Musik in ihrer Zeit

  • nun, die "Selbstbezüglichkeit" scheint mir 2 Aspekte zu haben. Einmal den Verlauf der Musikgeschichte, dann eine werkinterne Selbstbezüglichkeit.

    "Musikgeschichtlich" gesehen, wird das, wasein komonst schafft, offenbar wesentlich von dem - nicht determiniert, aberdoch in einen Rahmen des ihm Möglichen gestellt. Er findet ein Tonsystem vor, musiktheoretisches, das er lernt, Werke andeter Kompoisten. Zu allem kann er sich negativ verhalten, aber erfahrungsgemäß hat das seine Grenzen, und er kann nicht ein Stück nach art einer Sinfonie des 18. Jh. schreiben, wenn er nur die Erfahrungen des 16. jh. kennt. Das ist die unverschiebbarkeit und der Zeitstempel, von dem bustopher in # spricht - dazu später mehr. offenbar besteht diese Selbstbezüglichkeit gleichzeitig mit Einflüssen auf die musik aus dem "nichtmuskalischen Umfeld" Auch eine werkinterne Selbstbezüglichkeit scheint mir evident - die ist schon dadurch gegeben, daß der Kömponist zumindest einzelne Teile oder Abschnitte als Ganze, d.h. etwa, die auch zu einer Aufführung bestimmt sind, die am Anfang anfängt und am Ende endet. Er schafft Fortsetzungen und Kontraste, immer mißt sich eins am anderen. in extrem aleatorischen Kompositionen mag diese Funktion z.T. auf den Interpreten übergehen.

    Danke für Deine Antwort! Ich verstehe sie nur teilweise. Daß sich Kompositionen von X auf vorliegende Kompositionen von Y beziehen (also z. B. Beethovens Symphonien sich auf Haydns Symphonien), leuchtet mir ja noch ein. Allerdings verstehe ich nicht, was daran sebstbezüglich sein soll: Kunst bezieht sich auf Kunst?

    Was Du als "werkinterne Selbstbezüglichkeit" erläuterst, ist mir dagegen komplett unklar: Das Kunstwerk bezieht sich auf sich selber oder so etwas? ?(

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Danke für Deine Antwort! Ich verstehe sie nur teilweise. Daß sich Kompositionen von X auf vorliegende Kompositionen von Y beziehen (also z. B. Beethovens Symphonien sich auf Haydns Symphonien), leuchtet mir ja noch ein. Allerdings verstehe ich nicht, was daran sebstbezüglich sein soll: Kunst bezieht sich auf Kunst?

    Was Du als "werkinterne Selbstbezüglichkeit" erläuterst, ist mir dagegen komplett unklar: Das Kunstwerk bezieht sich auf sich selber oder so etwas?

    die Schwierigkeit kann höchstens in der Trivialität des gemeinten liegen.

    um für den musikgeschichtlichen Selbstbezug nochmal das Beispiel mit der Sonatenhauptsatzform zu wiederholen: Es kann einem Komponisten nicht zu beliebiger geschichtlicher Zeit einfallen, Sonatenhauptsatzformen herzustellen, denn das setzt die Erfahrung von Tanz- und Konzertformen des Barock voraus. Es gibt keine außermusikalische Instanz, bzw. es kann keine solche ausgemacht werden, die vorschreiben oder auch nur nahelegen könnte, daß zu einem besttmmten egeschichtl. Zeitpunkt Sonatenhauptsatzformen produziert werden, und dann auf Organa im Perotinstil umgestiegen wird. Das wäre der Selbstbezug der Musikgeschichte.

    Bei einer einzelnen Komposition liegt der Selbstbezug schon in der Einheit, die allein dadurch schon vorausgesetzt wird, daß das Werk oder auch bloß ein Werkteil als Ganzer aufgeführt wird. Die Cageianer haben allses versucht, den intentionalen Charakter diese Einheit zu elminieren, und daher nichtintentionale Verfahrn (Zufallsoperationen) verwendet. Aber (Tudor oder Wolff bemerkten das wohl), letztendlich, was immer man anstellt, es wird immer eine Melodie daraus, d.h. ein selbstbezügliches Gebilde.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Danke, jetzt wird mir klarer, was Du meinst. Spontan gibt's da für mich nichts einzuwenden.

    ;)

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Auf der erkenntnistheoretischen Ebene: Alles unser Tun und Fühlen wird determiniert davon, was wir wissen. Diese Determinierung ist streng, es gibt keine Ausnahme davon. Vorstellbar ist nur das, was wir denken können. Damit ist auch die Kunst dieser (zeitabhängigen!) Restriktion unterworfen. Beispiel: pomejianische Arabeskenmaler konnten sich in Extrapolation ihres Wissens zwar Fabelwesen vorstellen, die untypische, aber für sich jeweils bekannte Kombinationen von Merkmalen aufwiesen, aber keine Autos, Flugzeuge und Raumsonden. Die lagen außerhalb ihres Wissens und waren damit nicht denk- und somit auch nicht vorstellbar.


    Nur mal am Rande: ist das wirklich so streng? Falls ja, was ist dann mit Science Fiction - Handy-Vorläufer und KI in "Star Trek" beispielsweise? Oder eine gewisse amerikanische Serie mit einem sprechenden Auto, das selbst fahren konnte... War das nur Extrapolation von Wissen, oder hat man sich hier nicht etwas eigentlich Unvorstellbares trotzdem vorgestellt - und wo wäre diesbezüglich die Grenze zu ziehen?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • die Komposition von Sonatenhauptsatzformen z.B., weil die Komponisten auf so was wie Sonatenhauptsatzform nur kommen können, wenn sie die Erfahrung barocker Suiten- und Konzertformen haben. Sie ergreifen diese quasi evolutionäre Möglichkeit und komponieren fleißig Sonatenhauptsatzformen, und trivialerweise sind diese dann für "ihre" Zeit "typisch", aber das hat einen rein quantitativen Sinn.

    ist das als Beispiel nicht schon wieder zu restriktiv? Kreativität ist doch prinzipiell voraussetzungslos und muß nicht notwendigerweise bestehende Entwicklungen fortsetzen oder auf ihnen aufbauen. Genauer: macht sie nicht genau dort, wo tatsächlich Neues entsteht, regelmäßig Sprünge? (Newtons Apfel oder Archimedes' Badewanne sind da schöne Beispiele). Innovation ist nicht zwingend eine Folge von Evolution.

    Eine qualitative Perspektive würde die Sonatenhauptsatzform als "typisch" im Sinne von "geprägt" durch einen "Geist der Zeit" verstehen wollen (vgl. auch philmus oben), also nicht selbstbezüglich aufgrund intern-musikalischer Entwicklung, sondern eben "demselben Geist" verpflichtet.

    das wäre aber kein trivialer "Zeitstrempel".

    Hm... Ich glaube, ich weiß was Du meinst, bin aber nicht sicher, ob ich's richtig verstanden habe...

    Aufgrund welchen (außermusikalischen) Geistes wäre z.B die Sonatenhauptsatzform geprägt, so daß die Sonatenhauptsatzform aus diesem Geist resultiert und nichts anderes? Gibt es einen derartigen "Geist", der zwingend auf die Sonatenhauptsatzform führt? Doch sicher nicht! Wenn der selbe Geist auf etwas anderes geführt hätte, statt auf den Sonatenhauptsatz, was würde uns das dann sagen? Nichts, denn wir wüssten ja noch nicht einmal, daß es "etwas anderes" ist, weil es ein jeweils "Anderes" nie gegeben hätte. Geschichte verläuft halt genau so, wie sie verläuft, ohne Alternative. Sind solche Zuschreibungen aus diesem Grund dann nicht völlig zufällig?
    Man kann verschiedene Aspekte von Kultur ("Kultur" im Sinne eines Überbegriffs von allem, was menschengemacht ist) nicht trennen: Die bedingen und beeinflussen sich immer gegenseitig in komplexer Weise. Also läßt sich die Art, welche Musik gemacht wird und wie (wann, wo, warum, mit wem, für wen, durch wen) Musik gemacht wird, grundsätzlich nicht unabhängig von der Umgebung betrachten, in der sie gemacht wird. Das ist allerdings eine immanente Eigenschaft für alle Teilaspekte jeglicher Kultur und ist nicht musiktypisch. Wenn Kultur aber die Summe allen Wissens und aller Fähigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt ist (vielleicht auch an einem bestimmten Ort), dann sind wir da doch wieder beim "Zeitstempel". Ich finde nicht, daß das "nicht-trivial" ist, sondern eine unmittelbare Folge aus dem Wesen von Kultur.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Aufgrund welchen (außermusikalischen) Geistes wäre z.B die Sonatenhauptsatzform geprägt, so daß die Sonatenhauptsatzform aus diesem Geist resultiert und nichts anderes? Gibt es einen derartigen "Geist", der zwingend auf die Sonatenhauptsatzform führt? Doch sicher nicht!

    Zwingend nicht. Sicher war es auch notwendig für die Dominanz dieser Form, dass sie eben auch musikalisch überzeugte.

    Aber die Gemeinkeiten von Dialektik und Sonatenhajuptsatz sind m. E. zu zwingend, als dass man das mehr oder weniger gleichzeitige Erscheinen beider als Zufall abtun könne. (Man kann natürlich schon ...)

    Wenn der selbe Geist auf etwas anderes geführt hätte, statt auf den Sonatenhauptsatz,

    Wenn wenn wenn ... hat er aber nicht.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Aber die Gemeinkeiten von Dialektik und Sonatenhajuptsatz sind m. E. zu zwingend, als dass man das mehr oder weniger gleichzeitige Erscheinen beider als Zufall abtun könne. (Man kann natürlich schon ...)

    das wäre für mich gar nicht so klar. Verwickelt die "dialektische" Interpretation der Sonatenhauptsatzform sich nicht ganz schön in Schwierigkeiten - namentlich das Problem "Reprise"? darf es die dialektisch überhaupt geben?

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Nur mal am Rande: ist das wirklich so streng? Falls ja, was ist dann mit Science Fiction - Handy-Vorläufer und KI in "Star Trek" beispielsweise? Oder eine gewisse amerikanische Serie mit einem sprechenden Auto, das selbst fahren konnte... War das nur Extrapolation von Wissen, oder hat man sich hier nicht etwas eigentlich Unvorstellbares trotzdem vorgestellt - und wo wäre diesbezüglich die Grenze zu ziehen?

    LG :wink:


    Du kannst Dir nur Dinge vorstellen, die Du Dir vorstellen kannst. Das Unvorstellbare ist genau das: unvorstellbar. Nicht denkbar. Wir haben noch nicht einmal Begriffe dafür...

    Deine Beispiele sind alles Kombinationen oder Extrapolationen aus bereits bekannten Elementen oder waren bereits sogar existent. Mobiles Telefonieren gibt es (in Deutschland) seit 1958, mit lokalen Vorläufern bis 1950 und die fortschreitende Miniaturisierung von elektronischen Bauteilen war in den 60er ein bereits durchaus im Alltagsleben angekommener Prozess. Redende Automaten gibt es bereits seit zwei Jahrhunderten in der Literatur (z.B. ETA Hoffmann, Die Automate, in Serapionsbrüder), wiederum inspiriert von (anthropomorphen) Automaten, die es schon sehr viel länger gab (von Descartes gibt es da auch einen interessanten Beitrag...), KI als akademisches Betätigungsfeld gibt es seit mindestens 70 Jahren (z.B. Alan Turing, Computing Machinery and Intelligence, 1950; die Vorstellung, daß sich Intelligenz automatisieren lassen könnte, geht aber bis ins 18. Jh. zurück), Autos gab's zu Knight Riders Zeiten auch schon, und in den späten Siebzigern war das Thema der Diplomarbeit eines Freundes von mir aus dem Umfeld der Steuerung autonomer Landfahrzeuge....

    Du kannst alles, was in SF vorkommt, auf diese Weise analysieren, und ich bin mir sicher, daß Du immer (ok: in guter naturwissenschaftlicher Manier bis zur Falsifizierung) in dieser Weise eine Erklärung finden wirst...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Du kannst Dir nur Dinge vorstellen, die Du Dir vorstellen kannst.

    sollte die Diskussion nicht eher darum gehen, was man tatsächlich herstellen kann? also ein Stück in Sonatenhauptsatzform komponieren oder eine Saturnrakete bauen.

    Die Vorstellung kann man beliebig vage halten, das besagt dann gar nichts.

    ---
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  • Zwingend nicht. Sicher war es auch notwendig für die Dominanz dieser Form, dass sie eben auch musikalisch überzeugte.
    Aber die Gemeinkeiten von Dialektik und Sonatenhajuptsatz sind m. E. zu zwingend, als dass man das mehr oder weniger gleichzeitige Erscheinen beider als Zufall abtun könne. (Man kann natürlich schon ...)

    Wenn wenn wenn ... hat er aber nicht.
    Gruß
    MB

    :wink:

    Ja, sicherlich: hat musikalisch überzeugt. Das führt aber eigentlich am Thema vorbei, oder? Es ging doch um den Geist, durch den er hypothetisch geprägt wurde. "Gefallen" käme aber erst als Wirkung.
    Zeitliche Koinzidenz auch phänomenologisch vergleichbarer Phänome sagt nichts über kausale Zusammenhänge aus. Im Speziellen Fall tut sich hier auch noch das Problem auf, daß, abhängig davaon welche Definition von Dialektik man zugrunde legt, diese entweder bereits sehr, sehr viel früher als die Sonatenform existierte, oder als zugrunde liegendes Denkschema zu spät kam, um die Entstehung zu erklären. Die Gegenüberstellung und Verarbeitung kontrastierende Elemente in der Musik gab es notabene auch schon viel länger
    Und zum letzten Absatz: Eben. Hat er nicht. Weil Geschichte wie gesagt alternativlos ist. Es müßig, über den Einfluß der Geschichte auf die Geschichte zu spekulieren.

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Du kannst Dir nur Dinge vorstellen, die Du Dir vorstellen kannst. Das Unvorstellbare ist genau das: unvorstellbar. Nicht denkbar. Wir haben noch nicht einmal Begriffe dafür...


    Schon klar, aber ist das nicht eine sehr subjektive Klassifizierung, die massiv von der Vorstellungskraft abhängt? Hätte wirklich etwas dagegen gesprochen, sich z. B. bereits im Jahr 1500 auszumalen, dass irgendwann einmal ein Wagen erfunden wird, der keine Pferde mehr benötigt? Falls das unmöglich war: mit welchem Schritt wurde es denn dann möglich? So ein Ding namens Automobil ist ja nunmal irgendwann gebaut worden, wurde also von unvorstellbar zu vorstellbar.

    Bezogen auf die Kunst (um zum Thema zurückzukehren): natürlich hat ein Komponist keine Kristallkugel zur Verfügung, aber ist es wirklich ausgeschlossen, dass es bei Bach oder Mozart gewisse Vorgriffe auf die Romantik gibt (wiewohl weder Bach noch Mozart diese vorhersehen konnten)? War ein solches Idiom für sie vorstellbar oder unvorstellbar, und woran machen wir das fest?

    LG :wink:

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  • Die Vorstellung kann man beliebig vage halten, das besagt dann gar nichts.

    Nein. Es geht schon ganz konkret um das, was wir wissen. Wir können uns nichts vorstellen (ob machbar, realistisch, was auch immer, spielt keine Rolle), was jenseits unseres Wissens liegt, denn dann wüssten wir es ja. Klassischer, nicht auflösbarer Widerspruch: Man kann nicht gleichzeitig etwas wissen und nicht wissen.
    Wir können uns aber sprechende Tiere vorstellen, denn wir kennen Tiere, und wir kennen Sprache. Sprechende Tiere sind dann ein simples fiktives Konstrukt aus diesen beiden Dingen.

    viele Grüße

    Bustopher


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  • st das als Beispiel [Sonatenhauptsatzform]nicht schon wieder zu restriktiv? Kreativität ist doch prinzipiell voraussetzungslos und muß nicht notwendigerweise bestehende Entwicklungen fortsetzen oder auf ihnen aufbauen.

    wirklich nicht?

    der Steinzeitmensch, der schon mal einen Knochen angeblasen hat, wobei er fasziniert von diesem merkwürdigen Klang war, und nun anfängt, am Knochen herumzuschnitzeln und das zu optimieren, kann doch nur im Rahmen solcher Voraussetzungen agieren bzw. ist daran gebunden. Nicht gebunden in dem Sinne, daß ihm ein für alle mal Grenzen gesetzt wären, aber es kann doch nur schrittweise oder meinetwegen auch in kleinen Sprüngen gehen.

    Zitat

    Genauer: macht sie nicht genau dort, wo tatsäch lich Neues entsteht, regelmäßig Sprünge? (Newtons Apfel oder Archimedes' Badewanne sind da schöne Beispiele). Innovation ist nicht zwingend eine Folge von Evolution.

    der Einfall mit dem Apfel setzt voraus, daß Kepler seine Gesetze aufgestellt hatte. Erst damit kam das Problem auf, warum diese Gesetz gerade so lauten, wie sie lauten. Und darauf gab der Apfel eine Antwort.

    ---
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  • Schon klar, aber ist das nicht eine sehr subjektive Klassifizierung, die massiv von der Vorstellungskraft abhängt? Hätte wirklich etwas dagegen gesprochen, sich z. B. bereits im Jahr 1500 auszumalen, dass irgendwann einmal ein Wagen erfunden wird, der keine Pferde mehr benötigt? Falls das unmöglich war: mit welchem Schritt wurde es denn dann möglich? So ein Ding namens Automobil ist ja nunmal irgendwann gebaut worden, wurde also von unvorstellbar zu vorstellbar.

    Bezogen auf die Kunst (um zum Thema zurückzukehren): natürlich hat ein Komponist keine Kristallkugel zur Verfügung, aber ist es wirklich ausgeschlossen, dass es bei Bach oder Mozart gewisse Vorgriffe auf die Romantik gibt (wiewohl weder Bach noch Mozart diese vorhersehen konnten)? War ein solches Idiom für sie vorstellbar oder unvorstellbar, und woran machen wir das fest?

    LG :wink:

    Nun ja: es gibt Wägen mit unterschiedlichem Antrieb, mit Pferden, Eseln, Ziegen, von Menschen gezogen, mit Segeln (soll's in China schon in der Antike gegeben haben, bei uns um 1600)...
    Leonardo hat auch schon einen selbstfahrenden Wagen mit Federantrieb konstruiert. Kombination aus bekanntem Wagen mit bekanntem Federantrieb. Ohne die Kenntnis des Rades, das Konzept des Wagens und des Federantriebes wäre das nicht möglich gewesen. Da alles aber bekannt war, konnte er es auch kombinieren. Es wären auch noch andere Antriebskonzepte im 15. Jh. denkbar gewesen: Mit Gewicht wie bei der Uhr, Dampfrakete wie bei Heron, Wasserkessel und Wasserrad., Segel (wie gesagt), Windrad, rückwärts gerichtete Kanone (oder Katapult)....
    Zur Musik: an extremeren Beispielen wird es deutlicher: Glauben wir, daß Bach Vorgriffe auf die serielle Musik vornehmen konnte?

    viele Grüße

    Bustopher


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  • Zur Musik: an extremeren Beispielen wird es deutlicher: Glauben wir, daß Bach Vorgriffe auf die serielle Musik vornehmen konnte?


    Serialismus im eigentlichen Sinne gibt es bei Bach natürlich nicht, aber Vorgriffe auf ein Ausreizen der Grenzen der Tonalität finden sich durchaus: zum Beispiel in der h-moll-Fuge aus dem WTK I (stark chromatisch konzipiertes Thema, Tritonus-Sprung im Kontrapunkt) oder im a-moll-Präludium des WTK II (durchgehend sehr chromatisch). Mit etwas Fantasie könnte man anführen, dass Bach mit seinem stark konstruktivistischen Ansatz und seiner Materialdisziplin eine Art Urvater des Serialismus sein könnte, wiewohl er diesen sicherlich nicht direkt antizipiert hat.

    Ich kann eben halt nicht nachvollziehen, was die Unterscheidung zwischen "vorstellbar" und "unvorstellbar" für Dich so klar macht. Man kann Extrembeispiele nehmen, wie die Frage, ob sich die Komponisten der Ars Nova Radiohead hätten vorstellen können, aber es gibt doch so viele Beispiele, wo die Grenzen weitaus weniger deutlich, sondern eher verschwommen sind. In der Kunst dürfte das Verschwommene mit sinkenden zeitlichen Abständen zunehmen - und wir tauschen uns hier im Wesentlichen über musikalische Werke aus, die in einem Zeitraum von ca. 350 Jahren entstanden sind (gegenüber Jahrtausenden menschlicher Zivilisation mit künstlerischer Betätigung).

    LG :wink:

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  • der Steinzeitmensch, der schon mal einen Knochen angeblasen hat, wobei er fasziniert von diesem merkwürdigen Klang war, und nun anfängt, am Knochen herumzuschnitzeln und das zu optimieren, kann doch nur im Rahmen solcher Voraussetzungen agieren bzw. ist daran gebunden. Nicht gebunden in dem Sinne, daß ihm ein für alle mal Grenzen gesetzt wären, aber es kann doch nur schrittweise oder meinetwegen auch in kleinen Sprüngen gehen.

    Und was ist mit dem ersten Menschen, der zufällig über einen hohlen Knochen bläst und das, was er jetzt beobachtet weiterentwickelt? Der baut auf nichts auf...

    der Einfall mit dem Apfel setzt voraus, daß Kepler seine Gesetze aufgestellt hatte. Erst damit kam das Problem auf, warum diese Gesetz gerade so lauten, wie sie lauten. Und darauf gab der Apfel eine Antwort.

    Das ist korrekt. Aber die Lösung war grundsätzlich neu, ohne "Vorstufen"

    viele Grüße

    Bustopher


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  • namentlich das Problem "Reprise"? darf es die dialektisch überhaupt geben?

    Ja klar - sie ist sogar zwingend erforderlich: Weil erst die Reprise die Synthese der beiden antithetischen Themen qua Tonart bewerkstelligt.

    Zeitliche Koinzidenz auch phänomenologisch vergleichbarer Phänome sagt nichts über kausale Zusammenhänge aus.

    Sicher. Mehr als einen Indizienbeweis werden wir aber auch kaum führen können, oder?

    Gruß
    MB

    :wink:

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  • In der Kunst dürfte das Verschwommene mit sinkenden zeitlichen Abständen zunehmen - und wir tauschen uns hier im Wesentlichen über musikalische Werke aus, die in einem Zeitraum von ca. 350 Jahren entstanden sind (gegenüber Jahrtausenden menschlicher Zivilisation mit künstlerischer Betätigung).


    Klar, das ist ganz einfach: Je kürzer der betrachtete Zeitabschnitt ist (und je langsamer der Wissenszuwachs), um so geringer fallen die Differenzen aus, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgend etwas passiert, "was den Lauf der Geschichte ändert" und um so eher läßt sich das, was heute ist, auf morgen extrapolieren und um so ähnlicher sind natürlich auch die Phänomene. Ansonsten verläuft Geschichte (mit Kunst als Teil davon) chaotisch: Es regnet und die Franzosen verlieren die Schlacht von Azincourt, ein gegnerischer Leutnant will den Helden spielen und die Briten gewinnen die Schlacht von Dettingen, Purcell stirbt Mitte Dreißig an Lungenentzündung oder Tuberkulose - alles nicht vorhersehbar
    Aber ich glaube, wir bewegen uns mittlerweile ziemlich vom Thema weg...

    viele Grüße

    Bustopher


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  • Ja klar - sie [die Reprise] ist sogar zwingend erforderlich: Weil erst die Reprise die Synthese der beiden antithetischen Themen qua Tonart bewerkstelligt.

    das ist aber eine magere Synthese - die Modulationspartie ein bißchen ändern und den Seitensatz in die Grundtonart setzen.

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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • das ist aber eine magere Synthese - die Modulationspartie ein bißchen ändern und den Seitensatz in die Grundtonart setzen.

    Nun ja - zwei Themen werden als Gegensatz exponiert (und in der Frühform besteht der Gegensatz eben vor allem in der Tonart) und erscheinen in der Reprise gleichförmig - eben in derselben Tonart.

    Das Bestreben, die beiden Themen auch im Charakter zu differenzieren, kam erst später.

    Was würdest Du noch verlangen?

    Gruß
    MB

    :wink:

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