Welche Bedeutung hat Harmonielehre für Musizierende?
Beispiel 1: Ich habe jahrelang nur passiv Musik gehört und mich an Klängen erfreut. Irgendwann wollte ich mehr wissen, als in den Booklets steht und begann, mich mit Büchern über Harmonie-Lehre zu beschäftigen und zunehmend Partituren zum Hören zu lesen. Das ist rund zehn Jahre her und lange wieder vorbei, weil ich die ernüchternde Erfahrung gemacht habe, dass mir diese Vorgehensweise rein gar nichts gebracht hat. Allein das Entziffern der Akkorde dauerte entnervend lang und immer war das Notenbild viel komplizierter als in den Büchern. Klar, ich verstand bald den Aufbau von Kinderliedern besser, aber beim Verstehen von klassischer Musik nützte mir dieses Wissen nahezu nichts.
Beispiel 2: Ich spiele amateurhaft Cello (habe als Erwachsener begonnen). Durch das viele Hören klassischer Musik habe ich ein gutes Gefühl für das, was ich klassische Musiksprache nennen möchte, kann ich die Noten im Kopf also recht gut in Klänge umsetzen und Klangideen verwirklichen (bitte: auf Anfängerniveau). Hilft mir beim Musizieren mein theoretisches Wissen über Harmonielehre? Nicht im Geringsten. Selbst wenn ich z. B. den ersten Satz der ersten Bach-Suite spiele, ein Stück das harmonisch sehr übersichtlich ist, käme ich nie auf die Idee, mir beim Musizieren harmonische Gedanken zu machen.
Allerdings bin ich beim Erlernen der Harmonielehre über ein Grundniveau nie hinausgekommen. Das Lesen über Akkorde oder über den vierstimmigen Satz, ohne die Klänge zu spielen oder zu hören, war wie Trockenschwimmen: unergiebig. Ein Cello hilft an dieser Stelle kaum weiter, weil Akkordfolgen sich damit nur schlecht spielen lassen.
Beispiel 3: Ich erinnere ein Interview mit Tortelier, der meinte, man könne ein Stück nur sinnvoll interpretieren, wenn man die harmonische Struktur verstanden habe. Mag sein, aber auf wie viele Musiker trifft das zu? Ab welchem Niveau gilt das? Die meisten der Amateurmusiker spielen doch einfach nur die Noten und hören sich allenfalls begleitend Aufnahmen an, um zu hören, wie das klingen soll oder kann.
Beispiel 4: Meine Frau spielt nach etlichen Jahren klassischem Klavier Keyboard in einer Kirchen-Band (das Typische: Begleitung vom Chor, daneben aber auch normale Pop-Musik von den Beatles bis heute). Totale Umgewöhnung war nötig: Weg von den Noten, hin zum Lead-Sheet. Bis heute hat sie keine Ahnung davon, welche Akkordfolgen warum hintereinander kommen und regelmäßig sitzen wir bei neuen Stücken zusammen und fragt sie mich alles Mögliche. Ich komme ihr dann mit Subdominante, Dominante, Tonikaparallele usw. und versuche ihr zu erläutern, dass das nicht immer alles neu ist, sondern einfach dasselbe Prinzip in einer anderen Tonart. Sie antwortet, sie will einfach nur wissen, wie man das spielt und ist glücklich, wenn ein Musikerkollege ihr erläutert, dass sie die Terz in der rechten Hand weglassen sollte, wenn die Terz in der Basslage ist. „Hör mir auf mit deiner Harmonielehre“, sagt sie mir. „Mich interessiert nur, wie ich das spiele.“
Ist Harmonielehre für nichtprofessionelle Musizierende also sinnlos?