Symphonien - was sind sie, was müssen sie bieten und weshalb lieben wir sie so?

  • Ich halte es für eine eher "originelle" These.
    Zum einen ist die Wichtigkeit des ersten Satzes untrennbar mit der Sonatenhauptsatzform verbunden. Es gab keine Sinfonie mit einem "unwichtigen" ersten Satz (vielleicht mal als Einzelwerk, es wurden noch von Haydn mitunter schon anderswo verwendete Einzelsätze manchmal zusammengestellt, da konnten so etwas natürlich mal vorkommen). Und wenn man (fragwürdig) die Orchestersuite des Barock als Vorläufer nimmt, ist die "Dysbalance" noch viel größer. Das Problem ist, dass Seliger ein "Problem" aus dem späteren 19. Jhd. (oder vielleicht teilweise schon bei Beethoven) zurückprojiziert. In der Klassik vor 1800 ist die (relative) "Kopflastigkeit" fast aller mehrsätziger Sonaten kein bug, sondern ein feature. (Die "Ausnahmen", also Kopfsätze ohne Sonatenform finden sich hauptsächlich in der Kammermusik, da auch insgesamt selten, eine Abfolge wie Mozarts KV 331 (Variationen, Menuett, alla turca) ist in der Klaviersonate oder Duo/Trio selten, aber möglich, im Quartett vermutlich exotisch, in der Sinfonie fast undenkbar. Selbst die Sinfonien Haydns, die mit langsamem Satz starten, wie 22 oder 49 haben dann einen Sonatensatz an #2, die Quartette allerdings nicht immer (in op.9 und 17 Variationen-Menuett-adagio-Finale, in op.55/2 Variationen-Sonatensatz-Menuett-Finale.)

    Zum anderen ist die Eroica m.E. ohne Zweifel extrem kopflastig, da sie den gewichtigsten Kopfsatz und den gewichtigsten langsamen Satz ALLER Beethovensinfonien hat. Und anders als in der 9. hat Beethoven eben keine vergleichbar umfangreichen und gewichtigen Scherzo+Finale komponiert. Sie ist ein ganz schlechtes Beispiel für die ohnehin fragwürdige These... Die Balance und die Proportionen der Eroica sind traditionell (nur halt alles fast doppelt so lang), mehr als in der Jupitersinfonie. Wobei ich es auch für sehr fragwürdig halte, letztere als "Finalsinfonie" i.S. von Beethovens 5. und 9. zu sehen. (Es ist halt eine Sinfonie mit einem ungewöhnlich anspruchsvollen und langen Finale, das aber einen Finaltyp aufgreift, der bei Joseph und Michael Haydn schon auftritt und m.E. keineswegs auf das Finale zielt wie Beethovens 5. oder Mahlers 2. oder was weiß ich.)
    Was man selbst bei den "Finalsinfonien" immer auch berücksichtigen muss, ist, dass meistens der Kopfsatz dennoch der dichteste und komplexeste Satz ist. Die "Auflösung" im Finale bringt durch die Kongruenz von Form und Inhalt normalerweise eine lockerere Gestaltungsweise mit sich. Das ist sehr deutlich in Beethovens 5. Das Finale ist das Ziel, aber natürlich ist der Kopfsatz viel dichter, wenn auch kürzer.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Das müsste dann für den letzten auch gelten.
    Und hat ein Stück drei Sätze, wäre der zentrale natürlich auch von sich aus hervorgehoben.
    :pfeif:

    sicher, ich finde ja den Text auch nicht so toll, wollte nur erläutern, was der Autor wohl meint.

    Der Text spitzt m.E. seine Thesen arg plakativ zu, auch wenn ich ihm in Einzelpunkten zustimmen würde. Ob die Eroica "zielgerichtet" auf den letzten Satz hin konzipiert wurde, dürfte strittig sein, Adorno z.B. findet es rätselhaft, daß Beethoven im Finale die Verpflichtung des ersten Satzes nicht gefühlt habe. Ich finde schon, daß man das Eroicafinale als dem 1. Satz ebenbürtig hören kann, wenn man mit dem hymnisch-humanistischen Ton mitgeht.

    Die spezifischen Aussagen von Seliger (das Finale nimmt die Probleme der vorhergehenden Sätze auf etc.) hätte ich allerdings gern näher ausgeführt.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • So skeptisch ich ggü. einer zu engen Prometheus-Deutung bin (und das Buch darüber habe ich nicht gelesen), halte ich es doch für plausibel, dass das in fast jeder Hinsicht ungewöhnliche (wenn auch prima facie eher "zu leichte") Finale der Eroica in diesem Deutungsrahmen verständlicher gemacht werden könnte.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ich empfinde das Eroica-Finale nicht als "zu leicht" - aber daß es, bei aller Kunstfertigkeit und formaler Innovation als Variationssatz mit fugierten und freien Elementen, "entspannter" daherkommt als 1. und 2.Satz, ist wohl kaum zu bestreiten, allein: wenn man von einer Art "Gesamtdramaturgie" der Symphonie ausgeht, kann es ja garnicht anders sein, als dass die "Lösung" der aufgebauten Spannungen entspannter, ja womöglich sogar "leichter" daherkommt. Insofern ist der Gegensatz zwischen "heiterem Kehraus" und "Auflösung der vorher aufgebauten Spannungen" garnicht so gewaltig.. ?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ich empfinde das Eroica-Finale nicht als "zu leicht"

    ich ooch nicht. U.a. - unter Vorauussetzung, Beethoven-S3-Final-Chose als Variantionssatz sich reinzuziehn - weil letzte (?) Variation (2. Thema mit dem Blech) doch äußerst beschwörend- ernst rüberkommt - dazu braucht man diese nicht mal wie die "Götterhämmerung" :D (Zitat Gielen) zu gestalten - und dann schier auseinander dröselt/bricht ...

    kann es ja garnicht anders sein, als dass die "Lösung" der aufgebauten Spannungen entspannter, ja womöglich sogar "leichter" daherkommt. Insofern ist der Gegensatz zwischen "heiterem Kehraus" und "Auflösung der vorher aufgebauten Spannungen" garnicht so gewaltig.. ?

    deine " " machen eigentlich deutlich, dass gleichfalls anschließendes Presto (als letzte Variation ?) einen nicht als Lösung, lediglich eher als Versuch derselben rüberkommt......

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Ich finde das Eroica-Finale auch nicht unpassend. Aber es ist m.E. völlig abwegig, dass die Eroica auf das "Finale zielt" (wie die 5.) oder dass das Finale an "Gewicht" es mit dem Kopfsatz (oder sogar dem Trauermarsch) aufnehmen könnte. Für das, was Seligers These zu sein scheint (Lösung des "Finalproblems"), ist die Eroica m.E. einfach kein Beleg. (Ist aber auch egal, denn die These ist ja eh fragwürdig.) Die Eroica ist eher eine Zuspitzung der "Kopflastigkeit" als eine Relativierung oder gar Auflösung derselben.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • vielleicht kann man das Eroicafinale als so eine Art Vorform-Parallele zum letzten Satz der 9. hören:

    zuerst so ein Schreckensmoment, das alles Vorhergehende quasi wegfegt, dann das Baßthema in der Funktion von "O Freunde, nicht diese Töne", darauf aufbauend dann der Hymnus an die Humanität, und dieser variiert. Nach dem Eintritt des vollen Themas erwarte ich eigentlich keine weitere Lösung mehr, die Variationen sind quasi die Ausbreitung der Lösung.

    Insofern würde ich auch sagen, die Eroica ist nicht von vornherein "zielgerichtet", aber im Nachhinein spielt das Finale doch auf einer "höheren Ebene".

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!