Welche Bedeutung hat Harmonielehre für Musizierende?

  • Welche Bedeutung hat Harmonielehre für Musizierende?

    Beispiel 1: Ich habe jahrelang nur passiv Musik gehört und mich an Klängen erfreut. Irgendwann wollte ich mehr wissen, als in den Booklets steht und begann, mich mit Büchern über Harmonie-Lehre zu beschäftigen und zunehmend Partituren zum Hören zu lesen. Das ist rund zehn Jahre her und lange wieder vorbei, weil ich die ernüchternde Erfahrung gemacht habe, dass mir diese Vorgehensweise rein gar nichts gebracht hat. Allein das Entziffern der Akkorde dauerte entnervend lang und immer war das Notenbild viel komplizierter als in den Büchern. Klar, ich verstand bald den Aufbau von Kinderliedern besser, aber beim Verstehen von klassischer Musik nützte mir dieses Wissen nahezu nichts.

    Beispiel 2: Ich spiele amateurhaft Cello (habe als Erwachsener begonnen). Durch das viele Hören klassischer Musik habe ich ein gutes Gefühl für das, was ich klassische Musiksprache nennen möchte, kann ich die Noten im Kopf also recht gut in Klänge umsetzen und Klangideen verwirklichen (bitte: auf Anfängerniveau). Hilft mir beim Musizieren mein theoretisches Wissen über Harmonielehre? Nicht im Geringsten. Selbst wenn ich z. B. den ersten Satz der ersten Bach-Suite spiele, ein Stück das harmonisch sehr übersichtlich ist, käme ich nie auf die Idee, mir beim Musizieren harmonische Gedanken zu machen.

    Allerdings bin ich beim Erlernen der Harmonielehre über ein Grundniveau nie hinausgekommen. Das Lesen über Akkorde oder über den vierstimmigen Satz, ohne die Klänge zu spielen oder zu hören, war wie Trockenschwimmen: unergiebig. Ein Cello hilft an dieser Stelle kaum weiter, weil Akkordfolgen sich damit nur schlecht spielen lassen.

    Beispiel 3: Ich erinnere ein Interview mit Tortelier, der meinte, man könne ein Stück nur sinnvoll interpretieren, wenn man die harmonische Struktur verstanden habe. Mag sein, aber auf wie viele Musiker trifft das zu? Ab welchem Niveau gilt das? Die meisten der Amateurmusiker spielen doch einfach nur die Noten und hören sich allenfalls begleitend Aufnahmen an, um zu hören, wie das klingen soll oder kann.

    Beispiel 4: Meine Frau spielt nach etlichen Jahren klassischem Klavier Keyboard in einer Kirchen-Band (das Typische: Begleitung vom Chor, daneben aber auch normale Pop-Musik von den Beatles bis heute). Totale Umgewöhnung war nötig: Weg von den Noten, hin zum Lead-Sheet. Bis heute hat sie keine Ahnung davon, welche Akkordfolgen warum hintereinander kommen und regelmäßig sitzen wir bei neuen Stücken zusammen und fragt sie mich alles Mögliche. Ich komme ihr dann mit Subdominante, Dominante, Tonikaparallele usw. und versuche ihr zu erläutern, dass das nicht immer alles neu ist, sondern einfach dasselbe Prinzip in einer anderen Tonart. Sie antwortet, sie will einfach nur wissen, wie man das spielt und ist glücklich, wenn ein Musikerkollege ihr erläutert, dass sie die Terz in der rechten Hand weglassen sollte, wenn die Terz in der Basslage ist. „Hör mir auf mit deiner Harmonielehre“, sagt sie mir. „Mich interessiert nur, wie ich das spiele.“

    Ist Harmonielehre für nichtprofessionelle Musizierende also sinnlos?

  • Ist Harmonielehre für nichtprofessionelle Musizierende also sinnlos?

    direkte Antwort: nein.

    Aaaber, m.E. sollten einige Bedingungen erfüllt sein, damit sich das Studium der Harmonielehre "lohnt"

    1.
    ich kann mitr schwer vorstellen, daß man Harmonielehre ausreichend gründlich lernt, wenn man es rein zweckgesteuert tut, d.h. daß man H. nur lernt, um musikalische Kompositionen "besser verstehen zu können". Es sollte auch ein Interesse an der Materie als solcher vorhanden sein, d.h. man sollte diese mit dem Gefühl betreiben können, sich eine eigenen Zugang zum "Reich der Töne" zu erarbeiten.

    2.
    ich kann mir schwer vorstellen, daß man Harmonielehre ausreichend gründlich lernt, wenn man dies nicht mit praktischen Übungen an einem Tasten- oder wenigstens Akkordinstrument verbindet, wie unbeholfen auch immer das aussehen mag. in der Musikhochschulausbildung ist ja m.W. nicht nur eine musiktheoretische Ausbildung für alle obligatorisch, sondern auch das Spielen eines Tasteninstrumentes.

    3.
    sollte m.E. das Studium der Harmonielehre mit Gehörbildung verbunden sein. Das beste Online-Angebot für Gehörbildung, das ich gefunden habe, ist ein umfangreiches Lernpaket der Musikhochschule Mannheim:

    https://www.eartraining-online.de/

    hier wäre dann der Kurs "Harmonik" einschlägig.


    4.

    zum gewinnbringenden Studium der Harmonielehre gehört m.E. auch ein gewisses Maß an vielleicht stumpfsinnig anmutenden Übungen, nämlich die Durcharbeitung des jeweiligen Stoffes in "allen Tonarten". Nur dann wird sich die Fähigkeit zm Notenlesen so steigern können, daß man bei "realen Werken" was davon hat.


    Grundvoraussetzung wäre allerdings, daß eine gewisse Fähigkeit zum Notenlesen überhaupt (unabhängig davon, daß man die Noten als Spielanweisung versteht und benutzt) auch für den nichtprofessionellen Musikliebhaber etwas zum vertieften Veständnis der Kompositionen beitragen kann. M.E. ist das so, aber das muß der Einzelne für sich verifizieren, man kann das m.E. nicht "beweisen".

    - jm2c -

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Wenn du ein Stück für Sopran- und Altflöte auf 2 Sopranflöten spielst, und das Gefühl hast, es klingt irgendwie schief, ist ein klein wenig Harmonielehre auch ganz hilfreich. :*

  • Beispiel 3: Ich erinnere ein Interview mit Tortelier, der meinte, man könne ein Stück nur sinnvoll interpretieren, wenn man die harmonische Struktur verstanden habe. Mag sein, aber auf wie viele Musiker trifft das zu?

    Ich denke auf Dirigenten auf jedenfall, sofern sie sich als Interpreten und nicht nur als fleischgewordener Metronom verstehen.

    VG

    Palisander

  • Bin zwiegespalten. - Ich denke mir, dass ein extrem begabter Musiker die Harmonik eines Werkes auch intuitiv erfassen könnte, ohne jetzt mit Etiketten bezeichnen zu können, was Tonika, Dominante, Mediante usw. ist.

    Für Otto-Normal-Musiker ist es vielleicht hilfreich, die einschlägigen Vokabeln und ihre Bedeutung zu kennen. Um auf diesem Wege auch anhand der Noten zu erkennen, dass nach Wagner erst nach vier Stunden in den allerletzten Takten den Tristan-Akkord regulär auflöst (was für eine Spannung!). Um zu erkennen, dass das zweite Thema in der Waldstein-Sonate nicht regelkonform in der Dominante steht und dann seine Schlüsse als Interpret zu ziehen. Um Schuberts Medianten-Gebrauch zu erkennen und daraus dann etwas zu machen. Um die Rolle von B-Dur und h-Moll im Kopfsatz der Hammerklaviersonate zu erkennen. Usw.

    Und, ja, das Spielen eines akkordfähigen instrumentes (Klavier, Akkordeon, Gitarre, Harfe, ...) ist dabei äußerst hilfreich.

    Persönlich kann ich sagen, dass mir das Mitschreiben harmonischer Verläufe wesentlich einfacher fällt als das Notieren einer gehörten Melodie. EIne Melodie ist frei, frei, frei - bei der Harmonik ist meist eine gewisse Logik dahinter (oder ein gewollter Bruch), so dass auf höherer Ebene Zusammenhänge erkennbar sind, die für mich viel einfacher nachzuvollziehen sind als viele Melodien.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich habe das auch mal gemacht, aber ebenfalls nach einiger Zeit abgebrochen. Mir war das zu trocken und für meine Art, Musik zu hören, nicht notwendig. Natürlich fehlt dann das Verständnis für viele Vorgänge und auch Strukturen (z.B. Sonatensatz), aber der Tag hat eben nur 24 h.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Ich hoffe, es klingt nicht überheblich, wenn ich sage, dass mein Harmoniegehör mir den Weg zu großen Teilen klassischer Musik von vor 1900 verbaut. Als jemand, dessen Einstieg in die klassische Musik Arnold Schönberg war, fällt es mir schwer, Musik interessant zu finden, deren Harmonik ich beim Ersthören mindestens intuitiv verstehe und beim Zweithören direkt als Akkordfolgen niederschreiben könnte.

    Durch mein anachronistisches Herantasten höre ich Wiener Klassik zumeist als Abfolge von (nicht nur harmonischen) Floskeln. Musik ist für mich vor allem dann spannend, wenn ich die Harmonik *nicht* verstehe, sie mich vor Rätsel stellt, und das kommt in der Klassik gehäuft nunmal erst ab ca 1900 vor. Wenn ich ältere Musik höre, muss ich mein Harmoniegehör fast bewusst abstellen.

    Kann also auch von Nachteil sein, zuviel von Harmonie zu verstehen :) Oder, weniger überheblich formuliert, ist es für jemanden von Nachteil, der sich nicht mit einfachen Freuden begnügen kann, der immer nach mehr Komplexität sucht...

  • Ist Harmonielehre für nichtprofessionelle Musizierende also sinnlos?


    Meine Antwort: definitiv nicht!

    Das Verständnis harmonischer Strukturen erleichtert m. E. auch das praktische Musizieren, insbesondere das zügige Erfassen des Notentextes. Dafür ist es halt hilfreich zu wissen, dass der vorliegende Akkord z. B. e-moll in der Grundtonart G-Dur ist und daraus abzuleiten, dass das (relativ betrachtet) ähnlich klingen soll wie a-moll in C-Dur. Ob man dann noch wissen muss, dass man dieses Dingens "Tonikaparallele" nennt, sei dahingestellt.

    Es gibt sicherlich genial begabte Musiker, die derartige Zusammenhänge geradezu intuitiv erspüren können und daher nicht unbedingt ein theoretisches Gerüst benötigen (es gibt z. B. entsprechende Geschichten von Prince). Den Normalsterblichen hingegen hilft etwas Verständnis in Harmonielehre durchaus weiter.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich hoffe, es klingt nicht überheblich, wenn ich sage, dass mein Harmoniegehör mir den Weg zu großen Teilen klassischer Musik von vor 1900 verbaut. Als jemand, dessen Einstieg in die klassische Musik Arnold Schönberg war, fällt es mir schwer, Musik interessant zu finden, deren Harmonik ich beim Ersthören mindestens intuitiv verstehe und beim Zweithören direkt als Akkordfolgen niederschreiben könnte.

    Durch mein anachronistisches Herantasten höre ich Wiener Klassik zumeist als Abfolge von (nicht nur harmonischen) Floskeln.

    das weist in der Tat auf eine Gefahr der Harmonielehre hin.

    Die Aussagen der Harmonielehre beruhen ja auf Abstraktionen. Abstrahiert wird vom konkreten Rhythmus, von den Oktavlagen der einzelnen Töne, von der Instrumentation, der Dynamik, der Melodieführung.

    Die Gefahr besteht nun m.E. darin, daß man diese Abstraktionen nicht nur für einen Aspekt, sondern für die Sache selbst hält und auch sein Hören dergestalt fokussiert. Dann kommt es zu solchen Urteilen wie "das ist ja bloß ein andauerndes Hin und Her zwischen Dominante und Tonika". Die konkrete Komposition ist aber in jeden Fall mehr als dieses Hin und Her.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Durch mein anachronistisches Herantasten höre ich Wiener Klassik zumeist als Abfolge von (nicht nur harmonischen) Floskeln.

    Nun ja, man könnte als These aufstellen, dass die Harmonik in der Wiener Klassik noch nicht die Bedeutung hat wie später. Die Musik ist eher redend, mit dem Bleistift zeichnend, als mit dem breiten Pinsel der harmonischen Kontraste malend. Es gibt also andere DInge, auf die man hören könnte ...

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Nun ja, man könnte als These aufstellen, dass die Harmonik in der Wiener Klassik noch nicht die Bedeutung hat wie später.

    üblich dürfte allerdings die gegenteilige Ansicht sein - daß nämlich im Laufe des 19. Jh. die Harmonik, was sie an Komplikation gewinnt, an konstruktiver Bedeutung verliert, bis diese in der Atonalität gänzlich verschwunden ist.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Ich denke mir, dass ein extrem begabter Musiker die Harmonik eines Werkes auch intuitiv erfassen könnte, ohne jetzt mit Etiketten bezeichnen zu können, was Tonika, Dominante, Mediante usw. ist.

    unbedingt. Man kann sich halt nicht so gut darüber austauschen, wenn man die Sprache dafür nicht kann.

    EIne Melodie ist frei, frei, frei - bei der Harmonik ist meist eine gewisse Logik dahinter (oder ein gewollter Bruch), so dass auf höherer Ebene Zusammenhänge erkennbar sind, die für mich viel einfacher nachzuvollziehen sind als viele Melodien.

    kommt mir bekannt vor - aber das ist wohl Typ-abhängig: es gibt Harmonie-Begabungen und Melodie-Experten. Hängt vielleicht auch ein gutes Stück weit davon ab, ob man mehr Melodie-Instrumente spielt oder eben Akkord-Arbeiter ist... Schön ist, wenn man sich beim Komponieren zusammentun kann: Melodien mit Akkorden zu versehen, macht mir z.B. große Freude.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • üblich dürfte allerdings die gegenteilige Ansicht sein - daß nämlich im Laufe des 19. Jh. die Harmonik, was sie an Komplikation gewinnt, an konstruktiver Bedeutung verliert, bis diese in der Atonalität gänzlich verschwunden ist.

    Nun, ich meine es derart. dass die Harmonik in der Wiener Klassik bisweilen schematische Züge hat. Z. B. in der Tonartendisposition eines Sonatenhauptsatzes. Oder dass der langsame Satz einer Sonate oder Sinfonie bevorzugt in der Subdominante steht, weil der Kopfsatz bereits Schlagseite zur Dominantseite hat.

    Das sind Stereotypen, die an zig Werken nachweisbar sind.

    Hat in der Wiener Klassik die Harmonik eher eine Rolle in der formalen Disposition eines Satzes, so wird sie später selbst themenkonstituierend, ganz auffällig z. B. im Schlafmotiv in der Walküre. Das wäre in der Wiener Klassik m. E. undenkbar. (Wobei ich die Besonderheit der harmonischen Vorgänge bspw. im Vorspiel von Haydns Schöpfung nicht leugnen möchte - "Licht" in strahlendem C-Dur.)

    Gruß
    MB

    :wink:

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  • Melodien mit Akkorden zu versehen, macht mir z.B. große Freude.

    Ja klar! Durch die Brille des Organisten: Jede Strophe anders zu harmonisieren, idealerweise unter Berücksichtigung des Textes - da fängt es erst an, Spaß zu machen ...

    Gruß
    MB

    :wink:

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  • Ja klar! Durch die Brille des Organisten: Jede Strophe anders zu harmonisieren, idealerweise unter Berücksichtigung des Textes - da fängt es erst an, Spaß zu machen ...

    genau das: einer Melodie bei jedem Durchgang einen etwas anderen Schlag mitzugeben... dafür liebe ich die kleinen Besetzungen, wo das spontan möglich ist.
    an der Stelle erweitert natürlich eine gewisse Vertrautheit mit Harmonielehre die Möglichkeiten ungemein. Auch so Feinheiten wie "harmonischer Rhythmus", also die Dichte der Akkordwechsel, die bei Laien öfter mal eher zufällig gestaltet ist.

    Ob sie für reine Notenspieler richtig doll wichtig ist, will ich nicht beurteilen - hilfreich ist sie mMn immer, und wenns nur beim Auswendiglernen ist.

    Für Improvisations-Musiker halte ich es schon für sehr wichtig, zu verstehen, was harmonisch abgeht. Wobei es, wie schon angemerkt wurde, durchaus Talente gibt, die das aus dem Gefühl draufhaben.

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  • Nun, ich meine es derart. dass die Harmonik in der Wiener Klassik bisweilen schematische Züge hat. Z. B. in der Tonartendisposition eines Sonatenhauptsatzes. Oder dass der langsame Satz einer Sonate oder Sinfonie bevorzugt in der Subdominante steht, weil der Kopfsatz bereits Schlagseite zur Dominantseite hat.

    Das sind Stereotypen, die an zig Werken nachweisbar sind.

    Hat in der Wiener Klassik die Harmonik eher eine Rolle in der formalen Disposition eines Satzes, so wird sie später selbst themenkonstituierend, ganz auffällig z. B. im Schlafmotiv in der Walküre. Das wäre in der Wiener Klassik m. E. undenkbar. (Wobei ich die Besonderheit der harmonischen Vorgänge bspw. im Vorspiel von Haydns Schöpfung nicht leugnen möchte - "Licht" in strahlendem C-Dur.)

    Gruß
    MB

    :wink:

    im großen und ganzen stimme ich zu, mit "konstruktiver Bedeutung" ist wohl auch sowas gemeint, aber auch die konstitutive Bedeutung für den Periodenbau von Themen beispielsweise. Nur würde ich nicht "stereotyp" und "schematisch" sagen - man sagt sowas ja auch nicht sagen wir mal zu einem Gedicht in Sonettform.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Es gibt ja auch ein paar Stücke, in denen sich Rhythmus, Harmonie und Melodie komplett überschneiden. Schuberts Impromptu As-Dur (D.935) ist so ein Beispiel. Hier reicht die Harmonielehre dann sowieso nicht wirklich aus, um den ganzen Zauber zu verstehen.

    Ich glaube aber schon, dass alle guten Musiker die Grundprinzipien von Harmonie verstehen (müssen), ob intuitiv oder trainiert. Von den Dingen wie Melodie, Rhythmus und Harmonie ist letztere das mächtigste. Dank der Harmonik entsteht doch der größte Teil der Spannung, nicht nur durch Konsonanz und Dissonanz. Bis sich eine Harmonie ändert, sind Melodie und Rhythmus immer auf sich alleine gestellt. Auf der anderen Seite können diese durch die Harmonie in einem ganz anderen, komplexeren Lichte erscheinen. Zu verstehen, wie sich diese Art von Spannung aufbaut und wann sie sich auflöst, ist denke ich essentiell fürs musizieren, alleine oder in der Gruppe.
    Ob man das jetzt immer spontan in die theoretischen Komponenten übersetzen können muss, ist doch aber für den Musiker selbst gar nicht so interessant bzw. entscheidend. Höchstens für das "Schreiben über Musik".

    EIne Melodie ist frei, frei, frei - bei der Harmonik ist meist eine gewisse Logik dahinter (oder ein gewollter Bruch), so dass auf höherer Ebene Zusammenhänge erkennbar sind, die für mich viel einfacher nachzuvollziehen sind als viele Melodien.

    Eben. Daraus könnte man aber auch schließen, dass die Harmonielehre "erlernbar" ist und die Kunst, Melodien schreiben zu können, nicht. Wenn letztere eher auf Intuition und Begabung aufbaut, ist sie dann nicht das viel mysteriösere von beiden? ;)

    „Music is a nexus. It's a conduit. It's a connection. But the connection is the thing that will, if we can ever evolve to the point if we can still mutate, if we can still change and through learning, get better. Then we can master the basic things of governance and cooperation between nations.“ - John Williams

  • Ich hoffe, es klingt nicht überheblich, wenn ich sage, dass mein Harmoniegehör mir den Weg zu großen Teilen klassischer Musik von vor 1900 verbaut. Als jemand, dessen Einstieg in die klassische Musik Arnold Schönberg war, fällt es mir schwer, Musik interessant zu finden, deren Harmonik ich beim Ersthören mindestens intuitiv verstehe und beim Zweithören direkt als Akkordfolgen niederschreiben könnte.

    Durch mein anachronistisches Herantasten höre ich Wiener Klassik zumeist als Abfolge von (nicht nur harmonischen) Floskeln. Musik ist für mich vor allem dann spannend, wenn ich die Harmonik *nicht* verstehe, sie mich vor Rätsel stellt, und das kommt in der Klassik gehäuft nunmal erst ab ca 1900 vor. Wenn ich ältere Musik höre, muss ich mein Harmoniegehör fast bewusst abstellen.

    Kann also auch von Nachteil sein, zuviel von Harmonie zu verstehen :) Oder, weniger überheblich formuliert, ist es für jemanden von Nachteil, der sich nicht mit einfachen Freuden begnügen kann, der immer nach mehr Komplexität sucht...

    Das hat jetzt aber vielleicht weniger mit Harmonielehre zu tun als mit Deinem Bedürfnis nach Unergründlichkeit? Wobei Du ja Schönberg emotional komplett falsch interpretierst, für Dich ist das immer Horror-Musik, auch wenn es eigentlich heiterer Neoklassizismus ist.

    Das "Harmoniegehör" bei bspw. Haydn "abzustellen" wäre aber auch eine aktive Herbeiführung eines missverstehenden Hörens.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Das hat jetzt aber vielleicht weniger mit Harmonielehre zu tun als mit Deinem Bedürfnis nach Unergründlichkeit?


    Na ja, vor allem eben nach harmonischer Unergründlichkeit.

    Wobei Du ja Schönberg emotional komplett falsch interpretierst


    Wusste bisher gar nicht, dass so etwas möglich ist :D

  • Es stimmt doch überhaupt nicht, dass die Harmonik in der Wiener Klassik völlig vorhersehbar wäre! Die Musik folgt strukturgemäß einem Tonartenplan, aber im Detail - natürlich oft in den Durchführungen - bekommt man Spannendes zu hören. Haydn beispielsweise überrascht immer wieder. Oft bekommt man das vielleicht gar nicht bewusst mit, aber wenn man zur Abwechslung mal Pleyel und andere Proponenten dieser Zeit hört, fällt es einem umso stärker auf. Pleyel hat gute Themen, komponiert geschickt, hat Geschmack, aber die harmonische Würze Haydns und Mozarts fehlt. Einfach mal ausprobieren!

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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