Gesamteinspielungen ... gibt's die überhaupt?

  • Gesamteinspielungen ... gibt's die überhaupt?

    Im Kontext des neuen allgemeinen Beethoven-Threads untergekommen ist mir die Frage nach den "Gesamtaufnahmen" zu einem Komponistennamen ... oder nach den "Gesamteinspielungen" oder Integralen - da weiß ich allerdings noch nicht einmal mit letzter Sicherheit, ob ich das Fremdwort erfunden habe respektive seit Langem falsch anwende. Gut, es hat sich noch niemand daran gestört. Englisch und Französisch klingt da irgendwie pointierter: Complete Edition, Oeuvre Intégrale.

    Ich denke hier wohlgemerkt nicht an wissenschaftliche Bestandsaufnahmen, nicht an das Köchelverzeichnis und all seine Neuauflagen. Nicht an Hess, Kinsky-Halm, Kafka ( =O ?( ) bei Beethoven. Nicht an Burghauser, Wotquen, Hoboken oder all die <n>WVs.

    Nein, ich denke nur an Tonträger.

    Sind solche Integralen möglich? Wann sind solche möglich? Wann nicht? Ist alles nur eine Frage der Zeit oder des Forschungsstandes? Wo fängt der Etikettenschwindel an? Welche Rolle spielt die Wahl der Interpreten und Labels für den Rang einer Integrale?

    Wann dürfen wir mit einer Gesamtaufnahme aller Werke von Georg Friedrich Telemann rechnen? Oder warum nie?

    Schade, dass es nicht immer so einfach ist wie im folgenden Kasus, wo man eine komplette Scheibe vielleicht noch nicht einmal benötigt hätte. Oder gibt es auch da einen Pferdefuß?

    (Der Preis scheint einer Gesamteinspielung mittlerweile angemessen. Mon Dieu ...)

    Herzliche Grüße von Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Das größte Problem einer Complete Edition ist natürlich das Notenmaterial des betreffenden Komponisten: was wurde veröffentlicht, was liegt als Manuskript vor, welche Skizzen sind erhalten, wie weit sind sie spielbar oder müssen überarbeitet werden. Danach richtet sich eine Gesamteinspielung.

    Aber die Wahrheit ist: wirklich vollständig kann sie nur dann sein, wie weit man den Anspruch der Vollständigkeit halt gelten läßt. Bei Webern reicht opp. 1-32, bei Mozart alle KV Nummern, die als authentisch gelten, bei Bruckner alles regulär Veröffentlichte usw. Aber es ist sehr verschieden und somit spezifisch.

    Nur als Beispiel: Mozart gab es 1991 als 180-CD-Box von Philips mit der umfangreichsten Werkschau bis dato; Brilliant Classics hatte 2011 eine Box mit 170 CDs veröffentlicht, in der einige der Fragmente fehlen, die in der Philips-Box drin sind. Dennoch würde ich die Brilliant-Box auch als "vollständig" bezeichnen, weil alles Gängige und Zugeschriebene vorhanden ist. Man kann sich immer über Details auslassen, aber in manchen Fällen - und Mozart gehört dazu - ist eine exakte Auflistung der authentischen Werke einfach nicht möglich. Bach ist auch so ein Fall, wenn auch nicht so komplex wie bei Mozart.

    Was ich damit sagen möchte: der Begriff Vollständigkeit ist ein relativer Begriff in diesem Kontext, und man sollte nicht so extrem präzsie sein, wenn das Eine oder Andere fehlt. Es sind ohnehin zumeist fragmentarische Werke oder Skizzen.

    Blöd wird es natürlich, wenn z.B. in der Beethoven-Box die Missa Solemnis fehlt... :cursing: Die Box darf man dann auch als unvollständig bezeichnen... :D

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Sind solche Integralen möglich? Wann sind solche möglich?

    Schwierig, schwierig.

    Gesamtaufnahmen sind relativ möglich. Relativ zu den Werken, die man vom jeweiligen Komponisten kennt, und relativ zu den Werken des jeweiligen Komponisten, die überhaupt verlegt sind.

    Eine Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten? Gibt es nicht. Es gibt zu viele Kantaten, von deren Existenz man weiß, von denen man aber kein vollständiges Notenmaterial hat.

    Hier heißt Gesamtaufnahme offenbar: Vollständig bzgl. der Anzahl der Kantaten, zu denen man ein vollständiges Aufführungsmaterial hat. (Was schon mal Kantaten mit rekonstruierten Sätzen wie BWV 190 zu Problemfällen macht.)

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hier heißt Gesamtaufnahme offenbar: Vollständig bzgl. der Anzahl der Kantaten, zu denen man ein vollständiges Aufführungsmaterial hat.

    Und sobald in irgendeinem Archiv verloren Geglaubtes sich findet, ist eine Gesamtaufnahme keine Gesamtaufnahme mehr. Ich weiß, das ist trivial, aber es mußte nun einmal gesagt werden.

    :tee1:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Danke für Eure Beiträge!

    Kurz zu meiner aktuellen Strawinski-Erfahrung.

    Die folgende dürfte die bislang vollständigste Sammlung sein. 30 CDs sind es geworden.

    Sie enthält Doppelungen des Violinkonzerts dank der zusätzlichen historischen Einspielung mit dem Solisten der Uraufführung, Samuel Dushkin, und weniger anderer Kompositionen. Die Geschichte vom Soldaten findet sich in englischer und französischer Fassung. Zwei Versionen des Sacre wurden ebenfalls einbezogen sowie eine für Klavier zu vier Händen.

    Von den gewählten Einspielungen lässt eigentlich keine einzige wirklich interpretatorisch oder klanglich zu wünschen übrig; die wenigsten sind nicht in Stereo-Qualität entstanden.

    Es sind nicht alle Versionen diverser Kompositionen enthalten, die Strawinski zum Teil mehrfach bearbeitet hat, andererseits die hübsche Pastorale in drei Fassungen - es gibt noch weitere, aber was soll's.

    Und doch vermisse ich eine Komposition, die erfreulicherweise in der folgenden 22-CD-Box auftaucht. Diese Feststellung habe ich jetzt ganz aktuell zu Weihnachten gemacht.

    Es handelt sich um die Variationen über "Vom Himmel hoch, da komm' ich her", nach Bachs Orgelvariationen, für gemischten Chor und Orchester.

    Komponiert nach 1950, entstand die Aufnahme des Werks in Toronto 1963. Strawinski hat ja in nicht geringer Zahl - und als umstrittener Dirigent - etliche seiner Kompositionen im hohen Alter veröffentlicht.

    Warum wurde sie - oder vielleicht eine andere Einspielung - in der DG-Produktion weggelassen? Ich weiß es nicht, habe aber auch noch nicht recherchiert und kenne das Original nicht wirklich. Weil es sich um eine Fremdinstrumentierung handelt? Der Text von Bachs Vorlage dürfte nicht unverändert gelassen worden sein; das habe ich auch gelesen, abgesehen davon, dass man den Stil des Russen ohne Wenn und Aber erkennt. Die spezifische Uminstrumentierung allein dürfte dies nicht möglich machen. Oder tatsächlich? Wie gesagt: Ich habe das Original nicht im Ohr, was ich bei Gelegenheit ändern will.

    Worauf ich hinaus will: Selbst wenn man das Werk deswegen weggelassen hat, weil es eine Bearbeitung darstellt und wohl auch eine deutlich engere als etwa im Falle der Pulcinella-Suite, so halte ich doch diese Entscheidung für falsch. Denn Strawinskis Version ist nicht nur unverwechselbar, sondern meines Erachtens in keiner Weise nebensächlich, zweitrangig, nicht einmal weitgehend unbekannt.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Eine Erklärung warum Strawinskys Choralvariationen "Vom Himmel hoch" nicht in der DGG-Box nicht enthalten sind kann ich nicht geben. Zumindest gibt es bei Philips eine Aufnahme dieses Werkes mit Seiji Ozawa:

    (AD: Okotober 1989, April 1990 & Oktober 1990, Symphony Hall, Boston)

    Zumal sich in der DGG-Box mit dem Divertimento aus dem Ballett "Der Kuss der Fee" eine urspr. Philips-Aufnahme befindet, siehe hier bzw. auch hier enthalten:

    (AD: September 1990, Salle Pleyel, Paris)

    Somit wäre es meiner Meinung nach kein Problem gewesen, die Ozawa-Aufnahme auch noch in die DGG-Box aufzunehmen. Auf die knapp 10 Minuten wäre es sicherlich nicht angekommen.

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Dank auch Dir, Lionel!

    Meinem Reclam-Musikführer zu Strawinski (Autor: Wolfgang Burda) entnehme ich im Übrigen, dass die Choral-Variationen als Addendum zur Kantate "Canticum sacrum (ad honorem Sancti Marci nominis)" für die vom Komponisten 1956 dirigierte Uraufführung gedacht waren, um das zwanzigminütige geistliche Werk adäquat zu erweitern. Die Kantate ist in Reihentechnik komponiert und (natürlich) in der DG-Integrale (in einer Einspielung mit Simon Preston als Dirigenten des Philip Jones Ensemble mit zwei Gesangssolisten und Chor) enthalten. Man hätte die Choralvariationen quasi integrieren können, obgleich der Platz auf der entsprechenden CD nicht mehr gereicht hätte. Auf der nächsten Chor-Scheibe wäre aber genügend Platz gewesen. - Die Sammlung ist zunächst nach Gattungen und dann chronologisch geordnet ...

    Aber all das ist nun kein Argument in irgendeine Richtung ...

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Also mir war Brahms damals so wichtig, dass ich zusätzlich zur Gesamteinspielung noch einige Bearbeitungen gekauft habe, also zB. die 4 händigen Sinfonien. Oder die Klavierstudien, die damals eigentlich nirgends vorkamen.
    Letztendlich muss man die Frage nach Vollständigkeit selbst für sich beantworten, braucht man wirklich jeden Takt auf Tonträger? Von welchem Komponisten? Ist das bezahlbar? Platz? Zeit? Also die üblichen Fragen... :)

  • Ich kann es jetzt nicht beschwören, aber kann es sein, daß in der Strawinsky-Box von der DG wirklich nur DG-Einspielungen sind - und eben keine Übernahmen von der Decca bzw. Philips? Das würde vielleicht erklären, weshalb diese Einspielung fehlt. (Ohne Frage ist das eigentlich uninteressant, weil die Labels alle nun zu Universal gehören, doch es kann sein, daß doch eine Trennung vorgenommen wird.)

    Nur als Beispiel: die Ozawa-Box links von der DG enthält auch nur DG-Aufnahmen; die Decca-Aufnahmen sind dagegen alle rechts zu finden - inklusive der Choral-Variationen.

    Es kann sein, daß manche Complete Editions sich nur auf das beziehen, was der eigene Label-Katalog hergibt; möglich, daß es auch bei der Strawinsky-Box ist.

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

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  • Zitat von Josquin Dufay

    Ich kann es jetzt nicht beschwören, aber kann es sein, daß in der Strawinsky-Box von der DG wirklich nur DG-Einspielungen sind - und eben keine Übernahmen von der Decca bzw. Philips? Das würde vielleicht erklären, weshalb diese Einspielung fehlt. (Ohne Frage ist das eigentlich uninteressant, weil die Labels alle nun zu Universal gehören, doch es kann sein, daß doch eine Trennung vorgenommen wird.)

    Von Label-Politik verstehe ich herzlich wenig, aber im Quellen-Verzeichnis am Ende fällt der Name DECCA - und kein weiterer jeweils - bei den Einzelwerken dann doch recht häufig. Diverses ist entweder von der DG erstveröffentlicht oder bereits vor Erscheinen der Integrale von der DG lizenziert worden. Wenige andere Label-Namen erscheinen ebenso.

    Im Übrigen habe ich dank des Reclam-Bandes einen recht klaren Überblick über Strawinskys Schaffen. Und mir scheint - beschwören kann ich das natürlich nicht - schon eine bemerkenswerte Vollständigkeit gegeben, abgesehen eben von gewissen Versionen in anderer Besetzung.

    Das Phänomen, welches Josquin Dufay bezüglich Seiji Ozawa benannt hat, ist mir durchaus geläufig. Da unterschlägt das jeweilige Label halt gerne die Hälfte der Wahrheit oder verweist sie ins Kleingedruckte. :P

    :cincinbier: Wolfgang

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  • Ich kann es jetzt nicht beschwören, aber kann es sein, daß in der Strawinsky-Box von der DG wirklich nur DG-Einspielungen sind - und eben keine Übernahmen von der Decca bzw. Philips? Das würde vielleicht erklären, weshalb diese Einspielung fehlt. (Ohne Frage ist das eigentlich uninteressant, weil die Labels alle nun zu Universal gehören, doch es kann sein, daß doch eine Trennung vorgenommen wird.)


    In der DGG-Strawinsky-Box befinden sich nicht ausschl. DGG-Aufnahmen. Die Bychkov-Aufnahme mit dem Divertimento aus "Der Kuss der Fee", die urspr. bei Philips erschien, hatte ich bereits genannt. Ich habe diese DGG-Box nur mal stichprobenweise durchgeschaut und da gibt es einige Aufnahmen, die urspr. bei anderen Labeln erschienen sind. Die meisten stammen aber schon von der DGG und ansonsten von Universal.

    Einige Beispiele:
    - Philips: Werke für Violine und Klavier mit Isabelle van Keulen und Olli Mustonen, Chorwerke mit de Leeuw, L'Historie du soldat mit I. Markevitch, Klaviersonate mit P. Crossley
    - Decca: Renard, Apollon musagète, Norwegische Impressionen mit R. Chailly, Orchesterwerke und Werke für Klavier und Orchester mit Mustonen, DSO Berlin und Ashkenazy, Petruschka mit Ansermet
    - ECM: Kammerorchesterwerke mit Russell Davies
    - Melodiya: Mavra mit Roshdestwensky
    - Virgin: Persephone mit K. Nagano
    - Koch/Naxos: Aufnahmen mit R. Craft
    - EMI: "Happy Birthday" mit LPO und C. Mackerras (ok, ist ein kleines Werk, das aber anscheinend nicht im Universal-Katalog existiert)

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • nochmals: Strawinski nach Bach: Vom Himmel hoch ...

    Mittlerweile habe ich mir das Bach'sche Original zu Gemüte geführt und kann hier überdies auf eine kleine Beschreibung verweisen:

    https://de.scribd.com/document/39869…ich-her-pdf-pdf

    Was ich vermutet habe, wird klar. Strawinskis Komposition ist mehr als eine reine Transkription der Vorlage, auch wenn sie sich natürlich hochgradig daran orientiert.

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  • Es wird fast immer strittige Fälle geben. [Stravinsky "Vom Himmel hoch..." sehe ich eher nicht als strittig, und es ist auch in der Sony Stravinsky Edition dabei] So wurde neulich anderswo angesprochen, dass in einer der heurigen Beethoven-Editionen anscheinend "op.64" (Bearbeitung des Streichtrios op.3 als Cellosonate) fehlt. Wie bei einigen anderen Stücken ist umstritten, ob es eine Bearbeitung von Beethovens eigener Hand ist und ob solche Zweifel einen Ausschluss rechtfertigen, da die Publikation mit Opusnummer mindestens anzeigen dürfte, dass Beethoven die Bearbeitung "abgesegnet" hat, selbst wenn er sie nicht selbst erstellt hat.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

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