Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – Nur noch ein Festtagsbraten im Konzertleben?
Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, op. 125 – Zur gegenwärtigen Aufführungspraxis
So ganz wohl ist es mir nicht, wenn ich hier ein so „großes“ Thema anpacke. Über Beethovens 9. Symphonie ist schon so viel geschrieben worden und ich weiß nicht, ob ich mich da nicht übernehme. Doch ich versuche es trotzdem:
In einer ostdeutschen Mittelstadt wurde vor Jahren der Generalmusikdirektor gefeuert, weil er sich geweigert hatte, zum festlichen Jahresbeginn, wie man es gewohnt war, Beethovens 9. Symphonie aufzuführen – so meine ich mich zu erinnern.
Ein anderer Dirigent, Michael Gielen, setzte das Werk zwar aufs Programm, gekoppelt mit Arnold Schönberg: Er baute dessen musikalische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen Ein Überlebender aus Warschau in Beethovens Chorfinale ein, da er die optimistische Freudenhymne nicht mehr glaubhaft fand.
Das sind allerdings eher Ausnahmen im heutigen Konzertbetrieb: Die Aufführung der „Neunten“ gilt als Festtag, als etwas ganz Besonderes.
Ich selbst habe jahrelang einen großen Bogen um dieses Werk gemacht; mit Beethovens Jubelapotheosen (auch in der 5. Symphonie) habe ich so meine Probleme, mit „festlichen“ Konzert- oder Opernabenden sowieso.
Die Frage, die mich bewegt: Kann man heute diese Symphonie überhaupt noch so aufführen wie andere Symphonien mit vergleichbaren Dimensionen (z. B. Anton Bruckner oder Gustav Mahler)? Beethovens 9. Symphonie scheint mir so sehr historisch belastet zu sein, daß sie unvoreingenommen nicht mehr rezipiert werden kann.
Daß das berühmte Thema des Schlußchors („Freude schöner Götterfunken“) auch noch zur „Europahymne“ erklärt wurde, halte ich für eine ganz besondere Geschmacklosigkeit: Der Schlußchor, aus dem ganzen Prozeß herausgerissen, wird zum Kitsch.
Allerdings bekam ich Ende letzten Jahres die günstige Gelegenheit, die Symphonie in Stuttgart zu erleben (als einzigem Programmpunkt), mit Paavo Järvi, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Deutschen Kammerchor (Solisten: Christiane Oelze, Annely Peebo, Donald Litaker und Matthias Goerne). Das Konzert hatte ich an anderem Ort wie folgt beschrieben:
ZitatAlles anzeigen"Lieder und Tänze des Lebens": So würde ich meine Eindrücke - in Abwandlung des Titels eines Liederzyklus' von M. Mussorgski, den ich gerade kennengelernt habe - zusammenfassen. Es war eine außerordentlich lichtvolle und im Ganzen optimistische, ja heitere Sicht des Lebens: Schon der erste Satz verzichtete hier ganz auf Dämonisch-Titanisches; für mich war es die Dramatik eines Lebens, auf die ein alter Mann, keineswegs bitter und resigniert, sondern immer noch in der Fülle seiner Energie zurückblickt: die Kämpfe des Lebens aus der Perspektive eines Menschen, der selbst nicht mehr kämpfen muß, weil er eine neue Bewußtseinsstufe erreicht hat, die ihm erlaubt, auf alles Hemmende und Quälende gelassen zurückzublicken.
All das geschah mit rasender Geschwindigkeit: Järvi und sein Orchester musizierten in, wie mir schien, aberwitzig schnellem Tempo, in allen vier Sätzen (Dauer insgesamt ca. 65-70'); es kam mir allerdings nicht so vor, daß der Dirigent antreiben mußte, im Gegenteil: Er schien die überschäumende Energie immer wieder bremsen zu müssen, wie ein Reiter, der darauf achtet, daß sein Pferd ihm nicht durchgeht. Faszinierend war das!
Im Scherzo fehlte das Unbarmherzig-Harte: Die Kopfteile erinnerten mich an den Witz der 8., das Trio erschien mir "pastoral". Auffallend auch hier die Herausarbeitung von Nebenstimmen in den Bläsern, die oft eher skurril-freundlich klangen. Wer an Brucknersche Scherzi denkt und hier die Anlage dafür sucht, konnte unerwartet Neues finden.
Im Adagio kam wenig Ruhe auf, es wirkte eher wie eine schnelle Episode mit Blick auf das Finale, in das Järvi denn auch mit atacca überleitete. Großartig - für mich fast so etwas wie ein Höhepunkt der ganzen Interpretation - die grandiose Steigerung, wenn gleich zu Beginn, ausgehend von den Bässen, das berühmte Hauptthema aufsteigt.
Der ganze Schluß, die Feier der Freude mit Orchester, Chor und Solisten überwältigte mich derart, daß mir Tränen kamen - das war so wunderbar musiziert - von allen! -, ich kann es kaum beschreiben; selten berührt mich Musik so tief. Alles Martialische und Aggressive, das ich im Finalsatz schon wahrgenommen hatte, auch mit Befremden - das fehlte hier gänzlich. Vielleicht die Idee der aus der Aufklärung gewonnenen Humanität, die lebt und lebensfähig bleibt - auch wenn die weitere Entwicklung unserer Welt in den letzten 200 Jahren in andere, katastrophale Richtung gehen mag.
Das Fehlen der massiven Wirkung verdankte sich sicher auch der Besetzung und Aufstellung des Orchesters: Streicher 9 - 8 - 6 - 6 - 4; die Kontrabässe ganz links, Violinen antiphon geteilt, Celli direkt vor dem Dirigenten, ganz rechts die Pauken. Die Solisten unmittelbar hinter dem Orchester, direkt hinter ihnen (nicht auf der Empore, was die Liederhalle auch ermöglicht hätte) der Chor - das ergab einen insgesamt sehr homogenen Höreindruck.
Von den Solisten könnte ich keinen hervorheben: Es wirkte stimmig und geschlossen, was das Quartett bot. Ebenso der Chor, nur etwas über 40 Sänger/innen! Welche feinen Abstufungen zwischen pp und ff da hörbar waren, bei klarer Textverständlichkeit, auch das fand meine Bewunderung. Klasse war's!
Nicht verschweigen möchte ich, daß ein anderer Zuhörer zu einer anderen Bewertung fand: Ihm war es „zu glatt“. Man habe „keinen Kampf mit dem Material“ gemerkt. Er gab zu, „zu viel Furtwängler im Ohr“ zu haben. Das „Existentielle“ von dessen Interpretation im März 1942 hat ihm gefehlt.
Doch für mich wurde in diesem Konzert ein Weg beschritten, der mich überzeugte.
Meine Frage in die Runde: Wie beurteilt Ihr Aufführungen von Beethovens Werk heute? Welche Aspekte haltet Ihr für diskussionswürdig?