Ein schwuler Opernführer: Casta Diva

  • Hier ist wohl nicht der Platz für ein Sexualitätsseminar, aber queer heißt nicht "schwul", sondern kann alles mögliche sein, das nicht dem propagierten Ideal des menschlichen Sexuallebens entspricht. Und ob dieses seinerseits der menschlichen Natur entspricht, oder eine kulturelle Ausformung darstellt, lasse ich mal dahingestellt.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Barry Kosky sagt sinngemäß in dem Vorwort, von dem jetzt Auszüge auf der Website veröffentlicht wurden, dass die Oper per se queer sei, sich aber freilich nicht ausschließlich an Schwule oder Lesben richte, sondern an alle, die ein Faible für die „wunderbare Welt der Anomalien“ haben.

    Das mag auf die Inszenierungen von Kosky zutreffen, aber doch nicht auf eine mitteleuropäische Durchschnittsinszenierung oder gar das Genre Oper an sich.

    Ich finde, hier gehen die Kategorien etwas durcheinander: Queerness ist etwas, das aus der subversiven Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Geschlechtszuordnung entsteht. Die überwältigende Mehrheit des Repertoires und auch der Regiearbeiten tut das überhaupt nicht. Und das ist auch meistens gut so. Oper kann gar nicht queer sein; Regietheater kann eine queere Haltung einnehmen. Aber das ist inhaltlich randständig, selbst wenn die Oper, wie in dem kurzweiligen Artikel vom Januar unterstellt wurde, von militanten Schwulen unterwandert sein sollte. Denn diese sind in der Regel nicht Queers, sondern herzensfrohe Tafelsilberkonservative, die glauben, dass sie den People of Color-Drag Queens, die dereinst wirklich queeres Kasalla auf der Christopher Street veranstaltet haben, nichts schulden.

    ...auf Pfaden, die kein Sünder findet...

  • Ist das denn wirklich so? Mir ist das so noch nie aufgefallen und ich gehe auch seit Jahren wirklich oft in die Oper. Meistens sehe ich den Mitmenschen auch so gar nicht an, ob sie (a) alleinstehend sind und (b) auf welches Geschlecht sie abfahren. Vielleicht besteht hier Forschungsbedarf, um diese These irgendwie wissenschaftlich dingfest zu machen? 8o

    Ansonsten sehe ich das eher so wie Kater Murr in Beitrag #8.

    Naja, ich kann das natürlich nicht wissenschaftlich belegen (so etwas untersuchen zu wollen, wäre ja auch völlig sinnlos), und natürlich sieht man Leuten nicht an, auf welches Geschlecht sie stehen, aber meiner Erfahrung nach ist es halt so; ich meine das jedenfalls ganz wertfrei. 3 meiner 4 "engsten" Opernfreunde sind homosexuell, und die wissen es von sehr zahlreichen anderen mir bekannten Stehplatzbesuchern, eben weil sie einander in sehr speziellen Lokalen (in die man sich nicht zufällig hinverirrt) gesehen haben, einander auf Gay-Datingapps begegnet sind oder weil sie irgendwann mit festen Freunden gekommen sind.

    Eine ganz besonders skurille Situation hatte ich übrigens letzte Woche, als mir ein Opernbesucher, den ich nur flüchtig kenne, der aber meine Mail-Adresse hat, sich mir gegenüber per Mail (!!!) als schwul geoutet hat (und gleichzeitig eine Reihe an wirklich dummer homophober Argumente produziert hat).

    Ich kann es natürlich nicht beweisen, trotzdem bleibe ich bei dem, was ich geschrieben habe. Aber selbst wenn Homosexualität in der Oper nicht verbreiteter als sonst wäre, spräche aus meiner Sicht nichts gegen das Buch, sofern es gut geschrieben ist. Wenn das Thema überstrapaziert wird, wird es zwar auch mühsam, aber das ist ja derzeit nicht der Fall.

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Ja, es gibt einen bestimmten Typus von klassikaffinen Schwulen, und von denen sind auch meiner Erfahrung nach überdurchschnittlich viele eher beim Musiktheater als beim Konzert zu Hause. Und wir alle kennen sicherlich vom Sehen den Typus "Operntunte", der ja auch aus dem Video, das soprano verlinkt hat, in dreifacher Ausführung zu uns spricht. Aber das sind nicht die Schwulen. Sondern es sind die Schwulen, die gerne in die Oper gehen.


    Schon klar. Niemand hat behauptet, dass "die Schwulen" alle in die Oper gehen ... Ich glaube auch nicht, dass die These von irgendjemandem in dem Buch vertreten wird.

    Aber wenn wir schon bei Klischeebildung sind: Ich muss mich als Schwuler regelmäßig dafür rechtfertigen, dass mir der Eurovision Song Contest völlig schnuppe ist ... Schwule, die nicht in die Oper gehen, müssen das nicht.

    Das mag auf die Inszenierungen von Kosky zutreffen, aber doch nicht auf eine mitteleuropäische Durchschnittsinszenierung oder gar das Genre Oper an sich.

    Oh, da gibt es außer Kosky noch zahlreiche andere Beispiele (Harry Kupfer hat sich vor zwanzig Jahren schon mit Homosexualität bei Tristan und Isolde auseinandergesetzt). Diese sind auch nicht nur in den großen Häusern zu sehen sind, sondern auch bei Operavision oder 3Sat oder Arte.
    Es geht bei der Frage nach Queerness in der Oper jedoch nicht nur um die Art der Inszenierung, sondern sehr wohl auch um das Genre und die Werke an sich. Das sollte man nicht unterschätzen.

  • Trotzdem könnte das Büchlein, so es denn entstehen sollte (wenn ich es richtig sehe, handelt es sich noch um ein Fundraising-Projekt), unterhaltsam sein.

    Ein Missverständnis. Das Erscheinen des Buches hängt nicht vom Erfolg des Crowdfundings ab, sondern nur die Qualität des Papiers und der Fotos. Es wird nach Angaben des Verlags auf jeden Fall erscheinen. Kann man alles hier nachlesen:

    https://www.startnext.com/casta-diva?fbc…oogcyz-G3VbYtdE

    Es handelt sich auch nicht um ein "Büchlein", sondern mit über 30 Autor*innen und über 500 Seiten im Großformat auch eher um ein Buch ^^

  • Meine Lieben!

    Alles was Recht ist, Ich gehe ja schon seit Jahrzehnten in die Oper, zuerst war ich ja als Aktiver dort und habe festgestellt das sich bestimmt alle Menschen welcher sexuellen Art sie angehören, sich dort wohl fühlen. Sie sind Freunde der Oper und das Andere ist doch zweitrangig.
    Doch habe ich schon in meiner Jugend - lang ist's her - sich Menschen dort befinden denen es da gefällt, die Musik gerne haben und kein "Anbahnungsinstitut" suchen und man mit denen gerne über das Thema Oper sprechen konnte.

    Die Orientierung der Menschen oder der Personen auf der Bühne oder im Publikum war mir immer vom Herzen egal und ich toleriere und akzeptiere sie. Also finde ich den Diskurs mehr als flüssig - ich finde ihn überflüssig.

    Liebe Grüße von Eurem Streiferl. :wink: :wink:

  • Aber es reicht nicht, um zu sagen, dass "der Schwule" eine besondere Beziehung zur Oper habe.

    Dafür bräuchte es wohl genaue Zahlen, um zu sehen wie hoch der prozentuale Anteil Schwuler beim Besuch einer Opernaufführung bzw. beim Kauf von Opern-CD's etc. im Vergleich zu heterosexuellen Männer ist. Da wir darüber nicht verfügen, bleibt alles Spekulation oder wird auf persönliche Erfahrung zurückgeführt.

    Trotzdem könnte das Büchlein, so es denn entstehen sollte (wenn ich es richtig sehe, handelt es sich noch um ein Fundraising-Projekt), unterhaltsam sein. Aber ich fürchte: eher nicht aufklärerisch. Weil es da nichts aufzuklären gibt: Es gibt nichts spezifisch schwules an der Oper.

    Trotzdem kann es interessant sein, einen schwulen Blick auf ein bestimmtes Werk zu erlangen, genauso wie es ja auch feministische Betrachtungen bestimmter Dinge gibt. Einerseits sehe ich die Gefahr, dass mal wieder Klischees (ungewollt) bedient werden (Stichwort 'Operntunte'), andererseits kann es die Rezeption z.B. auch von heterosexuelle Männer (so sie es denn lesen werden ^^ ) erweitern (so sie denn bereit für so etwas sind :D ). Jedenfalls wird es neue Einblicke geben. Von daher :thumbup: für dieses Projekt.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Oh, da gibt es außer Kosky noch zahlreiche andere Beispiele (Harry Kupfer hat sich vor zwanzig Jahren schon mit Homosexualität bei Tristan und Isolde auseinandergesetzt). Diese sind auch nicht nur in den großen Häusern zu sehen sind, sondern auch bei Operavision oder 3Sat oder Arte.
    Es geht bei der Frage nach Queerness in der Oper jedoch nicht nur um die Art der Inszenierung, sondern sehr wohl auch um das Genre und die Werke an sich. Das sollte man nicht unterschätzen.


    Nochmal: Es geht mir um die Behauptung, Oper sei "queer" - diese finde ich unangemessen: nur, weil jemand aus einer "schwulen" Perspektive auf die Oper schaut, ist dieser nicht "queer". Das ist ja, als wenn man behauptete, Gloria von Thurn und Taxis würde als Frau zwangsläufig eine feministische Perspektive auf die von ihr diskutierten Themen darbieten. "Queer" ist nicht "schwul". Queer ist explizit dissident, "non-binary" usw.

    Im Übrigen würde mich sehr interessieren, was denn nun ausgerechnet an Tristan und Isolde mit "schwulen" Aspekten hinterlegt sein soll.
    Beim Tannhäuser, okay... mit ambitioniertem Regietheater... Aber Tristan? :neenee1:

    Aber wenn wir schon bei Klischeebildung sind: Ich muss mich als Schwuler regelmäßig dafür rechtfertigen, dass mir der Eurovision Song Contest völlig schnuppe ist ... Schwule, die nicht in die Oper gehen, müssen das nicht.

    Das ist mir noch nie passiert... :megalol:

    Ein Missverständnis. Das Erscheinen des Buches hängt nicht vom Erfolg des Crowdfundings ab, sondern nur die Qualität des Papiers und der Fotos. Es wird nach Angaben des Verlags auf jeden Fall erscheinen.

    Danke für die Sachaufklärung!

    Ich gönne es dem Projekt übrigens auch sehr, dass es zustande kommt. Und zwar so opulent, wie dem Thema angemessen... :versteck1:

    Die Orientierung der Menschen oder der Personen auf der Bühne oder im Publikum war mir immer vom Herzen egal und ich toleriere und akzeptiere sie. Also finde ich den Diskurs mehr als flüssig - ich finde ihn überflüssig.

    Naja, klar ist es nicht existenziell notwendig das zu diskutieren. Und ich gehöre ja auch zu denen, die die These des Buches (oder zumindest des Trailers dazu), es gebe etwas explizit "Schwules" an der Oper, nicht teilen.

    Aber diskutieren kann man das schon sinnvoll. Und die Diskussion kann auch interessante Argumente, vielleicht sogar Ergebnisse hervorbringen. Genauso wie ja hier an anderer Stelle diskutiert wurde, wie die Klassikkultur mit drohender Vergreisung umgeht, oder ob nun eher arme oder wohlhabende Senioren in Klassikveranstaltungen gehen (wollen). Es wäre auch interessant, Art, Charakter, Voraussetzungen und Umfeld der Klassikrezeption mal in Bezug auf Menschen mit nicht-europäischem Migrationshintergrund (und ich meine da jetzt nicht SüdkoreanerInnen) zu diskutieren. Oder, oder, oder. Es geht dabei nicht darum, ob alle Menschen gleich sind, sondern darum, ob spezielle Gruppen spezielle Voraussetzungen und Zugänge haben.

    ...auf Pfaden, die kein Sünder findet...

  • Im Übrigen würde mich sehr interessieren, was denn nun ausgerechnet an Tristan und Isolde mit "schwulen" Aspekten hinterlegt sein soll.
    Beim Tannhäuser, okay... mit ambitioniertem Regietheater... Aber Tristan? :neenee1:

    Für mich ist eigentlich ziemlich einleuchtend, dass Wolfram und vor allem Kurwenal schwul sind. Oder?

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Die Orientierung der Menschen oder der Personen auf der Bühne oder im Publikum war mir immer vom Herzen egal und ich toleriere und akzeptiere sie. Also finde ich den Diskurs mehr als flüssig - ich finde ihn überflüssig.

    Ich gebe Dir vollkommen recht. Die Diskussion darüber, welchen Prozentsatz das schwule Publikum einnimmt, ist komplett irrelevant. Genauso wenig von Belang ist der Einwand, dass Oper nicht queer sein könne.

    Anders die Frage, was der queere Blick auf die Oper leisten kann - da kann ich Wolfram und Sadko nur beipflichten.


    Im Übrigen würde mich sehr interessieren, was denn nun ausgerechnet an Tristan und Isolde mit "schwulen" Aspekten hinterlegt sein soll.

    Ich weiß nicht, ob dich das wirklich interessiert - die ironischen Anmerkungen sprechen dagegen - oder ob du nur einen Beleg suchst, um deine Skepsis zu untermauern?

  • Barry Kosky sagt sinngemäß in dem Vorwort, von dem jetzt Auszüge auf der Website veröffentlicht wurden, dass die Oper per se queer sei, sich aber freilich nicht ausschließlich an Schwule oder Lesben richte, sondern an alle, die ein Faible für die „wunderbare Welt der Anomalien“ haben. Insofern steckt da ein aufklärerischer wie auch unterhaltsamer Anspruch dahinter.

    Genauso wenig von Belang ist der Einwand, dass Oper nicht queer sein könne.


    Ja, was denn nun? Entweder wir diskutieren das oder halt nicht. Aber es ist m.E. nicht hilfreich zunächst eine These zu zitieren und, wenn jemand widerspricht, zu schreiben, der Einwand sei nicht von Belang.

    Ich weiß nicht, ob dich das wirklich interessiert - die ironischen Anmerkungen sprechen dagegen - oder ob du nur einen Beleg suchst, um deine Skepsis zu untermauern?

    Meine Anmerkungen sind nicht ironisch gemeint. Ich interessiere mich, so wie hudebux, wirklich dafür und freue mich sehr darauf, entsprechende Argumente kennenzulernen, um inspiriert zu werden und dann entweder zuzustimmen oder zu widersprechen.

    Für mich ist eigentlich ziemlich einleuchtend, dass Wolfram und vor allem Kurwenal schwul sind. Oder?


    Das Kurwenal und Wolfram "schwul" sein sollen (ohne dass es dieses Konzept zur Entstehugszeit der Werke bereits gegeben hätte), hätte ich gerne noch etwas besser belegt. Das würde die Diskussion vereinfachen. Wo siehst du das, Sadko? Im Libretto? Im Subtext? In welchen Inszenierungen?

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  • ch weiß nicht, ob dich das wirklich interessiert - die ironischen Anmerkungen sprechen dagegen - oder ob du nur einen Beleg suchst, um deine Skepsis zu untermauern?

    mich würde zwar die These als solche nicht interessieren, aber schon, wie man auf sowas kommt bzw. das begründet.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Das Kurwenal und Wolfram "schwul" sein sollen (ohne dass es dieses Konzept zur Entstehugszeit der Werke bereits gegeben hätte), hätte ich gerne noch etwas besser belegt.

    Logisch, dass es zu Wagners Zeiten den schwulen Lebensstil oder den Begriff queerness nicht gab. Aber man wird doch nicht ernsthaft bestreiten wollen, dass es mann-männliches Begehren schon immer gegeben hat?

    Eine lange Zeit über war gleichgeschlechtliche Begehren mit einem solchen Tabu belegt, dass ein Bekenntnis dazu die komplette Vernichtung der individuellen Existenz bedeutet hätte.Um noch ein vergleichsweise harmloses Beispiel zu nennen: Oscar Wilde wurde wegen "Unzucht" mit anderen Männern verhaftet, das hat ihn gebrochen - nichts destotrotz finden sich Andeutungen seiner Sexualität in seinen Texten, die ja auch als Vorlagen der Libretti einiger bekannter Opern dienten. Es ist doch keine Frage, dass sich unterschwellig homoerotisches Begehren in verschlüsselter Form seinen Weg gesucht hat (da es ja nicht mal angemessene Begriffe dafür gab), vor allem in der Kunst - und warum sollte nicht gerade Oper dafür eine besonders geeignete Gattung dafür gewesen sein? Geht es da nicht vor allem um Begehren und um all das, was zur Erfüllung desselben im Wege steht?

    Ähnlich wie mit dem Schwulsein verhält es sich mit der queerness. Wenn diese Begriffe aus heutiger Sicht im Zusammenhang mit der Geschichte der Oper benutzt werden, dann doch nur deswegen, um nicht alles immer und immer wieder erklären und rechtfertigen oder beckmesserisch gegeneinander abgrenzen zu müssen. Man muss Regisseuren wie Kosky, Herheim oder Kupfer (oder den Herausgebern des Buches) schon unterstellen, komplett bescheuert zu sein, wenn man annimmt, dass sie die Unterschiede in dieser Diskussion nicht kennen.

    Im übrigen habe ich persönlich Probleme damit, im Zusammenhang mit Homosexualität oder Schwulsein von einem "Konzept" zu sprechen ... gerade so, als ginge es da um eine willkürliche Idee, sein Leben zu gestalten. Da sehe ich ein grundlegendes Missverständnis.

  • Hm, ich denke, man muss hier zwischen homoerotischem oder homosexuellem Begehren, das heutige Regisseure in ein Werk hineinlesen (können) - aus Sicht der Performance grundsätzlich berechtigt, auch wenn es vom Urheber nicht bewusst so beabsichtigt war - und tatsächlich bewusst gestaltetem homoerotischem oder homosexuellem Begehren in Opern unterscheiden. Und meine These wäre, dass es von letzterem tatsächlich nicht allzu viel gibt. Der "gay subtext" existiert wohl in der Mehrzahl der Fälle nur in der Phantasie der Interpreten, zwischen den Zeilen findet man in der Regel nur den Zeilendurchschuss und Männerfreundschaften in Literatur und Kunst vor 1900 sind im Normalfall einfach nur heterosexuelle Männerfreundschaften. Warum? Weil es das Konzept der Homosexualität gar nicht gab und Künstler nicht darstellen konnten, was als Konzept nicht existierte.

    Ich möchte meine These an ein paar Beispielen einleuchtend machen: Ein Männerpaar, bei dem heutzutage gern homoerotische Anziehung vermutet wird, ist Onegin und Lenski. Hier wird aber mit der heutigen Brille auf diese Beziehung geblickt, als Mann eine enge und emotionale Freundschaft zu einem anderen Mann zu pflegen, gilt heutzutage als irgendwie diffus schwul, was aber lediglich eine moderne amerikano-kulturelle Prägung ist, die nur "lone cowboys" als "richtige Männer" zählen mag. Dazu kommt, dass der Komponist homosexuell war: Was liegt also dem modernen Betrachter näher, als in der Darstellung von Onegin und Lenski eine Identifikation des Komponisten mit einer der beiden Personen zu sehen? Wie gesagt, aus heutiger Sicht. Wir wissen nämlich im Fall des Eugen Onegin sehr gut und sehr genau, dass sich Tschaikowski als schwuler Mann nicht etwa mit Onegin oder Lenski, sondern vielmehr mit Tatjana identifizierte. Die Identifikationsfigur des Homosexuellen im 19. Jh. ist zumindest in diesem konkreten Fall die Frau, das ist der wahre Subtext dieser Oper. Und Onegin und Lenski sind vom Komponisten sehr wohl als heterosexuelles Freundespaar gedacht, und Lenski als "Rivale" Tatjanas, dem aufgrund seines sexuellen Desinteresses an Onegin jene Nähe und Intimität möglich ist, die Tatjana aus gesellschaftlichen Gründen verwehrt bleiben muss. (Drum ist es zweifellos eine gewisse Genugtuung für Tatjana/Tschaikowski, dass Onegin Lenski schließlich tötet.) Also ja, das unterschwellig homoerotische Begehren sucht sich in verschlüsselter Form seinen Weg, aber nicht zwangsläufig den Weg, den wir heute erwarten würden, sondern vielmehr in der queeren Kodierung von Mann-Frau-Beziehungen. Ich bin überzeugt, dass sich noch zahlreiche ähnlich gelagerte Fälle finden ließen, wenn man danach suchte.

    Aber es gibt in der Oper auch den umgekehrten Fall: In Janáčeks "Z mrtvého domu" pflegen Gorjančikov und Aljeja eine sehr vertraute Beziehung, die tatsächlich vergleichsweise deutliche homoerotische Züge trägt. Auch hier liegt, wie wir aus Briefen wissen, eine Identifikation des Komponisten vor, nämlich seiner selbst mit Gorjančikov und seiner Geliebten Kamila Stösslová mit Aljeja. Deshalb ist die Rolle des Aljeja auch einem Sopran anvertraut. Die an der Oberfläche homoerotisch dargestellte Beziehung hat also in Wahrheit einen "straight subtext".

    Ich glaube schon, dass es Queerness in der Oper gibt und dass es lohnenswert ist, darüber zu diskutieren. Aber diese Queerness ist meiner Meinung nach sehr eng mit dem in der Oper häufigen Spiel mit Geschlechteridentitäten und mit der Möglichkeit der cross-gender-Identifikation verknüpft. Zwei heterosexuelle Cis-Männer, die gut befreundet sind, sind in der Oper des 19. Jh. meistens einfach nur zwei heterosexuelle Cis-Männer, die gut befreundet sind. Die für die Fragestellung dieses Threads interessanten Beziehungen spielen sich - oft in den selben Werken - anderswo ab.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Weil es das Konzept der Homosexualität gar nicht gab und Künstler nicht darstellen konnten, was als Konzept nicht existierte

    Hm, ich denke, man muss hier zwischen homoerotischem oder homosexuellem Begehren, das heutige Regisseure in ein Werk hineinlesen (können) - aus Sicht der Performance grundsätzlich berechtigt, auch wenn es vom Urheber nicht bewusst so beabsichtigt war - und tatsächlich bewusst gestaltetem homoerotischem oder homosexuellem Begehren in Opern unterscheiden.

    Was ist denn der Unterschied? Inwiefern ist mein Begehren ein Konzept, das früher nicht existierte?

  • Was ist denn der Unterschied? Inwiefern ist mein Begehren ein Konzept, das früher nicht existierte?

    Bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. ist es einfach nicht üblich, Menschen in hetero- und homosexuell einzuteilen. Es fehlt das Konzept einer sexuellen Orientierung, auch wenn es das Begehren natürlich gegeben hat. Aber wovon es kein Konzept gibt, darüber kann man nicht sprechen, man kann nur das diffuse Gefühl haben, dass mit einem selbst irgendetwas nicht stimmt. (Folgendes ist jetzt zugegebenermaßen ein unglücklicher Vergleich, aber man beachte z.B. die Missbrauchsfälle der 1960er bis 1980er Jahre, die jetzt erst ans Tageslicht kommen: Da konnten die Opfer auch so lange nicht darüber sprechen, weil es bisher kein gesellschaftlich anerkanntes Konzept von Kindesmissbrauch gab.) Eine häufige Vorstellung ist etwa, dass gleichgeschlechtliches Begehren eine vorübergehende moralische Verirrung sei, die aber grundsätzlich jeden und jede treffen könne und gegen die man eben ankämpfen müsse, um auf den richtigen Weg zurückzugelangen. Manchmal gibt es auch die Vorstellung - das geht schon Richtung Pansexualität -, dass es eben manchmal passieren könne, sich auch in eine konkrete Person des gleichen Geschlechts zu verlieben. Aber es gibt eben kein Konzept "Homosexualität" und auch kein Konzept (Klisschee/Stereotyp) "Homosexueller", und das macht die Darstellung auf der Bühne schwierig.

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Es fehlt das Konzept einer sexuellen Orientierung, auch wenn es das Begehren natürlich gegeben hat.

    Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es das Konzept eines schwulen Rollenvorbilds früher nicht gegeben hat. Ich würde das allerdings unbedingt davon abgrenzen wollen, gleichgeschlechtliches Begehren an sich als ein Konzept zu bezeichnen

  • Fragt sich, ob nicht überhaupt der Mensch "queer" wäre, würden nicht zahllose gesellschaftliche Normen auf ihm lasten.


    Interessante Frage. Wenn es keine Norm gäbe, wie könnte man dann "queer" sein?

    Abgesehen davon: ist das nicht eine irreale Frage, da es ohne gewisse Normen keine Gesellschaft geben kann?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es das Konzept eines schwulen Rollenvorbilds früher nicht gegeben hat. Ich würde das allerdings unbedingt davon abgrenzen wollen, gleichgeschlechtliches Begehren an sich als ein Konzept zu bezeichnen

    „Homosexualität“ als Begriff, der als Identitätskonzept mit Individuen verbunden wird, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Dem entgegen steht die heute weitestgehend überwundene Vorstellung, dass es sich beim gleichgeschlechtlichen Begehren um eine reine Lasterhaftigkeit handeln könnte.

    Bevor es hier zu sehr OT wird: In Michel Foucaults „L‘Histoire de la Sexualité“ wird dazu sehr fundiert argumentiert. Kernslogan (aus der Erinnerung): „Der Sodomiter (als gleichgeschlechtlich Begehrender der Vormoderne) war bloß ein Gestrauchelter, der Homosexuelle (als „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts) hingegen ist eine Spezies“.

    Insofern ist nicht dein Begehren ein Konzept, das früher nicht existierte. Gleichgeschlechtliches Begehren ist überhistorisch und ubiquitär. Aber auf die Idee zu kommen, dass das etwas mit der Identität des begehrenden Individuums zu tun haben könnte, ist eben „ein Konzept“.

    ...auf Pfaden, die kein Sünder findet...

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