THOMAS Ambroise: MIGNON - Konvention oder feinsinnige Eleganz?
Überspitzt gesagt: Wer Goethe kennt, kennt auch "Mignon" (was man halt so "kennen" nennt). Für manche unter uns ist es sogar die einzige Oper, die sie mit dem Komponisten in Verbindung bringen, denn sein "Hamlet" ist weit weniger bekannt und andere Werke sogar ziemlich vergessen. Aber Ausschnitte aus "Mignon" hört man doch recht oft, die ganze Oper hingegen viel weniger. Uraufgeführt 1866 in Paris war sie aber lange Zeit ein durchschlagender Erfolg. Heute fallen die Urteile zwiespältig aus, weshalb ich in den Titel des Threads eine entsprechende Frage eingebaut habe, die sehr stark verkürzt Äußerungen von einerseits Ulrich Schreibers "Opernführer für Fortgeschrittene" widerspiegelt, andererseits solche aus der 11.Auflage des Kloiberschen "Handbuchs der Oper". Irgendwie ist ja auch bezeichnend, daß in all den bisherigen Capriccio-Jahren bisher niemand dem Opus einen eigenen Thread im Foren-Opernsektor widmete. Dazu berufen bin ich eigentlich auch nicht, möchte aber andere Capricciosi auf diese Weise ermuntern.
Ich selbst kannte nämlich diese Oper bisher auch nur recht rudimentär und wollte diese Lücke ein wenig schließen, als sich die zufällige Gelegenheit bot. Die bestand allerdings nicht in der Einspielung, die offenbar ein wenig als Referenz gehandelt wird, nämlich mit Marilyn Horne, Alain Vanzo und (soweit ich glaube, mich zu erinnern) Hornes damaligem Ehemann Nicola Zaccaria, sondern in einer älteren Live-Aufführung, die bisher viel weniger rezipiert wurde:
Walhall 2009
Metropolitan Opera New York, Jänner 1945
Das respektable Alter der Aufnahme läßt natürlich keine Supertonqualität zu, aber mit ein paar Abstrichen ist die eigentlich ganz gut. Nur kommt es mir vor, daß man bei der Aufbereitung zwar die Störgeräusche ordentlich unterdrückt hat, dafür aber stellenweise gewisse Tonhärten in Kauf genommen hat. Darunter leiden die Frauenstimmen erfahrungsgemäß mehr als die tiefer angesiedelten Herrn. Ob das wirklich so zutrifft, müßten aber Berufenere entscheiden.
Der eher harschen Kritik Schreibers, der offenbar weder den Komponisten noch das Werk besonders goutiert, kann ich mich nicht anschließen, wiewohl ich einige seiner Argumente als fundiert anerkenne. Doch auch dem fast hymnischen Lob bei Kloiber-Konold-Maschka kann ich nicht ganz folgen. Mangels derzeitiger Vergleichsmöglichkeiten und als "Mignon"-Greenhorn kann ich aber meine Eindrücke noch in kein halbwegs endgültiges Urteil formen. An und für sich spricht mich die manchmal fast operettenhatfe tMusik durchaus an. Freilich scheinen mir die musikalischen Einfälle Thomas' des öfteren mit sehr leichter Hand verarbeitet, sodaß ich beim Ersthören zwischen begeisterten Momenten und solchen, die mir eher so vorkamen, als würde sich Thomas etwas zu billig verkaufen, wechselte. Sicher hat die Oper jedoch verdient, öfter auf den Bühnen der Welt gespielt zu werden als jetzt. Übrigens gibt es mehrere authentische Fassungen, da Thomas bereitwillig auf regionale oder Publikumsbedürfnisse einging und sein Werk entsprechend adaptierte. So existieren nicht weniger als vier Fassungen des Finales (eine davon sogar tragisch). In New York wählte man den üblichen Schluß, bei dem sich die Liebenden kriegen und alles in Wohlgefallen endet.
Die Besetzung von 1945 ist hoch- bis höchstkarätig.: Ezio Pinzas Lothario setzt wahrlich Maßstäbe, James Melton offeriert als Wilhelm Meister berückende Stimmqualitäten, Rise Stevens singt die Titelrolle (und feierte in dieser seinerzeit etliche Triumphe) und das sehr gut (wie oben angedeutet, dürfte aber die tontechnische Bearbeitung sich bei ihr nicht ganz optimal ausgewirkt haben), und Mimi Benzell kann für die teilweise sehr anspruchsvolle Partie der Philine ebenfalls als Idealbesetzung gelten (jammerschade, daß diese Sängerin die Opernbühne so bald in Richtung Fernsehen und Show verließ, leider ist sie auch früh verstorben). Sie bewältigt die halsbrecherischen Anforderungen in ihrer großen Arie ebenso gut wie sie mit ihrem betont soubrettigem Timbre den Charakter der Philine beeindruckend trifft. Die Künstler der kleineren Partien fallen keineswegs ab, etwa Lucielle Browning als Frédéric, Donald Dame als Laerte oder John Gurney als Jarno.
Wilfred Pelletier leitet das Orchester einfühlsam und spritzig.