Wann ist eine Aufnahme historisch?

  • Wann ist eine Aufnahme historisch?

    Viele von euch wissen sicherlich, daß ich ein Faible für alte Schellackaufnahmen habe und regelmäßig über CD-Überspielungen berichte. Dabei kam mir vor Kurzem sehr deutlich ein Aspekt zum Vorschein, den man in der üblichen Weise bisher nie anders verwendet hat: daß nämlich "historische Aufnahmen" stets solche sind, die eben vor Stereo (und explizit vor Tonband) entstanden sind.

    Die frühesten Tonband-Aufnahmen, die man als regulären Industrie-Standard bezeichnen kann, entstanden Ende der 1940er Jahre - ab gut 1950 begannen alle Labels zunehmend, ihre neuen Aufnahmen nur noch auf Band vorzunehmen; spätestens 1953 gab es kein Label mehr, welches auf Matrizen mitschnitt. Der Stereo-Standard wurde ab 1953 realisiert, und 1958 gab es keine Aufnahmen klassischer Musik, die nicht wenigstens stereophonisch aufgezeichnet worden war. Allein der Sprung von Matrizen zu Tonband war klangtechnisch gewaltig, der von Mono zu Stereo wird sogar als wichtiger erachtet.

    Was mir in den letzten Wochen aufgefallen ist, daß sehr viele Aufnahmen empfohlen werden, die häufig aus der Frühzeit der modernen Klangtechnik stammen (also 1950/1960er Jahre). Und da wunderte ich mich doch einige Male: klangtechnisch sehr gut sollen sie sein, interpretatorisch unübertroffen, eine Jahrhundert-Aufnahme gar, die so nicht noch einmal machbar ist usw. usf. etc. ...

    Ich will gar nicht auf die Klangtechnik als solche eingehen, noch weniger auf die Interpretation - ich interessiere mich eher für den Aspekt des Alters, denn inzwischen gibt es da ein Mißverhältnis, welches vor 20-30 Jahren gewiß noch nicht relevant war.

    Eine Aufnahme von vor 1960 ist schlicht sechzig Jahre alt! Bei allem Vermögen der Technik und der Künstler frage ich mich, ob man nicht allmählich bereit sein sollte, eine solche Aufnahme auch als "historisch" zu bezeichnen, eben weil sie ein stolzes Alter hat. Wie gesagt: es berührt die Qualität der Einspielung direkt nicht, aber ihre Einordnung sollte dem Kontext der Rezeption folgen, die auch immer ein zeitgebundenes Phänomen ist.

    Dabei habe ich mit sechzig Jahren nur ein Beispiel als Grenze genannt - ich persönlich würde sie sogar ab fünfzig Jahren ziehen wollen, was aber für niemanden sonst gelten muß. Ich möchte nur mal zur Diskussion stellen, daß wir über eine geballte Hörerfahrung verfügen, die inzwischen eine gewaltige Spannbreite umfaßt. Und immerhin ist 50-60 Jahre ein sehr langer Zeitraum, wenn wir es mal auf das Thema Aufführungspraxis beschränken; gerade der Bereich der Alten Musik ist in dieser Zeit gewaltigen Verwerfungen unterworfen gewesen.

    Wie seht ihr das? Ist eine historische Aufnahme immer noch das, was sie früher war: eine dumpfe, knackende Angelegenheit mit diffuser Klangqualität? Oder inzwischen auch etwas apart Klingendes?

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Zitat

    Wann ist eine Aufnahme historisch?


    Schöne Frage!

    Bei Oldtimern ist's einfach: Ab 30 Jahren.

    Als ich 1988 mit dem Kaufen von Aufnahmen klassischer Musik begonnen habe, schwang für mich mit dem Etikett "historische Aufnahme" so etwas mit wie "mindere Tonqualität, aber künstlerisch von derart besonderer Bedeutung, dass sie trotzdem nochmal neu aufgelegt wird".

    Karajans 1962er Beethoven-GA hätte ich nicht als historisch angesehen, aber ich gebe Dir Recht: Heute ist sie für mein Empfinden historisch.

    Ferner meine ich, dass nicht alles, was da aus irgendwelchen Archiven hervorgekramt wird, eine künstlerisch besondere Bedeutung hat. Dokumentarisch bestimmt, aber das ist eine andere Frage.

    Vielleicht gehört zu einer historischen Aufnahme, die man sinnvollerweise als solche bezeichnete, auch eine gewisse Art der Interpretation dazu, die man "heute nicht mehr so machen würde". Oder?

    Kleibers Tristan (1980) und Bernsteins Wiener Beethoven (Ende 1970er) würde ich bspw. (noch) nicht historisch nennen, aber Harnoncourts erste Mt-Passion von 1970 wäre es in doppeltem Sinne (weil auch mit historischen Instrumenten).

    Schwierig.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • eine Vergabe des Etiketts "historisch" rein aus Gründen des alters halte ich nixcht so für sinnvoll, es sollte die Bedeutung mit dabei sein, daß der aktuelle Standart an Klangqualität seither einen qualitativen Sprung gemacht hat. Sonst wirds nichtssagend.

    Bei Videos auf yt empfinde ich inzwischen alles vor HD schon als "historisch".

    jm2c

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ob "historisch" oder nicht, hängt unter anderem wohl auch von der Perspektive des Betrachters/Hörers ab. Für mich tattrigen alten Mann, Jahrgang 1943, sind die 1950er Jahre, als meine Sinne für Musik so richtig virulent wurden, etwas, was ich noch immer als "zeitgenössisch" empfinde. Bei Jüngeren löst das verständlicherweise Kopfschütteln aus. Für die ganz Jungen ist das graue Vorzeit oder zumindest dunkles Mittelalter. Wäre ja auch komisch, wenn nicht.

    Eine präzise Grenze zu ziehen, bleibt freilich stets schwierig, egal, wann und, wo und wie man sie ansetzt. Übergänge sind fließend und schwammig, das ist nun einmal so. Vollends kompliziert wird es, wenn wir auch noch Modernismen (die zuerst echolos bleiben) und Nachleben einbeziehen, von bewußten Rückgriffen ganz zu schweigen. Jede Generation hat da klarerweise andere Vorstellungen über das Vergangene. Natürlich verschieben sich diese Übergänge auch immer automatisch, wenn die Zeit fortschreitet. Zusätzlicher Gedanke: Dürfen wir uns bei dem Problem auf Technisches beschränken? Spielen nicht Stil und solche Faktoren auch eine entscheidende Rolle?

    Die Übergangsphase von Mono zu Stereo hat sicher den praktischen Vorteil, daß damit wenigstens auf länger eine bestimmte Zeitspanne fixiert ist. Trotzdem: Miese Aufnahmen gab es auch später und hervorragende Aufnahmen auch schon früher. Alles ist also relativ. daher wird es auch vermutlich immer wieder Diskussionen über dieses Thema geben, wogegen auch gar nichts zu sagen ist. Es wird aber stets problematisch bleiben, individuelle Empfindungen in dieser Hinsicht allzu sehr zu normieren.

    Aber für eine Diskussion macht ein solches Thema zweifellos Sinn und Spaß. Also Dankeschön an JD!

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Moin,

    ich habe da drei Kategorien:
    1. historisch informiert -> das kann auch modern klingen, modern aufgenommen sein
    2. historisch interpretiert -> aus der Mode gekommen, z.B. langsame Beethoven Symphonien
    3. historisch = suboptimale Aufnahmequalität

    Ich vermute mal, dass der Punkt 3. hier hauptsächliches Thema sein soll. Für mich liegt die Grenze irgenwo zwischen den 50er und 60er Jahren. Mono ist auf jeden Fall historisch. Alles, wo ich denke "das könnte so im Konzertsaal" geklungen haben, ist nicht mehr historisch. Alles mit Maria Callas nenne ich historisch. Aus den 60ern gibt es dann schon sehr gute (=realistische) Aufnahmen, aber die Grenzen sind fließend.

    Helli

  • Z. B. Tosca mit Callas unter der Leitung von Victor de Sabata aus dem Jahre 1953 ist für mich eindeutig historisch. Alle 22 Opern aus den Jahren 1952 bis 1957 welche ich mit der Callas habe erachte ich als historisch.

    Kurt

  • 1. historisch im negativen Sinne wie "nur noch historisch interessant"
    2. historisch im emphatisch-positiven Sinne, "diese Interpretation ist ein Meilenstein" o.ä., jedenfalls nicht nur im Sinne von 1. historisch interessant
    3. historisch bzgl. der Klangqualität.

    Normalerweise meine ich eine Kombination von 2 und 3. (Und normalerweise ist ja allein die Tatsache, dass eine Aufnahme zB auf CD erhältlich ist, ein Anzeichen dafür, dass ein paar Leute sie trotz der Tonqualität für hörenswert i.S.v. 2. halten.)

    Was meint man mit historischer Klangqualität? Es ist natürlich nicht besonders genau bestimmt. Ich meine damit normalerweise "schlechter als typische Stereo-Aufnahmen ab Ende der 1950er". Wobei ich bei einem Mitschnitt oder aus anderen Gründen klanglich nicht so guten Aufnahme, die aus den letzten 60 Jahren stammt, normalerweise genauer beschreiben würde, worin die Einschränkungen bestehen. So ähnlich wie ich umgekehrt häufig eine besonders gut empfundene Klangqualität einer Mono- oder Vorkriegsaufnahme explizit nennen würde.
    Ansonsten höre ich tatsächlich keine so eindeutig-konsistenten Verbesserungen zwischen frühen Stereo-Aufnahmen und aktuellen, dass ich da einen festen Unterschied machen wollte. Natürlich klingen die besten und vermutlich auch die durchschnittlichen aktuellen Aufnahmen besser, aber noch für die 1980er/90er sehe ich das ggü. den 1960ern nicht unbedingt so, daher wüsste ich eh nicht, wo ich die Grenze ziehen wollte.

    Schreiber verwendet in seinem Plattenführer aus dem Ende der 1970er "m" für Mono-Aufnahmen nach der Schellackzeit, und "h" für Schellackaufnahmen bzw. solche, die aus anderen Gründen nicht die typische Klangqualität von "m" erreichen.

    Aber solche pauschalen Einteilungen sind immer problematisch, zumal meiner Erfahrung nach die Unterschiede zwischen den besten (und den besten Überspielungen) und durchschnittlichen oder typischen Aufnahmen größer werden, je weiter man zurückgeht. Bei einer Aufnahme aus den 60ern oder 80ern muss schon etwas einigermaßen schief gelaufen sein, damit mich die Klangqualität stört. Bei einer historischen Aufnahme ist das viel eher der Fall und kaum vorhersagbar.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Schon, aber das kann ich selbst hörend nicht nachvollziehen. Ich teile zwar nicht die extreme Verehrung einiger Audiophiler für "Living Stereo", "Mercury Living Presence", analoge Decca, Eterna LPs oder was weiß ich, aber viele analoge Stereo-Aufnahmen klingen für mich so gut wie die meisten oder typischen DDD-Aufnahmen der 80er und 90er. Im Einzelfall würde ich bei einer Empfehlung dazu sagen/schreiben, wenn ich den Klang unterdurchschnittlich (anhand der typischen Qualität von Stereoaufnahmen der letzten 60 Jahre fände.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Interessante Fragestellung und ja nun wahrlich nicht leicht zu beantworten. Und das bei einem Begriff, den man ständig benutzt, ihn im Hinterkopf hat und nach dem man ja auch immer wieder Aufnahmen beurteilt.

    Persönlich würde ich einerseits eigentlich auch die Grenze zwischen Mono und Stereo ziehen, andererseits (Achtung Widerspruch. :D ) sind die Aufnahmen mit der Callas oder andere aus der Zeit für mich keine historischen. Historisch beginnt für mich wohl mit dem Kriegsende und geht dann rückwärts bis zum Jahrhundertanfang. Aber das ist mehr ein Gefühl, vielleicht auch, weil für mich 1945 einfach die Zäsur ist.

    Letztlich wird man das wohl nicht genau festlegen können. Aber vielleicht kann man 'historische Aufnahmen' aus einer anderen Richtung kommen, definieren.

    Was mir gerade durch den Kopf spukt, ist, ob man nicht alle Aufnahmen so bezeichnen sollte, deren beteiligte Interpreten oder jedenfalls die wichtigsten, aus rein physischen Gründen (also Tod), nicht mehr in der Lage sind, das Werk noch einmal einzuspielen. Die Aufnahme steht also da als Vermächtnis, unveränderbar, nicht wiederholbar *, endgültig. Und damit wäre sie vielleicht eine historische.

    * Damit meine ich natürlich, dass sie durch die selben Interpreten nicht verbesserbar, korrigierbar oder in ähnlicher Form bei einer weiteren Aufnahme neu interpretierbar ist.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • ...
    Was mir gerade durch den Kopf spukt, ist, ob man nicht alle Aufnahmen so bezeichnen sollte, deren beteiligte Interpreten oder jedenfalls die wichtigsten, aus rein physischen Gründen (also Tod), nicht mehr in der Lage sind, das Werk noch einmal einzuspielen. Die Aufnahme steht also da als Vermächtnis, unveränderbar, nicht wiederholbar *, endgültig. Und damit wäre sie vielleicht eine historische.

    * Damit meine ich natürlich, dass sie durch die selben Interpreten nicht verbesserbar, korrigierbar oder in ähnlicher Form bei einer weiteren Aufnahme neu interpretierbar ist.

    Das wäre auch mein Vorschlag zur Definition einer „historischen Aufnahme“.

    Schwierig wird es allerdings bei Ensembles, wenn zwar ein oder mehrere Mitglieder bereits verstorben sind, die anderen aber weiterhin auftreten (Beispiel: Friedemann Weigle vom Artemis Quartett). Nimmt man aber die Rolle des Ensemblemitglieds ernst und konstatiert, dass sie nicht schlicht ersetzbar ist, ohne dass es einen Unterschied ausmacht, würden die Fälle aus den von Wolfram in der Fußnote genannten Gründen unter den Definitionvorschlag fallen.

    Vielleicht sollte man ihn noch auf die Fälle erweitern, in denen die Ensemblemitglieder (hoffentlich) noch leben, aber nicht mehr gemeinsam auftreten (Beispiel: Beaux Arts Trio). Die oben genannten Gründe treffen auch auf diese Fälle zu.

    Klar ist, dass der Definitionsvorschlag absurd wird, wenn man große Ensembles betrachtet. Eine im Dezember 2019 entstandene Aufnahme würde ich auch nicht als „historisch“ bezeichnen wollen, wenn das eine oder andere Orchestermitglied inzwischen eine andere Stelle angenommen hat, in Rente gegangen, oder gar verstorben ist. Hier muss man allerdings fragen, warum man sich überhaupt Gedanken um die „historische“ oder „rezente“ Qualität einer Aufnahme macht. Wenn es einem bei einer Aufnahme im Wesentlichen auf die Teilnehmer ankommt, die typischerweise im Begleitheft genannt werden, spielen diese Fälle keine Rolle. Wenn es einem aber darum geht, dass z.B. ein bestimmtes Orchester einen ganz besonderen Klang der Oboe aufweist, und der Erste Oboist scheidet aus, spielen sie eine Rolle.

  • Was mir gerade durch den Kopf spukt, ist, ob man nicht alle Aufnahmen so bezeichnen sollte, deren beteiligte Interpreten oder jedenfalls die wichtigsten, aus rein physischen Gründen (also Tod), nicht mehr in der Lage sind, das Werk noch einmal einzuspielen. Die Aufnahme steht also da als Vermächtnis, unveränderbar, nicht wiederholbar *, endgültig. Und damit wäre sie vielleicht eine historische.

    Das halte ich nicht für sinnvoll. Zum einen widerspricht dies der gängigen Verwendung des Begriffs "historisch" im Kontext von Schallplattenaufnahmen. Niemand bezeichnet eine Aufnahme von Mariss Jansons, die zwei Jahre alt ist, als historisch, nur weil der Dirigent inzwischen verstorben ist. Und abweichend vom Sprachgebrauch würde man eine solche Definiton nur dann einführen, wenn man diesen so neu definierten Begriff sinnvoll einsetzen könnte, um etwa Unterscheidungen und Klassifizierungen prägnanter vornehmen zu können. Das sehe ich aber auch nicht. Jede Aufnahme, sobald sie einmal veröffentlich ist, ist nicht mehr veränderbar und wäre in diesem Sinne "historisch", egal ob der Interpret noch lebt oder nicht.

    Wenn man sich anschaut, wie der Begriff "historisch" von Plattenfirmen oder in der Besprechung von Aufnahmen gebraucht wird, dann finde ich zwei Bedeutungen: Zum einen werden sehr alte Aufnahmen damit bezeichnet, die Bedeutung wäre also hier "einer anderen Epoche angehörend", wobei diese andere Epoche nach meiner Wahrnehmung fast immer über die Aufnahmetechnik definiert ist. Es sind in der Regel Aufnahmen aus der Zeit vor Einführung der Stereo-Technik oder noch älterer Perioden (Schellack). Eine Aufnahme als historisch zu bezeichnen würde dann der Information dienen, dass man hier deutliche Abstriche bei der Klangqualität machen muss. Generell auch Aufnahmen aus der frühen Stereo-Zeit oder gar alle nicht-digitalen Aufnahmen als historisch zu bezeichnen, halte ich nicht für sinnvoll, weil die Technik in dieser Zeit schon so gut war, dass die besten Aufnahmen klanglich kaum hinter modernen Digitalaufnahmen zurückstehen. Man würde damit also Unterschiede eher verwischen als deutlich machen.

    Eine zweite Verwendungsweise von "historisch" ist die im Sinne von (historisch) bedeutend, epochemachend. Eine historische Aufnahme wäre dann eine, die Maßstäbe in der Interpretationsgeschichte gesetzt hat.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Na ja, wenn man "historisch" allein auf das Alter reduziert, dann frage ich mich, warum man nicht schlicht sagt "alte Aufnahmen", das wäre klarer und weniger geschwollen.

    Nach meiner Wahrnehmung von Geschichte sind Konrad Adenauer, Willy Brandt oder auch Helmut Kohl "historische Persönlichkeiten". Ihr Wirken hat zwar heute vielleicht noch Einfluss, aber es ist vergangen. Ich finde keine Gründe, zwar z.B. Winston Churchill als "historisch" anzusehen, die anderen Genannten aber nicht. Warum sollte das bei Schallplattenaufnahmen anders sein? Eine Digitalaufnahme Karajans stammt ebenso aus einer vergangenen Zeit wie eine unter seiner Leitung entstandene Schellack-Aufnahme. Karajan war offenbar selbst der Meinung, dass seine früheren Aufnahmen (sei es nun Schellack, Mono, früheres Stereo oder digital) nicht mehr den aktuellen Stand seiner Auffassungen und Ansprüche wiedergaben - also historisch - waren, denn warum hätte er sie sonst immer auf's Neue wiederholt.

  • Da ist ja einiges zusammengekommen:

    1. historisch informiert -> das kann auch modern klingen, modern aufgenommen sein
    2. historisch interpretiert -> aus der Mode gekommen, z.B. langsame Beethoven Symphonien
    3. historisch = suboptimale Aufnahmequalität

    1. historisch im negativen Sinne wie "nur noch historisch interessant"
    2. historisch im emphatisch-positiven Sinne, "diese Interpretation ist ein Meilenstein" o.ä., jedenfalls nicht nur im Sinne von 1. historisch interessant
    3. historisch bzgl. der Klangqualität.

    Einerseits historisch im Sinne der Interpretation, andererseits historisch im Sinne der Klangqualität.

    Ich muß zugeben, daß mir die Interpretationsfrage wesentlich schwerer fällt, da von historisch zu sprechen (auch wenn es eindeutige Fälle gibt). Wenn man z.B. Symphonien von Beethoven vergleicht, kann der Unterschied zwischen einer alten und einer neuen Interpretation durchaus marginaler ausfallen, wenn man ähnliche Maßstäbe an Spielkultur oder Konzeption anlegt; deutlicher würden sie auffallen, wenn es um die Instrumente und die Besetzungsstärke geht. Daß gewisse Sachen wie Artikulation oder Zusammenspiel auch bestimmten Moden unterworfen sind, streite ich nicht ab - aber ich halte das eher für ein Gestaltungsmittel, welches an sich zeitlos ist. Eine Interpretation an sich als historisch (überholt/interessant) zu sehen, empfinde ich als schwierig zu definieren, weil die Grenzen nicht exakt gezogen werden können.

    Bei Barockmusik sieht das sicherlich anders aus, aber dennoch würde ich nicht automatisch hingehen und alles vor einem bestimmten Zeitpunkt als überholt ansehen. Beechams 1927er Messiah war zu seiner Zeit eine moderne Interpretation, auch wenn da eine lange Tradition mitwirkte, die so nicht mehr aufrecht erhalten wird. Zumindest ist hier historisch als Epochenbegriff anwendbar.

    Aber allgemein hängt es doch an der Klangtechnik. Es stimmt: alles noch vor Stereo wird gern als historisch bezeichnet, das folgt einer gewissen Gewohnheit. Und das Niveau früher Stereo-Aufnahmen sind im Vergleich zu modernen Aufnahmen ist schon ziemlich nahe beieinander; Schellackaufnahmen unterscheiden sich sehr deutlich davon, vor allem akustische, die sogar starken Restriktionen unterworfen waren.

    Aber diese Phase entfernt sich immer mehr unserer heutigen Zeit, deshalb kam ich darauf. Mir erscheint dieser Faktor Zeit doch allmählich als wichtig. Nur als Beispiel: in zwanzig Jahren werden die frühesten Stereo-Aufnahmen bis zu 85 Jahre alt sein. Soll man sie dann immer noch als nichthistorisch bezeichnen? Und man darf nicht vergessen: parallel dazu wurden auch noch Mono-Aufnahmen angefertigt, die auch das gleiche Alter haben können.

    Wie gesagt: der Begriff historisch auf Interpretation gemünzt ist nicht gemeint; mich beschäftigt eher die Wahrnehmung älterer Aufnahmen. Mich hat es nie gestört, daß eine Schellackaufnahme historisch sein soll, doch von der Interpretation her gibt es durchaus einige Aufnahmen, die diese Bewertung einfach nicht verdienen. Daher komme ich ja auf das Alter zu sprechen.

    Und damit ist auch eine profanere Sichtweise gemeint, die gar keine Wertung negativ/positiv ausdrücken möchte, sondern nur einfach anzeigt, daß eine Aufnahme so alt ist, daß u.U. alle Beteiligten in Rente oder verstorben sind. Natürlich ist eine exakte Grenzenziehung auch nicht hilfreich, aber eine gewisse Größenordnung ließe sich schon anwenden. Die Idee einer abgeschlossenen Geschichte (siehe Jansons) sehe ich da nicht dran gekoppelt; und die Definition "alte Aufnahme" unterliegt ohnehin einem konkreten Kontext. Angela Hewitts alte Einspielung der Goldberg-Variationen stammt aus dem Jahr 1999 - aber 2015 erfolgte eine neuere... :spock1:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

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    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Normalerweise ist es aus dem Zusammenhang ja klar, was gemeint ist. Wenn jemand sehr genau oder technisch sprechen will, kann er ja zB darauf hinweisen, dass es sich um eine Aufnahme Schellack oder "1961 stereo" oder 1987 DDD oder "2017 soundsoviel bit oversampling 7.1 Surround" handelt.
    Aber normalerweise verstehen die meisten, dass "historisch" eine vage, grobe Bezeichnung für akustisch bis "Hifi-mono" oder ggf. vielleicht noch frühes Stereo ist.
    Bzgl. der Interpretation kann man natürlich viel eher ganz unterschiedlicher Meinung sein, aber hier finde ich, dass "Meilensteine", die über Jahrzehnte die Diskographie bestimmen und oft das Bild eines Werks, einer Werkreihe oder auch eines Interpreten für mehrere Generationen von Hörern geprägt haben, wie etwa Schnabels Beethovensonaten oder Tosca mit Callas/de Sabata o.ä. das Attribut "historisch" verdienen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

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