuger, ...) lauter als die anderen, oder man wird durch die unruhigen Sitznachbarn genervt etc. Das sind natürlich alles Faktoren, die zu einem anderen Hörerlebnis somit zu einer anderen Beurteilung führen.

    Aber kann man wirklich live zu einem ganz anderen Urteil als durch einen Mitschnitt kommen? Ich habe Currentzis noch nicht live gehört, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nach der ersten Livebegegnung Ende Juni 2019 schlagartig zu einem Currentzis-Fan mutiere. Ich denke, wenn man sich auf den Aufnahmen durch gewisse Faktoren gestört fühlt, werden sich diese bei der Livebegegnung kaum in Luft auflösen. Daher denke ich nicht, dass die Live-Begegnung bestimmte Kritikpunkte bestimmt ausräumen wird. (Aber ich lasse mich überraschen!)

    Einen unbestreitbaren Vorteil / Nachteil haben Aufnahmen aber: Man kann sich ganz gezielt dieselbe Nummer 20mal anhören, um auch wirklich alle Feinheiten mitzubekommen. Das mache ich aber nie, weil ich Musik nicht "sezieren" möchte, das macht mir keinen Spaß mehr und ist wohl auch nicht im Sinne der Musik; gerade diese Unwiederholbarkeit macht ja für mich einen Reiz aus! Allerdings ist es mir einmal passiert, dass mir ein Sänger (es war der Wassermann in der Rusalka) live sehr gut gefallen hatte und ich dann am Radiomitschnitt derselben Vorstellung zwei Stellen entdeckt habe, die mir überhaupt nicht gefallen haben. Das führe ich darauf zurück, dass ich mich am Mitschnitt allein auf die Stimme konzentriert habe, während hingegen live auch noch andere Faktoren dazugekommen sind. Oder ich hatte live genau an diesen zwei Stellen nicht aufgepasst, auch möglich. (der Wassermann ist ja eine lange und wichtige Rolle, da habe ich mich live nicht die ganze Zeit auf seinen Gesang konzentriert).

    Inwieweit sich Studioaufnahmen und Live-Mitschnitte unterscheiden, kann ich aber fast gar nicht beurteilen. Ich höre Musik am liebsten live (was in Wien glücklicherweise um wenig Geld möglich ist), und wenn ich Aufnahmen höre, bevorzuge ich Live-Mitschnitte. Studioproduktionen haben für mich immer den Hauch etwas Künstlichen, etwas Zusammengeflickten, etwas, das einfach nicht "natürlich" ist. Aber vielleicht ist das nur eine Art Spinnerei von mir.

    Worum es ganz konkret in diesem Thread gehen soll, weiß ich selbst noch nicht. Wie seid Ihr zu dem Thema eingestellt? Findet Ihr, dass man nicht nur von Sängern, sondern auch von Instrumentalmusik live einen ganz anderen Eindruck haben kann als auf einer Konserve? Was möchtet Ihr dazu festhalten?

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Interessantes Thema - wobei mir scheint, daß sich hier zwei Fragestellungen überlappen, so daß es zu Miußverständnissen kommen kann:

    Einmal geht es wohl um die Frage des Unterschieds nur im Hören: Daß ein Konzert für den Besucher im Konzertsaal anders klingt als dasselbe Konzert in der Aufzeichnung, ist das eine, und das haben wir übrigens schon dort mal ausführlicher diskutiert: Konserve oder das wirkliche Ding - Musikerlebnis im Konzert- oder Opernhaus oder am CD- und DVD-Player. Hier steht auch die Frage im Vordergrund, welche Rolle die Aufnahmetechnik spielt (Du sprichst dies ja auch an) und wie sie sich auf die Rezeption auswirkt.

    Das andere ist die Frage, welche Rolle das Sehen spielt: Wie erlebe ich ein Konzert, sagen wir, einen Klavierabend, wenn ich dem Pianisten im Konzertsaal zuhöre und zusehe, und was ist anders, wenn der visuelle Aspekt wegfällt? Ich könnte im Konzert z. B. die Augen schließen (was ich nicht selten mache, vor allem, wenn mich der Anblick von Dirigent oder Instrumentalist aus irgendeinem Grund stören, etwa bei Bewegungen, die ich als zu theatralisch empfinde) und hätte dann einen anderen Eindruck. Hier spielt die Frage der Aufnahmetechnik natürlich keine Rolle.

    Ich hatte die Diskussion im Currentzis-Thread so verstanden, daß es um den zweiten Aspekt geht, nicht um den ersten. Diesen zweiten Aspekt finde ich persönlich interessanter. Aber vermutlich habe ich Dich da mißverstanden?

    Vorschlag: Wir einigen uns darauf, dies zu diskutieren, zumal die Frage mit der "Konserve" ja bereits etwas Eigenes hat und beide Aspekte für mich durchaus voneinander zu trennen wären. Aber dann müßte man wohl den Threadtitel ändern. Oder aber wir schließen dies hier an die von mir verlinkte Diskussion an.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Über den Unterschied von live-Mitschnitten und "real" live kann ich nicht sooviel sagen...
    Aber daß ich bei live-Mitschnitten (vor Allem auch mit Bild) tendenziell eher mitgerissen bin und vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle "gnädiger", muss ich gestehen.

    Die Studio-Aufnahme ist halt wirklich das reine Klangereignis, da gehe ich davon aus, daß die Künstler wirklich IHRE Vorstellung eines Werkes so getreu wie möglich verwirklichen, deshalb bin ich da tendenziell strenger und betrachte jedes Detail als absichtlich so und nicht anders geformt.
    Live-Aufführungen und Studioaufnahmen sind halt verschiedene Kunstwerke, die nach (leicht) verschiedenen Gesetzen funktionieren...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Studioproduktionen haben für mich immer den Hauch etwas Künstlichen, etwas Zusammengeflickten, etwas, das einfach nicht "natürlich" ist.

    wenn man das "Zusammengeflickte" hört, ist etwas schiefgegangen mMn. Im Idealfall sollte doch im Studio das entstehen, was der Vorstellung (und zwar auch vom "Flow") der Künstler nahekommt...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • worüber soll eigentlich diskutiert werden?

    genau genommen gibt es ca 4 unterschiedliche Ereignisse, die sich mehr oder weniger deutlich unterscheiden. Das führt immer wieder zum Durcheinander, wenn nicht klar ist welche Vergleiche man anstellen will:

    1. Konzertbesuch
    2. Konzertmitschnitt (klanglich optimiert, aber musikalisch "naturbelassen")
    3. "live-Aufnahme" - die ist nur in Ausnahmefällen wirklich ganz live, in den allermeisten Fällen mit mehr oder weniger Korrekturen, gar nicht selten stammen die Takes sogar hauptsächlich von der Generalprobe und Korrektursessions. Niemand kann und will das kontrollieren.
    4. Produktion - hier gibt es nochmal einen gravierenden Unterschied zwischen
    4a) einer konzertreif geprobten musikalischen Darbietung, die nach der Vorstellung der Interpreten zusammen mit dem Aufnahmeteam "verfeinert" wird,
    und
    4b) Aufnahme = Probe. Weit verbreitet v.a. bei exotischem Repertoire, aber auch bei Zeitdruck. Sinnvolle Zusammenhänge entstehen erst beim Schnitt mehr oder weniger zufällig oder auch nicht.

    Achtung, es wird immer von "Studioproduktion" oder "Studioaufnahme" gesprochen, aber die findet in den seltensten Fällen im Studio statt. Das wäre viel zu teuer und bei Klassik unnötig, u.U. sogar kontraproduktiv (aber das ist wieder ein anderes Thema).

    Also worüber diskutieren wir jetzt?
    1 im Vergleich zu 2, hätte ich im Rahmen der Threadentstehung gedacht.

  • Ich habe den Thread so verstanden, dass es schlicht um den unterschiedlichen Eindruck eines Konzerterlebnisses im Vergleich (und hier egal ob es dasselbe Konzert oder nur der selbe Dirigent ist) zur 'Konserve' wie auch immer diese entstanden ist.

    Wobei es natürlich im Sinne von Gerardus Aufzählung jeweils noch wieder Unterschiede gibt, auf die ich im Moment aber nicht eingehen möchte.

    Ähnlich wie bei einer Opernaufführung empfinde ich das Live-Erlebnis eines Konzertes als etwas ganz anderes als die entsprechende Konserve, die man sozusagen im stillen Kämmerlein in den Player schiebt. Was nicht heißt, dass das Konzert jeweils besser ist, nur nehme ich es ganz anders und in der Regel aufregender und überzeugender wahr. Mir ist allerdings noch nie passiert, dass ich ein Konzert, dass ich als nicht gelungen empfunden habe, später auf CD positiver beurteilt habe. Anders herum schon. Bei Dirigenten ist es anders, was aber, handelt es sich um das selbe Stück, damit zusammenhängen kann, dass auch sie gute und schlechte Tage haben. Ebenso wie ich als Hörer. ^^

    Ich würde aber das Live-Erlebnis immer höher bewerten, egal ob gelungen oder nicht, als die Konserve, weil zunächst einmal in den allermeisten Fällen die Musik genau dafür geschrieben wurde und nicht für eine technische Wiederholbarkeit im bewussten Kämmerlein. Was mir die CD nämlich nicht bietet, ist die Gesamtatmosphäre, meine gespannte Erwartung dessen, was da auf mich zukommt, was jederzeit scheitern oder grandios werden kann, meine möglicherweise Freude, dass ich Karten bekommen habe, mein 'wohliges Empfinden' einen Höhepunkt eines Tages erleben zu können usw. sowie auch die spürbare Erwartung und Anspannung des Publikums. Das heißt es alles noch lange nicht, dass das Ergebnis besser ist als die CD, aber es versetzt mich in eine ganz andere Stimmung. Und solche subjektiven Faktoren beeinflussen natürlich nicht nur mich, sondern v.a. auch den Dirigenten, der ja auch nicht weiß, wohin die Reise gehen wird, ob er das erreichen wird, was er sich vorgenommen hat, wie das Publikum es aufnehmen wird usw. Und das alles als eine Art Drahtseilakt, weil nicht mehr korrigierbar. Im Studio ist das eine ganz andere Chose. Wenn das Horn scheppert, wird's hallt wiederholt. Im Konzert muss er damit leben (und v.a. der Hornist) und muss sehen, dass er das Beste daraus macht.

    In meinem Studium stolperten wir immer wieder über den Begriff 'Sitz im Leben' und das ist eigentlich genau der Punkt. Da, wo etwas hingehört, ist es richtig. Ein Cappuccino schmeckt in Italien einfach besser als in Deutschland, ein Guiness in Irland auch, ein klassisches Musikstück hört sich besser im Konzert an. Natürlich gibt es auch Bars in Italien, wo sie selbst den Cappuccino noch versauen. Ausnahmen gibt es immer. ^^ (Was selbstredend auch für Konzerte gilt.)

    Wenn man aber in solchen Lokalitäten auf jemanden trifft, der einen mit Charme und Witz und vielleicht einlullender Rhetorik verzaubert, dann bekommt er es auch noch hin, das einem die letzte Plörre als wunderbarer Cappuccino begegnet. Damit will ich sagen, dass man auch die Ausstrahlung eines Dirigenten oder Pianisten oder Geigers nicht unterschätzen darf. Im Konzert bekommt man halt das Gesamtpaket von Musik, Dirigenten, Orchester, Publikum, Raum und sich selbst ungeschminkt. Das mag nicht immer besser sein, aber ehrlicher und wahrhaftiger bestimmt. Weil sie eben alle dahin gehören, weil dort ihr 'Sitz im Leben' ist.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Was mir die CD nämlich nicht bietet, ist die Gesamtatmosphäre, meine gespannte Erwartung dessen, was da auf mich zukommt, was jederzeit scheitern oder grandios werden kann, meine möglicherweise Freude, dass ich Karten bekommen habe, mein 'wohliges Empfinden' einen Höhepunkt eines Tages erleben zu können usw. sowie auch die spürbare Erwartung und Anspannung des Publikums. Das heißt es alles noch lange nicht, dass das Ergebnis besser ist als die CD, aber es versetzt mich in eine ganz andere Stimmung.

    Was Du hier als die besondere Stimmung beschreibst, die eben nur das Konzerterlebnis selbst bietet im Unterschied zur "Konserve", das trifft recht genau, warum ich auf Konzertbesuche nicht verzichten mag.

    Bei der Oper ist der Kontrast für mich noch deutlicher als bei Orchester- und Kammermusikkonzerten: In den letzten 6 Monaten war ich ca. 5mal in der Oper, habe aber kein einziges Mal eine komplette Oper zuhause angehört; da lief höchstens mal etwas in Ausschnitten. Auch kaufe ich mir nur noch selten Opernaufnahmen, einige Opern-DVDs habe ich weggegeben, auch durchaus solche, die ich gut finde.

    Bei Orchester- und Kammermusik gibt es halt verdammt viele Sachen, die man kaum oder nie live erleben kann. :(

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
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    Helmut Lachenmann

  • Bei der Oper ist der Kontrast für mich noch deutlicher als bei Orchester- und Kammermusikkonzerten: In den letzten 6 Monaten war ich ca. 5mal in der Oper, habe aber kein einziges Mal eine komplette Oper zuhause angehört; da lief höchstens mal etwas in Ausschnitten. Auch kaufe ich mir nur noch selten Opernaufnahmen, einige Opern-DVDs habe ich weggegeben, auch durchaus solche, die ich gut finde.

    Naturgemäß als Opernfreak höre ich diese relativ häufig, habe aber von Anfang an immer die Live-Aufnahmen bevorzugt, weil die Anspannung, unter der Künstler/Sängern stehen, ganz andere Ergebnisse zeigen, als die relativ ruhige und v.a. sicher Situation des Studios. Auch wenn dann manch hoher Ton in die Hosen geht. ^^

    Bei Orchester- und Kammermusik gibt es halt verdammt viele Sachen, die man kaum oder nie live erleben kann.

    Das ist natürlich noch eine ganz andere Sache. Konzerte bieten wirklich die Möglichkeit, Dinge kennenzulernen, die es nie zu 'CD-Ehren' gebracht haben. Und die es manchmal vielleicht auch nicht verdienen. ;)

    :wink: Wolfram

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  • Danke für die zahlreichen interessanten Antworten!

    Ich hatte die Diskussion im Currentzis-Thread so verstanden, daß es um den zweiten Aspekt geht, nicht um den ersten. Diesen zweiten Aspekt finde ich persönlich interessanter. Aber vermutlich habe ich Dich da mißverstanden?

    Keine Sorge, Du hast mich nicht missverstanden. Auch ich finde den zweiten Aspekt für eine Diskussion viel lohnender. Der erste wurde ja hier tatsächlich schon hier abgehandelt (was aber kein Hindernis sein kann, daran wieder anzuschließen, wenn wir es möchten).
    In meinem Ausgangsposting habe Verschiedenes aufgeschrieben, das mir dazu spontan eingefallen ist, da war nicht alles genau auf das Thema bezogen. :) Ich möchte natürlich keine Vorschriften machen, und wenn sich die Diskussion in eine andere Richtung entwickelt, ist das völlig in Ordnung. Allerdings sollten wir dann der Übersichtlichkeit halber doch an den anderen Thread anschließen.

    Wie erlebe ich ein Konzert, sagen wir, einen Klavierabend, wenn ich dem Pianisten im Konzertsaal zuhöre und zusehe, und was ist anders, wenn der visuelle Aspekt wegfällt? Ich könnte im Konzert z. B. die Augen schließen (was ich nicht selten mache, vor allem, wenn mich der Anblick von Dirigent oder Instrumentalist aus irgendeinem Grund stören, etwa bei Bewegungen, die ich als zu theatralisch empfinde) und hätte dann einen anderen Eindruck.

    Ja, das ist mir auch schon aufgefallen!
    Zwei Beispiele dazu:

    • Im Jänner habe ich zweimal Gergiev vom Orgelbalkon des Wiener Konzerthauses erlebt (Symphonien 2 bis 4 von Tschaikowsky) und bin ihm da frontal gegenüber gesessen, hatte also eine Perspektive, die man live üblicherweise nicht zu sehen bekommt. Ich muss ehrlich sagen, mich hat Gergievs hektische Art irritiert, diese andauernden wirren Flatterbewegungen mit den Händen. Natürlich hätte ich die Augen schließen können, aber das wollte ich ja dann doch nicht (wenn man die Gelegenheit bekommt, um 15 Euro einem Dirigenten frontal zuschauen zu können, will man das natürlich auch nützen...)
    • Im Oktober war ich bei einem Liederabend von Ian Bostridge und habe mich in der ersten Pause zwei Freunden gegenüber entsetzt geäußert, weil einfach Bostridges optische Darbietung in mir großes Unwohlsein ausgelöst hat. Nach dem Tipp "Schau einfach nicht hin!" habe ich dann nach der Pause nur selten hingeschaut (und lieber den Text im Programmheft mitgelesen), was für mich den Gesamteindruck deutlich verbessert hat (auch wenn ich mit Bostridge noch immer nicht 100%ig glücklich geworden bin, aber das ist eine andere Frage).

    Daher würde ich ganz eindeutig sagen, dass der optische Eindruck nicht nur bei Opern eine Rolle spielt - was er eigentlich nicht tun sollte, denke ich. Oder?

    Und Wolfram, Deinen Beiträgen stimme ich zu! Für mich ist das Live-Erlebnis immer etwas "Besonderes", das ist klar.
    Eine kleine Ergänzung: Ich denke auch, dass es einen zumindest geringen Teil des Erlebnisses ausmacht, dass man sich gemeinsam mit einem großteils unbekannten Leuten eine Oper / eine Aufführung anhört. Ich komme dort nicht selten mit Leuten ins Gespräch, darüber freue ich mich fast immer. Dieses "Gemeinschaftserlebnis" ist, denke ich, auch ein gewisser Aspekt, der hier bisher noch nicht genannt wurde.

    Bei Orchester- und Kammermusik gibt es halt verdammt viele Sachen, die man kaum oder nie live erleben kann.

    Ja, das bedaure ich auch (auch auf dem Gebiet der Oper). Aber wie die Programme zusammengestellt werden und was daran gut/schlecht ist, wäre wieder ein eigenes Thema...

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Hallo in die Runde,

    Mein Hauptargument für meine absolute Präferenz eines Live-Erlebnisses gegenüber einer Konserve ist: Bei einer Aufnahme werden nur die Töne aufgezeichnet, nicht die Emotionen.
    Die gibt's in vollem Umfang nur live.

    Und da gewinnt in meiner Wahrnehmung selbst eine durchschnittlich gute Aufführung gegenüber einer sehr guten Aufnahme. Natürlich werden nicht alle Live-Aufführungen der Mannigfaltigkeit einer aufgezeichneten Sternstunde gerecht, aber der Moment der Interaktion zwischen Publikum und Aufführenden ist auch aus Sicht eines ausführenden Laien nicht zu verachten.

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Bei einer Aufnahme werden nur die Töne aufgezeichnet, nicht die Emotionen.
    Die gibt's in vollem Umfang nur live.

    Und da gewinnt in meiner Wahrnehmung selbst eine durchschnittlich gute Aufführung gegenüber einer sehr guten Aufnahme.

    Interessant aus eigener Erfahrung finde ich dann auch Folgendes. Levine dirigierte mal in Berlin das 'Lied von der Erde' mit Norman und Jerusalem. Am Ende, nach gefühlten fünfminütigem Schweigen, dann tosendem Jubel, schwebten wir im Siebten Himmel. Und der Eindruck einer überwältigenden Aufführung blieb. Jahre später hörte ich mir die Aufnahme noch einmal an und merkte, dass gerade im Gesangspart ganz vieles doch nicht stimmte. Ich stehe der Produktion als solches heute also zwiespältig gegenüber. Mein Konzerterlebnis selber berührt das allerdings nicht, das halte ich immer noch sehr in Ehren. Will sagen, dass der unmittelbare Eindruck oftmals objektiv gar nicht richtig ist, wir aber durch diverse, auch außermusikalische Dinge subjektiv so beeinflusst werden, dass wir einem ganz besonderen Erlebnis beizuwohnen vermeinen.

    Frage ist, was wichtiger bzw. richtiger ist, die objektive, sachliche Beurteilung oder das subjektive Glücksempfinden des Momentes? Für mich keine Frage. Der subjektive Moment eben. Der kann fehlgehen, ebenso wie auch der Dirigent an dem Abend fehlgehen kann. Aber beides ist dem Augenblick verpflichtet, nämlich dem Entstehen von etwas Neuem in diesem Augenblick. Das macht es fehlbar, aber auch spannend und dem Leben vergleichbar.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Eine kleine Ergänzung: Ich denke auch, dass es einen zumindest geringen Teil des Erlebnisses ausmacht, dass man sich gemeinsam mit einem großteils unbekannten Leuten eine Oper / eine Aufführung anhört. Ich komme dort nicht selten mit Leuten ins Gespräch, darüber freue ich mich fast immer.

    Wobei ich den Aspekt gar nicht einmal meinte, obwohl er auch sehr wichtig und oftmals sehr bereichernd ist. Ich dachte dagegen eher an diese fiebrige Spannung und Erwartung, gerade bei ganz besonders herausragenden Künstlern, die man überall im Auditorium dann spüren kann.

    Ich denke da zum Beispiel an das erste Horowitz-Konzert, als ich, der Bus hatte Verspätung ;( , völlig atemlos, abgehetzt, von Ängsten gepeinigt, ich könnte zu spät kommen, zwei Minuten vor Beginn in meinen Sitz fiel und dachte, dass ich nun noch einmal inmitten eines andächtigen Publikums durchatmen und zur Ruhe kommen könnte. Pustekuchen! Alle anderen um mich herum, fieberten, obwohl längst schon anwesend, genauso und strömten diese fast schmerzhaft zu spürende Spannung aus, die sich dann auch im entsprechenden Auftrittsbeifall entlud. ^^

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Mein Hauptargument für meine absolute Präferenz eines Live-Erlebnisses gegenüber einer Konserve ist: Bei einer Aufnahme werden nur die Töne aufgezeichnet, nicht die Emotionen.
    Die gibt's in vollem Umfang nur live.

    Das hat Benno so dermaßen gut auf den Punkt gebracht, dass ich dem nichts mehr hinzuzufügen habe. Es geht nichts über das Live-Erlebnis. Keine Tonkonserve, kein YouTube-Mitschnitt kann das ersetzen, was im Live-Erlebnis von allen Seiten auf Dich einströmt.

    Mein letztes Live-Erlebnis war Bachs Johannes-Passion mit Mark Padmore als Evangelist sowie Sir Simon Rattle und dem Orchestra of The Age of Enlightenment plus - das war der Hammer schlechthin - The Choir of The Age of Enlightenment in der Elbphilharmonie.

    Ich bin hartgesotten, was fulminante Klassik-Live-Erlebnisse angeht, da ich seit meinem neunten Lebensjahr (sprich: 1969) gewohnt bin, die besten Dirigenten und Solisten und Orchester der Welt regelmäßig live zu erleben. Deswegen bin ich extrem kritisch geworden. Aber ich weiß auch mehr als alle anderen zu würdigen, wenn etwas wirklich state-of-the-art ist. Und das war dieser Abend.

    In der Pause hatte ich das Glück, Peter Sellars über den Weg zu laufen, und da seine Inszenierung über die Maßen gut war, fand ich einen Weg, ihm gegenüber genau das auszudrücken, ohne dass er mich ob meiner Begeisterung für durchgeknallt hielt. Er war einfach nur im Gespräch sehr nett zu mir.

    Soll ich mir jetzt irgendein Video ansehen und versuchen, dabei auch nur annähernd das zu empfinden, was ich live in der Elbphilharmonie empfand? Nein, nichts schlägt das Live-Erlebnis.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

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