"zu einfache" Musik?

  • "zu einfache" Musik?

    Es ist schon richtig, dass sich der Geschmack mit der Zeit ändert - diese Erfahrung mache ich ja auch oft. Daher höre ich natürlich auch regelmäßig Musik, die nicht zu meinen Kerninteressen zählt, sonst würde ich ja immer in der Entwicklung stehenbleiben, das würde ich nicht wollen.


    Aber Musik, die im wesentlichen aus Dreiklangszerlegungen besteht, interessiert mich nicht, sie gibt mir einfach nichts. Die Oper ist mE im Vergleich zu anderen Gattungen ein einfach gestricktes Genre; um eine durchschnittliche Oper zu verstehen, braucht es nicht viel, da finde ich die eben von Dir genannren Komponisten (außer Wagner) anspruchsvoller. Generell liebe ich es, wenn ich mich in ein Werk vertiefen kann und beim oftmaligen Hören immer neue Aspekte höre und meine Liebe zum Werk steigt. An Werken, die sich spätestens nach dem 5. Hören schon abnützen (wie Verdi), habe ich kein Interesse. Verlorene Lebenszeit.

    Handelt es sich hier um unterschiedliche Bedürfnisse - Genügsamkeit mit "einfacher Musik" und Bedürfnis nach Reizüberflutung durch "komplizierte Musik"?
    Welche Konzepte von "Verständnis" und "Anspruch" kollidieren hier?
    Wie gehen wir mit Abnutzungserscheinungen um?

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Als Kontrapunkt noch ein Lob der einfachen Musik, noch dazu in Kombination mit Bedauern über eine mangelhafte Ausbildung, aus Johann Gottfried Seumes Autobiographie:

    Zitat

    Außer etwas Chorgesang in den öffentlichen Stunden hatte man mich weiter keine Musik treiben lassen, und ich sah daraus, daß man es mit mir nicht auf die Schulmeisterei anlegte. Ohne eben damit unzufrieden zu sein, bedauerte ich doch im stillen, daß ich eine so ganz unmusikalische Seele bleiben sollte; zumal da ich glaubte und noch glaube, daß in meinem Geiste sehr viel sehr schöne eigentümliche Musik zu wecken gewesen wäre. Ich selbst konnte den zweckmäßigen Unterricht nicht erschwingen. Ich gerate bei lebendigen, tief gegriffenen und tief eindringenden, einfach großen Stellen in die größte Rührung, wie das bei Mozart und Haydn und Händel und Bach und einigen andern oft der Fall ist; und eine lange, bloß künstliche Tonverstrickung läßt mich unbeschäftigt und leer.


    Er hat auch kein Problem mit der Abnutzung:

    Zitat

    Das erste Theaterstück, das ich sah, war Ariadne auf Naxos, von Benda, die damals neu war. Der bekannte mythologische Text rührte mich wenig; aber desto mehr die allgewaltige Magie der Musik, verbunden mit der schönen Darstellung und der mir ganz neuen zauberähnlichen Maschinerie. Das Letzte verschwand bald; aber die Wirkung der Musik blieb und ist geblieben, und noch jetzt kenne ich in der ganzen Peripherie meiner musikalischen Literatur nichts Lieblicheres als Bendas Morgenröte und nichts Malerischeres als seinen Sonnenaufgang in diesem Stücke. Noch jetzt, wenn es mir bei musikalischen Freunden recht heimisch gemütlich ist, pflege ich zum höchsten Genuß eines seligen Viertelstündchens mit dem Notenbuche in der Hand zu kommen: »Kinder, bringt mir die Morgenröte und laßt mir die Sonne aufgehen!« und nach dem Vortrage und der Aufnahme dieser Stellen die Seelen zu beurteilen.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Wie gehen wir mit Abnutzungserscheinungen um?

    - Und ergänzend dazu, wie lässt sich dies in der Klassik überhaupt definieren?

    Eine Platte aus dem Bereich der Pop-Musik (oder Rock, Folk etc.) ist vielleicht brilliant im Moment des Erscheinens. Aber die Form und der Inhalt dieser Platte bleibt unverändert. Pink Floyds "The Dark Side of The Moon" z.B. wäre in dieser konzeptionellen Form so auch nicht zu wiederholen, da der gesamte Mix zum großen Teil spontan entstanden ist und daher eine Momentaufnahme darstellt. Natürlich kann man daraus Stücke für eine Live-Aufführung arrangieren, aber ein großer Teil des Zaubers geht dabei immer verloren. Dann müsste man aber sagen, dass sich Pop-/Rockmusik (ich vermeide hier ganz bewusst den scheußlichen Begriff "U-Musik") beim persönlichen Hören schneller als Klassik abnutzt, da es ja nur eine Version gibt.

    Aber wer kennt es nicht, dass man manchmal (vielleicht auch mehrere Jahre am Stück) einfach genug vom Komponisten X oder Y hat, nach einiger Zeit aber wieder Lust verspürt oder über andere Wege dazu kommt? Im Bereich der Klassik leben wir meiner Meinung nach in fast schon zu luxuriösen Zeiten. Es gibt unzählige Einspielungen des gesamten Kernrepertoires und darüber hinaus, in jeder erdenklichen Interpretationsweise. Hier gibt es eben nicht nur die eine Version, man hat die Qual der Wahl. Wenn man bei dieser fast schon unersättlichen Auswahl an Interpretationen - die mal mehr mal weniger bereichernd auf den Markt geworfen werden - trotzdem recht bald Abnutzungserscheinungen verspürt und dem jeweiligen Werk auch keine weitere Chance mehr geben möchte, dann ist wohl eher der persönliche Geschmack oder die Tagesform Ursache und nicht die Qualität des Werks. Warum sollte es denn sonst immer wieder aufgenommen werden, wenn nicht zumindest eine Mehrheit existiert, die es für wertvoll hält.

    Pauschale Einteilungen wie "zu einfach" oder "komplex" finde ich daher schwierig. Das vermeintlich einfache kann eine komplexe Wirkung erzeugen und umgekehrt. Konzeptionelle Begriffe wie "Verständnis" und "Anspruch" sind sehr dynamisch und hochindividuell zu verstehen, abhängig von Hörerfahrung, Erziehung und Exposition mit Musik bestimmter Art.

    Ich selbst hatte früher die Ansicht, Dvorak sei zu oberflächlich schön und bömisch glatt, die Sache war erstmal erledigt für mich. Dann kam Blomstedt daher und dirigierte die 7. Symphonie, mich hat's schier vom Hocker gehauen, da war plötzlich eine neue "innere Größe" erkennbar, rhythmische Komplexitäten und ungeheurer Einfallsreichtum bei der Durchführung im 4. Satz...wie konnte ich dies je als "zu einfach" abstempeln? War die Tagesform früher vielleicht nicht auf Dvorak ausgerichtet, bin ich selbst reifer geworden oder umgekehrt: Hatte ich früher vielleicht "recht" und mein Geschmack ist "simpler" geworden? Ist doch letztlich egal, bei klassischer Musik ist alles möglich, immer. Und wenn wir uns komplett verstellen und zumindest der Möglichkeit verweigern, doch einmal eine andere Erkenntnis zu gewinnen, dann wäre das schade.

    „Music is a nexus. It's a conduit. It's a connection. But the connection is the thing that will, if we can ever evolve to the point if we can still mutate, if we can still change and through learning, get better. Then we can master the basic things of governance and cooperation between nations.“ - John Williams

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