Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – Nur noch ein Festtagsbraten im Konzertleben?

  • Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – Nur noch ein Festtagsbraten im Konzertleben?

    Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, op. 125 – Zur gegenwärtigen Aufführungspraxis
    So ganz wohl ist es mir nicht, wenn ich hier ein so „großes“ Thema anpacke. Über Beethovens 9. Symphonie ist schon so viel geschrieben worden und ich weiß nicht, ob ich mich da nicht übernehme. Doch ich versuche es trotzdem:

    In einer ostdeutschen Mittelstadt wurde vor Jahren der Generalmusikdirektor gefeuert, weil er sich geweigert hatte, zum festlichen Jahresbeginn, wie man es gewohnt war, Beethovens 9. Symphonie aufzuführen – so meine ich mich zu erinnern.

    Ein anderer Dirigent, Michael Gielen, setzte das Werk zwar aufs Programm, gekoppelt mit Arnold Schönberg: Er baute dessen musikalische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen Ein Überlebender aus Warschau in Beethovens Chorfinale ein, da er die optimistische Freudenhymne nicht mehr glaubhaft fand.

    Das sind allerdings eher Ausnahmen im heutigen Konzertbetrieb: Die Aufführung der „Neunten“ gilt als Festtag, als etwas ganz Besonderes.

    Ich selbst habe jahrelang einen großen Bogen um dieses Werk gemacht; mit Beethovens Jubelapotheosen (auch in der 5. Symphonie) habe ich so meine Probleme, mit „festlichen“ Konzert- oder Opernabenden sowieso.

    Die Frage, die mich bewegt: Kann man heute diese Symphonie überhaupt noch so aufführen wie andere Symphonien mit vergleichbaren Dimensionen (z. B. Anton Bruckner oder Gustav Mahler)? Beethovens 9. Symphonie scheint mir so sehr historisch belastet zu sein, daß sie unvoreingenommen nicht mehr rezipiert werden kann.

    Daß das berühmte Thema des Schlußchors („Freude schöner Götterfunken“) auch noch zur „Europahymne“ erklärt wurde, halte ich für eine ganz besondere Geschmacklosigkeit: Der Schlußchor, aus dem ganzen Prozeß herausgerissen, wird zum Kitsch.

    Allerdings bekam ich Ende letzten Jahres die günstige Gelegenheit, die Symphonie in Stuttgart zu erleben (als einzigem Programmpunkt), mit Paavo Järvi, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Deutschen Kammerchor (Solisten: Christiane Oelze, Annely Peebo, Donald Litaker und Matthias Goerne). Das Konzert hatte ich an anderem Ort wie folgt beschrieben:

    Nicht verschweigen möchte ich, daß ein anderer Zuhörer zu einer anderen Bewertung fand: Ihm war es „zu glatt“. Man habe „keinen Kampf mit dem Material“ gemerkt. Er gab zu, „zu viel Furtwängler im Ohr“ zu haben. Das „Existentielle“ von dessen Interpretation im März 1942 hat ihm gefehlt.

    Doch für mich wurde in diesem Konzert ein Weg beschritten, der mich überzeugte.

    Meine Frage in die Runde: Wie beurteilt Ihr Aufführungen von Beethovens Werk heute? Welche Aspekte haltet Ihr für diskussionswürdig?

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

    2 Mal editiert, zuletzt von Gurnemanz (29. Mai 2009 um 14:00)

  • RE: BEETHOVEN, Ludwig van, Symphonie Nr. 9 d-moll, op. 125: "Die Neunte" – nur noch ein Festtagsbraten im Konzertleben?

    ...
    Ein anderer Dirigent, Michael Gielen, setzte das Werk zwar aufs Programm, gekoppelt mit Arnold Schönberg: Er baute dessen musikalische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen Ein Überlebender aus Warschau in Beethovens Chorfinale ein, da er die optimistische Freudenhymne nicht mehr glaubhaft fand.
    ...
    Daß das berühmte Thema des Schlußchors („Freude schöner Götterfunken“) auch noch zur „Europahymne“ erklärt wurde, halte ich für eine ganz besondere Geschmacklosigkeit: Der Schlußchor, aus dem ganzen Prozeß herausgerissen, wird zum Kitsch.
    ...
    Meine Frage in die Runde: Wie beurteilt Ihr Aufführungen von Beethovens Werk heute? Welche Aspekte haltet Ihr für diskussionswürdig?


    Hallo,

    ich betrachte die 9. Symphonie Beethovens immer noch als den Höhepunkt des symphonischen Schaffens schlechthin. Ich höre diese selten, aber wenn, dann nicht zu den sog. allgemeinen Festtagen, also meistens zu Hause von CD.

    Dass M. Gielen die "optimistische Freudenhymne" nicht mehr glaubhaft finden sollte, irritiert mich. Hier verstehe ich den Zusammenhang seiner Beurteilung nicht. Meinte er es grundsätzlich oder war es eine momentane spontane Äußerung, welche mit einem besonderen Anlaß verbunden war...?

    Daß das Thema des 4. Satzes in der gesungenen Fassung sog. "Europahymne" wurde, halte ich - ähnlich wie Du - für unangebracht. Ja, es wird zum "Kitsch".

    OT rein persönlich: Ich höre die 9. Symphonie meist' in der Aufnahme: Wilhelm Furtwängler; Briem, Höngen, Anders, Watzke; Bruno Kittel Chor; Berliner Philharmoniker; 22-24.03.1942 Live in Berlin. Ich verbinde damit weniger originäre Freude, sondern gedenke in Trauer der Menschen und ihrem verzweifelten Ruf nach Möglichkeiten der Freude, also jenen, die diese Musik nicht hören durften; in Rückbesinnung an diese Zeit und deren Opfer. Somit für mich: Keine Spur von wirklicher Freude.

    Bis dann.

  • Ich habe Beethovens 9. Sinfonie mir noch nie richtig live reingezogen, sondern nur durch Radiomitschnitte und CDs (z.b: P. Järvi-Radio, Gielen-CD, Brüggen-Radio usw.)

    Zitat


    Die Frage, die mich bewegt: Kann man heute diese Symphonie überhaupt noch so aufführen wie andere Symphonien mit vergleichbaren Dimensionen (z. B. Anton Bruckner oder Gustav Mahler)? Beethovens 9. Symphonie scheint mir so sehr historisch belastet zu sein, daß sie unvoreingenommen nicht mehr rezipiert werden kann.

    Daß das berühmte Thema des Schlußchors („Freude schöner Götterfunken“) auch noch zur „Europahymne“ erklärt wurde, halte ich für eine ganz besondere Geschmacklosigkeit: Der Schlußchor, aus dem ganzen Prozeß herausgerissen, wird zum Kitsch.


    Gegen ideologische Vereinnahmung ist wohl kaum ein Kunstwerk gefeit; einschließlich Schönbergs Überlebender. Und -das deutet ja Dein Beitrag an - Beethovens S. 9 ist selbst nicht frei von affirmativer Ideologie. Die Kunstwerke - also auch Beethovens S. 9 - tragen Male der Welt/des Systems in dem sie entstehen. Amforats mag die Beethovens S. 9 (trotz + wegen einiger Vorbehalte).

    Ganz schnell und ungeordnet einige Gedanken: Der letzte Satz ist - für mich - ein großartiger Versuch eines großen Variationssatzes (+ wenn einer fetzige Variationen schrieb, dann Beethoven. Gelle ?. Beethoven S. 9 scheitert in gewisser Weise im 4. Satz - wie ist es auch möglich - so ohne weiteres - quasi eine politische, metaphysische, soziale Utopie herbei zu beschwören ("muss (!!) ein lieber Vater wohnen"). Aber in diesem Scheitern gelingt nach meiner Erfahrung überhaupt erst der Schlusssatz. Die Brüche machen den 4. Satz nämlich so spannend.

    Ich finde, die Beethoven S. 9 sollte unbedingt aufgeführt werden: vor allem mit ihren Brüchen.

    Am schwierigsten dürfte der 3. Satz wiederzugeben sein. Wenn die Tempi verschleppt werden, dann ist er nicht mehr sinnvoll hörbar.

    Ich halte Beethovens S. 9 - trotz des 4. Satzes oder - vor allem - des 4. Satzes wegen, für ein sehr düsteres Werk. Deshalb hat trägt die Vereinnahmung/Aufführung dieser Sinfonie für bizarr-platte Euro-Festivals/Neujahrs-Events (und dergleichen Schwachsinn) absurde Züge.

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Keine Frage: es nervt, dass zu jedem tatsächlichen und vermeintlichen Jubelanlass und möglichst auch noch zu Silvester die Neunte aufgeführt werden muss. Man kommt auch meist nicht drumherum, die ganze wechselhafte (und überaus gut erforschte) Rezeptionsgeschichte des Werks mitzuhören.

    Aber wo ich Wagner oder gar Pfitzner für ihre noch viel problematischere Rezeptionsgeschichte sehr wohl verantwortlich mache, sehe ich das bei Beethoven nicht ein. Affirmation finde ich nicht per se schlecht und bei Beethoven ist außerdem die Gewaltsamkeit der Affirmation fast immer einkomponiert, in der Fünften und auch in der Neunten.

    Gerade der Weg über die Rezeptionsgeschichte scheint mir inzwischen schon ziemlich ausgetreten. Zur Zeit die sinnvollste Annäherung an das Werk ist m.E. diejenige über die musikalische Substanz und den historischen Kontext. Man setze sich mit den ersten drei Sätzen auseinander, die zum Großartigsten gehören, das Beethoven komponiert hat. Man versuche, den vierten Satz nicht vorschnell als gescheitert abzutun, sondern seine komplexe formale Organisation zu erfassen. Der plötzliche Wandel zum "populären" Tonfall in der Freudenmelodie verdient es nicht, belächelt zu werden, sondern als Inbegriff einer "demokratischen" Kompositionsweise und deren Einbettung in ein komplexes Gefüge bewundert zu werden. (Ich empfinde die Verwendung als Europahymne auch gar nicht als schlimm und in gewisser Weise als konsequent - es gibt üblere Dekontextualisierungen.) Mich kann das nach wie vor rühren. Ich gebe aber zu, die hier weitverbreitete Abneigung gegen "Schlachtrösser" in dieser Pauschalität nicht zu teilen.

    Zu den Interpretationen: Järvi habe ich mit der Neunten noch nicht gehört, aber es gibt ja seit Jahrzehnten zahlreiche andere, insb. hippe Dirigenten, die einen nicht-titanischen, eher "werkimmanenten" Zugang gesucht haben. Überzeugt hat mich das mal mehr, mal weniger, die angesprochene Gefahr der "Glätte" schien mir häufig virulent zu sein. Ich bin aber auch kein Anhänger der m.E. nur als Dokumente der Rezeptionsgeschichte genießbaren Mitschnitte der Furtwängler-Aufführungen im Nazi-Berlin. Gerade bei diesem Werk zeigt Michael Gielen seine Stärken, unter Annäherung an die Metronomwerte, ohne nur hurtig zu sein, unter hörbarer Begeisterung und Liebe für das Werk, aber mit Gespür für seine Problematik. Es gibt mit Gielen eine wohl zur Zeit nur schwer erhältliche EMI-Einspielung aus den 90ern und eine etwas spätere, normal lieferbare DVD - beide Aufnahmen mit dem SWR-Orchester Baden-Baden und Freiburg.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • ...Zur Zeit die sinnvollste Annäherung an das Werk ist m.E. diejenige über die musikalische Substanz und den historischen Kontext. Man setze sich mit den ersten drei Sätzen auseinander, die zum Großartigsten gehören, das Beethoven komponiert hat. Man versuche, den vierten Satz nicht vorschnell als gescheitert abzutun, sondern seine komplexe formale Organisation zu erfassen. ...

    Sehr richtig; ähnliches wollte ich auch soeben schreiben. Maßgeblich ist doch, was gute Interpreten aus dem Werk herausholen können, wenn sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Routineaufführungen aus bestimmten festlichen Anlässen können dagegen uninteressant sein. Aber das gilt nicht nur für Beethovens Neunte Symphonie.

  • Sehr richtig; ähnliches wollte ich auch soeben schreiben. Maßgeblich ist doch, was gute Interpreten aus dem Werk herausholen können, wenn sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Routineaufführungen aus bestimmten festlichen Anlässen können dagegen uninteressant sein. Aber das gilt nicht nur für Beethovens Neunte Symphonie.

    Sehe ich genauso.

    Ich liebe die 9. Sinfonie.

    Es ist mir herzlich egal, ob sie zu bestimmten Anlässen aufgeführt wird oder nicht. Möglicherweise bin ich ja naiv, aber ich sehe in der 9. Sinfonie und besonders in dem Chorabschluss, ein Sehnen nach Völkerverständigung und Frieden. Dieser ist der Menschheit doch nicht nur zu wünschen sondern wäre auch ein Schritt in ein neue Zeit. (Wie naiv dieser Gedanke auch immer ist.)

    "Freude, schöner Götterfunken
    Tochter aus Elysium,
    wir betreten feuertrunken,
    himmlische, dein Heiligtum!
    Deine Zauber binden wieder
    Was die Mode streng geteilt;

    Alle Menschen werden Brüder,

    Wo dein sanfter Flügel weilt.

    Sicher kann man den Text auch kitschig nennen, aber ich will und kann es nicht.

    Zitat

    Zitat: Gurnemanz

    Der Schlußchor, aus dem ganzen Prozeß herausgerissen, wird zum Kitsch.

    Möglich, aber überzeugt bin ich dessen nicht.

    Lieber Gurnemanz, eine Diskussion über die 9. Sinfonie ist auf jeden Fall interessant, auch wenn schon viel darüber geschrieben wurde. Möglicherweise ist sie auch so groß, dass wir uns alle damit übernehmen.

    LG

    gilestel

    Wenn Einer kümmt un tau mi seggt, Ick mak dat allen Minschen recht, Dann segg ick: Leiwe Fründ, mit Gunst, O, liehr'n S' mi de swere Kunst. - Fritz Reuter

  • Es ist mir herzlich egal, ob sie zu bestimmten Anlässen aufgeführt wird oder nicht.

    Ich möchte hier ungern missverstanden werden, liebe gilestel. Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, ja sogar notwendig, sich mit der Rezeptionsgeschichte der Neunten und ihrem aktuellen Status im Musikleben auseinanderzusetzen.

    Aber man sollte sich dadurch nicht den Weg zum Werk selbst verbauen lassen. Einerseits kann es eine Bereicherung sein, die Rezeption "mitzuhören", andererseits sollte man auch gelegentlich versuchen, die Sinfonie ohne diesen Ballast wahrzunehmen, sich dem Werk offen zu nähern.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • "Freude, schöner Götterfunken
    Tochter aus Elysium,
    wir betreten feuertrunken,
    himmlische, dein Heiligtum!
    Deine Zauber binden wieder
    Was die Mode streng geteilt;

    Alle Menschen werden Brüder,

    Wo dein sanfter Flügel weilt.

    Sicher kann man den Text auch kitschig nennen, aber ich will und kann es nicht.


    soweit sich weiss, fand Schiller selber später dieses in jugendlichem Überschwang geschriebene Gedicht zu pathetisch und hat sich davon distanziert.
    Gruss

    Syrinx

    Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt.
    Goethe, Faust 1

  • Lieber Bernd,

    möglicherweise habe mich ungeschickt ausgedrückt.

    Ich mag die 9. Sinfonie weil ich diese Musik eben mag. Möglicherweise, nein ganz bestimmt, habe ich mich nicht genug mit der Rezeptionsgeschichte auseinandergesetzt. Ich höre Musik weil und wenn sie mir gefällt. Nicht immer hinterfrage ich diese. Die 9. Sinfonie ist eine der wenigen, die ich zumindestens als "Ode an die Freude" bereits als Kind kannte. Mich haben diese Zeilen geprägt. Aus diesem Gesichtsfeld heraus höre ich die ganze Sinfonie.

    Wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist genau diese Auseinandersetzung mit der Musik wichtig aber sollte eben nicht als alleiniger Gesichtspunkt betrachtet werden.

    LG

    gilestel

    Wenn Einer kümmt un tau mi seggt, Ick mak dat allen Minschen recht, Dann segg ick: Leiwe Fründ, mit Gunst, O, liehr'n S' mi de swere Kunst. - Fritz Reuter

  • Liebe gilestel,

    das ist ja auch völlig ok, jeder muss sich seinen eigenen Zugang suchen.

    Zur Rezeptionsgeschichte gibt's mehrere Abhandlungen - diejenige von Dieter Hildebrandt lässt zwar manches aus und gelegentlich auch den analytischen Zugriff vermissen, informiert sonst aber zuverlässig über Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Beethoven-Werkes (und auch des Schiller-Gedichts):


    [Blockierte Grafik: http://bilder.buecher.de/produkte/13/13293/13293485n.jpg]


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Man hat' s halt nicht leicht als Titan...

    Hans von Bülow (das ist der, der die "Eroica" mit weißen Handschuhen dirigierte, die er bei der Marcia Funebre durch schwarze ersetzte) ließ die Neunte zweimal hintereinander spielen in dem Glauben, nur dann werde sie vom Publikum halbwegs angemessen rezipiert.

    Göbbels ließ stets zum Führergeburtstag die Neunte aufführen und im Radio senden.

    Eine jüdische Gruppe von Jugendlichen soll vor ihrer Ermordung in der Gaskammer von Auschwitz die "Ode an die Freude" gesungen haben.

    Nach der Vermeldung von Hitlers Tod im Reichssender wurde nicht die Neunte, aber der Trauermarsch aus der Eroica gespielt.

    In Stanley Kubricks "Uhrwerk Orange" begleitet die Neunte zunächst die Gewaltorgien und dann die Therapie des bekloppt-genialen Alex.

    Nach dem Ende der SED-Diktatur hatten Bernstein und Barenboim nichts Eiligeres zu tun, als Beethoven-Festkonzerte mit der Neunten zu veranstalten.


    Claude Debussy schrieb schon nach einer Aufführung der Neunten anno 1901, dass man aus "diesem so mächtigen und klaren Werk einen Popanz zur öffentlichen Verehrung" gemacht habe.


    Laut Andy Warhol hat Beethoven heute in gewisser Hinsicht mehr Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe als mit John Cage :stern:


    Dummerweise führte der "Mythos Beethoven" lange Zeit zu einer überladenen und viel zu pathetischen Interpretationstradition, die erst in jüngerer Zeit wieder aufgegeben wurde. Das eigentliche Thema ist doch heute die Entmystifikation, um den wahren LvB wieder erkennbar zu machen.

    Für mich ist die Neunte ein ganz besonderes, faszinierendes und erhabenes Kunstwerk. Ich ertappe mich öfter dabei, sie nicht einfach so aus Lust und Laune zu hören, sondern wenn ich glaube, einen besonderen, feierlichen oder erhabenen Moment zu erleben. Dann landet eine meiner Lieblingsaufnahmen im CD-Player: Fricsay (klar an erster Stelle); Karajan 1981 (ich stehe dazu) oder Furtwängler 1951. Bin allerdings sehr auf die bald zu erwartende Järvi-Einspielung gespannt.

    Das Erstaunliche und Faszinierende ist für mich, dass ich die Neunte, wenngleich in der Tat seit ewigen Zeiten zum "Popanz" gemacht, frei von jedem Ballast als absolutes und monolithisch aus der Masse anderer Schöpfungen herausragendes Musikstück hören kann, dass sich jeglicher Vereinnahmung verschließt - und gar nicht so leicht zu entmystifizieren ist...

    Beste Grüße,


    Lavine

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • RE: Man hat' s halt nicht leicht als Titan...


    Dummerweise führte der "Mythos Beethoven" lange Zeit zu einer überladenen und viel zu pathetischen Interpretationstradition, die erst in jüngerer Zeit wieder aufgegeben wurde. Das eigentliche Thema ist doch heute die Entmystifikation, um den wahren LvB wieder erkennbar zu machen.

    Was der "wahre Beethoven" ist, wäre im heutigen historischen Kontext noch zu diskutieren.

    Die Entmystifikation läuft aber nun nicht erst seit jüngster Zeit, sondern schon seit Jahrzehnten (man denke nur an Scherchen, Leibowitz & Co). Im Grunde gab es schon immer gegenläufige Prozesse der Rezeption, etwa im 19. Jh. mit Mendelssohn und Wagner.

    Hat Bülow nicht nach dem dritten Satz der Neunten seine Handschuhe ausgezogen?


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Dann landet eine meiner Lieblingsaufnahmen im CD-Player: Fricsay (klar an erster Stelle); Karajan 1981 (ich stehe dazu) oder Furtwängler 1951. Bin allerdings sehr auf die bald zu erwartende Järvi-Einspielung gespannt.

    Dann haben wir ja einen ähnlichen Geschmack. ;)
    Meine Lieblingsaufnahmen sind die von Fricsay und die aus von Karajan aus den 60ern. Im Gegensatz zu Amfortas bevorzuge ich gerade den 3. Satz so langsam, dass man jegliches Zeitgefühl verliert (auch wenn es sicher nicht im Sinne Beethovens ist) - ein ähnlicher Fall wie D960 (da müssen dann Kempff oder Richter her).

  • - ein ähnlicher Fall wie D960 (da müssen dann Kempff oder Richter her).

    [OT]: ...oder gleich Afanassiev.


    .

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Die Entdeckung der Langsamkeit

    Der 3. Satz ist für mich der Höhepunkt der Neunten und das emotional Berührendste, was ich von LvB kenne. Musik, um der Welt abhanden zu kommen. Wenngleich ich im Allgemeinen eher flotte Tempi bevorzuge und Zerdehnungen à la Celibidache gar nicht mag, so meine ich doch, dass dieser Satz mit großer Ruhe gespielt werden sollte, wobei natürlich ein innerer Spannungsbogen schon erhalten bleiben muß. Mich würde hier eher ein zu schnelles Tempo stören. Bin mir aber nicht ganz sicher, was LvBs Metronomangaben hier sagen... :S

    HvK aus den 60ern ist auch klasse, aber ich liebe diesen schwelgerischen Luxusklang der späten Digitalaufnahme.

    Und ja: Bülows Handschuhtrick ist in den Archiven der Berliner Philharmoniker für die Eroica überliefert, nicht für die Neunte.

    LvBs Schüler Carl Czerny soll berichtet haben, dass der Meister den letzten Satz der Neunten im Nachhinein als Missgriff empfunden und deshalb einen neuen habe schreiben wollen, einen ohne Singstimmen. Ich weiß, das mancher dem beipflichten mag, ich jedoch nicht.


    Beste Grüße,


    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Sicher kann man den Text auch kitschig nennen, aber ich will und kann es nicht.

    Möglich, aber überzeugt bin ich dessen nicht.


    Liebe gilestel,

    vielleicht gibt es da ein Mißverständnis: Ich habe nicht Schillers Ode An die Freude als Kitsch bezeichnet; "kitschig" ist für mich der herausgelöste Jubel (wie auch in der Verwurstung zur "Europahymne") - als gäbe es nur "Freude", nicht aber den mühseligen, steinigen Weg dahin - und der ganze Schlußsatz "feiert" ja nicht nur, nachdem der Chor eingesetzt hat, sondern da höre ich noch viele Verzögerungen, Zweifel daran, ob es wirklich geht. Beethoven scheint sich des Problems ungebremster Freude wohl bewußt gewesen zu sein. Hat er das Finale wirklich als "Mißgriff" angesehen (wie von Czerny laut Général Lavine überliefert)? Gibt es da Näheres?

    Ein anderes Beispiel der "Verkitschung" in ganz ähnlicher Weise ist für mich Friedrich Silchers Chorbearbeitung von Schuberts Lindenbaum aus der Winterreise, weil hier der innige Gesang herausgebrochen wird aus dem eisigen Klirren, wie Schubert es in der Klavierbegleitung so genial auskomponiert hat. Bei Schubert ist es die "reale" Umgebung (des Winters), die ausgeblendet wird, bei Beethoven der problematische, schwierige, "reale" Prozeß.

    Vielleicht bin ich da aber auch zu streng...

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Die Vergötterung der Langsamkeit

    [size=10]Der 3. Satz ist für mich der Höhepunkt der Neunten und das emotional Berührendste, was ich von LvB kenne. Musik, um der Welt abhanden zu kommen. Wenngleich ich im Allgemeinen eher flotte Tempi bevorzuge und Zerdehnungen à la Celibidache gar nicht mag, so meine ich doch, dass dieser Satz mit großer Ruhe gespielt werden sollte, wobei natürlich ein innerer Spannungsbogen schon erhalten bleiben muß. Mich würde hier eher ein zu schnelles Tempo stören. Bin mir aber nicht ganz sicher, was LvBs Metronomangaben hier sagen...

    Beethoven schreibt sowohl für das 4/4-(später 12/8-)Adagio wie für das 3/4-Andante 60 Viertel pro Minute vor. Das entspricht (großzügig ausgelegt) etwa einer Gesamtspieldauer des Satzes von 12-13 Minuten. Inzwischen gibt's ja relativ viele Aufführungen und Einspielungen, die ein solches Tempo realisieren.

    Obwohl ich Abweichungen von den Metronomangaben fast immer toleriere, erscheinen mir alle Aufführungen, in denen der Satz über 15 Minuten dauert, auch subjektiv als verschleppt. Wenn man schon beim Hauptthema die Synkopen in den Bratschen ab Takt 3 nicht mehr wahrnimmt, weil das Tempo zu langsam ist, entsteht genau die Klangsauce, die mir den Satz so lange verleidet hat (heute liebe ich ihn über die Maßen). Man muss bei aller Langsamkeit den Puls spüren, die Sechzehntel in den ersten Geigen bei der ersten Variation des Hauptthemas (und später) sollten wirklich fließen.

    Während ich Furtwänglers nach meiner Erinnerung knapp 20 Minuten langer Interpretation beim Bayreuther Mitschnitt von 1951 noch eine gewisse Faszination abgewinnen kann, finde ich die zerdehnten Tempi seiner Adepten meist nur abtörnend. Wenn man das, wie aus der HIP-Fraktion oft gehört, als Wagnerisierung Beethovens bezeichnet, tut man auch Wagner Unrecht.


    Viele Grüße

    Bernd

    .


  • Ich habe nicht Schillers Ode An die Freude als Kitsch bezeichnet; "kitschig" ist für mich der herausgelöste Jubel (wie auch in der Verwurstung zur "Europahymne") - als gäbe es nur "Freude", nicht aber den mühseligen, steinigen Weg dahin -...

    Mich hatte anfangs auch irritiert, dass Beethoven nach den drei Instrumentalsätzen im Schlusssatz die menschliche Stimme zum Einsatz bringt. Ich empfand den Satz fast als unpassend, weil er die Harmonie des Ganzen zu stören schien. Und dann las ich Furtwänglers Erläuterungen zum Finalsatz in „Gespräche über Musik“ (S. 47 ff.):

    „In Wirklichkeit war es so, dass Beethoven für das, was es ihn auszusprechen drängte, was er aus dem Sinn der vorangehenden Sätze, aus dem ganzen Werk als Musiker sagen wollte, nach dem geeigneten Text suchte und ihn zufällig bei Schiller, mit dessen auf das Abstrakte, Ideelle gehender Tendenz, fand. […]
    Wenn es ihn bei der „Neunten“ zum Wort, zur menschlichen Stimme drängte, so doch nur aus einem Bedürfnis heraus, das seinen Ursprung in den vorhergehenden Sätzen, d.i. eben doch im rein Musikalischen hat. Das Thema dieses letzten Satzes als solches war es, das alles weitere, den Text, die menschliche Stimme, die zyklische Form, mit sich zog. Dieses Urbild aller Themen, eine Erfindung allein des Musikers, konnte nicht Erklärung oder Interpretation eines bestimmten Textes sein. Viel eher wirkt umgekehrt das Gedicht als eine Interpretation des Themas. Und so ist auch die herangezogene menschliche Stimme nur gleichsam als die natürliche „Instrumentation“ dieser ewigen Melodie anzusprechen.“


    Diese Umkehrung („das Gedicht als eine Interpretation des Themas“) klingt für mich schlüssig.

    Gruß, Cosima

  • Debussy über Beethoven

    Diese Umkehrung („das Gedicht als eine Interpretation des Themas“) klingt für mich schlüssig.


    Interessant, daß Furtwänglers Beharren auf dem Vorrang des Musikalischen vor dem Literarischen ganz gut mit der Einschätzung Claude Debussys korrespondiert. Dieser nennt (in der Rezension, aus der oben bereits Général Lavine zitiert: die 9. Symphonie als "Popanz") Beethovens Denken "reinmusikalisch" und spricht den Worten Schillers lediglich "klangliche Bedeutung" zu:

    Zitat

    Beethoven war nicht für zwei Sous literarisch, zumindest nicht in dem Sinn, den das Wort heute hat. Er liebte die Musik mit hochgemutem Stolz; sie war für ihn jene Leidenschaft und Freude, die er in seinem persönlichen Leben so bitter entbehren mußte. Vielleicht hat man in der Neunten Symphonie einfach den zur Übersteigerung getriebenen Ausdruck eines musikalischen Stolzes zu sehen – und weiter nichts. Ein kleines Heft, in dem Beethoven mehr als zweihundert verschiedene Abwandlungen der Leitidee zum Finale dieser Symphonie skizzierte, zeigt, wie hartnäckig er suchte und wie reinmusikalisch sein Denken war, das ihn leitete (die Verse von Schiller haben dabei wirklich nur eine klangliche Bedeutung). Er wollte, daß diese Idee ihre eigenen virtuellen Entwicklungskräfte besäße, und wenn sie in sich von wundersamer Schönheit ist, so ist sie wundersam durch all das, womit sie seine Erwartung erfüllte. Es gibt kein glänzenderes Beispiel für die Dehnbarkeit einer Idee innerhalb der ihr gesetzten Form; jede Abwandlung bringt neue Freude, ohne daß der Eindruck von Anstrengung oder Wiederholung entstünde; es ist wie ein Wunder, wie das Aufblühen eines Baumes, dessen Knospen alle mit einem Mal aufbrechen.
    Aus : Claude Debussy, Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hrsg. von F. Lesure. Reclam/Stuttgart 1982, S. 39f.


    Der "zur Übersteigerung getriebene[n] Ausdruck" drängt zum Wort, weil die Beschränkung auf die Mittel des Orchesterstimmen wie beengende Ketten empfunden werden, die abgesprengt werden? Allerdings gefällt mir Debussys Metapher vom plötzlich aufblühenden Baum noch besser.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zitat

    Maßgeblich ist doch, was gute Interpreten aus dem Werk herausholen können, wenn sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen.

    Das sollte bei jeder Wiedergabe selbstverständlich bzw. Ziel der Wiedergabe sein.

    Zitat


    sondern seine komplexe formale Organisation zu erfassen. Der plötzliche Wandel zum "populären" Tonfall in der Freudenmelodie verdient es nicht, belächelt zu werden, sondern als Inbegriff einer "demokratischen" Kompositionsweise und deren Einbettung in ein komplexes Gefüge bewundert zu werden.


    Wenn sich der 4. Satz tatsächlich darin erschöpft, dann wäre er für Amfortas längst nicht so interessant und faszinierend. Aber für mich gewinnt der 4. Satz vor allem durch seine Brüche, durch sein Scheitern überhaupt erst den Gehalt, der ihn zu einer Musik höchsten Ranges macht.


    Zitat

    (Ich empfinde die Verwendung als Europahymne auch gar nicht als schlimm und in gewisser Weise als konsequent - es gibt üblere Dekontextualisierungen.)

    Diese angesprochene Konsequenz ist ein Hinweis auf den ideologischen Gehalt des Freundenthemas, dass aber nicht nur Ideologie ist. Bereits durch die instrumentale Erscheinung dieses Themas wird nicht zuletzt die Einleitung des 4. Satzes so beeindruckend kontrastiert; aber auch z.B. der 1. Satz.

    Das es üblere Dekontextualisierungen gibt, macht die Sache allerdings nicht besser. Im Gegentum. Statt Dekontextualisierungen würde ich aber gleich direkt sagen: Das Thema vollends system- und event-konform zugerichtet, plattgemacht. Alles soll dem Betrieb angepasst werden. Durch Zurichtungen dieser Art werden nicht zuletzt die letzten Reservate in der Kunst getilgt, die sich u.U. als Gegenentwürfe, als partiell unbahängig gegen die Realität erweisen könnten.


    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

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