Wann ist eine Aufnahme historisch?
Viele von euch wissen sicherlich, daß ich ein Faible für alte Schellackaufnahmen habe und regelmäßig über CD-Überspielungen berichte. Dabei kam mir vor Kurzem sehr deutlich ein Aspekt zum Vorschein, den man in der üblichen Weise bisher nie anders verwendet hat: daß nämlich "historische Aufnahmen" stets solche sind, die eben vor Stereo (und explizit vor Tonband) entstanden sind.
Die frühesten Tonband-Aufnahmen, die man als regulären Industrie-Standard bezeichnen kann, entstanden Ende der 1940er Jahre - ab gut 1950 begannen alle Labels zunehmend, ihre neuen Aufnahmen nur noch auf Band vorzunehmen; spätestens 1953 gab es kein Label mehr, welches auf Matrizen mitschnitt. Der Stereo-Standard wurde ab 1953 realisiert, und 1958 gab es keine Aufnahmen klassischer Musik, die nicht wenigstens stereophonisch aufgezeichnet worden war. Allein der Sprung von Matrizen zu Tonband war klangtechnisch gewaltig, der von Mono zu Stereo wird sogar als wichtiger erachtet.
Was mir in den letzten Wochen aufgefallen ist, daß sehr viele Aufnahmen empfohlen werden, die häufig aus der Frühzeit der modernen Klangtechnik stammen (also 1950/1960er Jahre). Und da wunderte ich mich doch einige Male: klangtechnisch sehr gut sollen sie sein, interpretatorisch unübertroffen, eine Jahrhundert-Aufnahme gar, die so nicht noch einmal machbar ist usw. usf. etc. ...
Ich will gar nicht auf die Klangtechnik als solche eingehen, noch weniger auf die Interpretation - ich interessiere mich eher für den Aspekt des Alters, denn inzwischen gibt es da ein Mißverhältnis, welches vor 20-30 Jahren gewiß noch nicht relevant war.
Eine Aufnahme von vor 1960 ist schlicht sechzig Jahre alt! Bei allem Vermögen der Technik und der Künstler frage ich mich, ob man nicht allmählich bereit sein sollte, eine solche Aufnahme auch als "historisch" zu bezeichnen, eben weil sie ein stolzes Alter hat. Wie gesagt: es berührt die Qualität der Einspielung direkt nicht, aber ihre Einordnung sollte dem Kontext der Rezeption folgen, die auch immer ein zeitgebundenes Phänomen ist.
Dabei habe ich mit sechzig Jahren nur ein Beispiel als Grenze genannt - ich persönlich würde sie sogar ab fünfzig Jahren ziehen wollen, was aber für niemanden sonst gelten muß. Ich möchte nur mal zur Diskussion stellen, daß wir über eine geballte Hörerfahrung verfügen, die inzwischen eine gewaltige Spannbreite umfaßt. Und immerhin ist 50-60 Jahre ein sehr langer Zeitraum, wenn wir es mal auf das Thema Aufführungspraxis beschränken; gerade der Bereich der Alten Musik ist in dieser Zeit gewaltigen Verwerfungen unterworfen gewesen.
Wie seht ihr das? Ist eine historische Aufnahme immer noch das, was sie früher war: eine dumpfe, knackende Angelegenheit mit diffuser Klangqualität? Oder inzwischen auch etwas apart Klingendes?