So nicht! - Zensur im Film

  • Dass Prüderie zugenommen hätte, halte ich für fragwürdig. Das entfernte Gedicht an dieser Berliner FH hat nichts mit Prüderie zu tun, das ist eher eine ideologische Sache (oder Machtdemonstration: Seht, was wir durchsetzen können).
    Mal ganz abgesehen davon, dass in der Praxis der Jugendschutz heute kaum möglich ist, weil im Internet nahezu alles (mit etwas Findigkeit mutmaßlich inkl. Bestio- und Pädosexualität) sehr leicht verfügbar ist, wird man heute im normalen Fernsehen ab 20 Uhr häufig Dinge sehen, die noch vor 20 Jahren als "erotisch" galten und auf nach 22 Uhr gelegt wurden, z.B. der "Porno-Tatort" neulich. Bei Gewalt etc. gilt mehr oder minder dasselbe. Auch da kommt heute im Fernsehen, was man früher auf Video ausleihen musste. Wie man das einordnet, ist eine andere Sache, aber eine restriktivere Darstellung von typischerweise Anstoß erregenden Dinge gegenüber den 80ern oder 90ern kann ich beim besten Willen nicht feststellen. (Mit im weitesten Sinne devianter Sexualität ist der öffentliche Umgang ganz klar völlig anders als noch Ende des 20. Jhds.) Das einzige Gebiet, auf dem die Empfindlichkeit gewachsen ist, ist alles, was in Richtung Kinderpornographie gehen könnte. Da gab es in den 70ern anscheinend einige Filme (nach Art der "Blauen Lagune" nur freizügiger), die heute (aber auch schon vor 20 Jahren) so nicht denkbar wären und die offenbar auch nicht mehr vertrieben/verliehen werden.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • <<== mangels Fleiß, mich in diesen thread einzulesen, werd' ich den Teufel tun und irgend etwas bis hierher geschriebene auch nur versehentlich kommentieren...

    an dieser Stelle just for information die zwei zensierten Stellen aus dt. TV-Serien, die mir so auf die Schnelle eingefallen sind:

    (i) Folge 3 von "Kir Royal" => bei 18.21 fehlen c. 6, 7 Sekunden, die seit der Erstausstrahlung meines Wissens nie wieder zu sehen gewesen, d. h. bereits anlässlich der allersten Wiederholung am darauffolgenden Vormittag entfernt worden sind: "Sünder" F.X.Kroetz schiebt dem Beichtvater Karl Obermayr da eigentlich noch (schätze nicht ganz unerhebliches) Schmiergeld zu ==>> megakrass, einverstanden, allerdings will ich gar nicht wissen, was in manchen Beichtstühlen mancher ital. Kirchen (stark mafiaverseuchter Ortschaften) so alles geschehen sein mag 8| 8| https://www.youtube.com/watch?v=1_p3rCledCI

    (ii) die Mordszene aus der aller-ersten "Derrick"folge dürfte anlässlich der Ursendung um gut und gerne 10sec länger gewesen sein: hier https://www.youtube.com/watch?v=CpxlHaeD3xM müsste man sich diesen Schnitt wohl bei 06.52 denken... // erst c. 3 Jahre zuvor übr. die meines Wissens erste wirklich im Bild zu sehende lange Mordszene in einem Hitchcockfilm >Frenzy< // besagte Szene aus Frenzy hab' ich in der Tat nur ein allererstes Mal ertragen; aber den irren Wolfgang Kieling um 10sec. und mehr zu beschneiden :| :| also ich finde es da erheblich widerlicher, wenn sie beim Live-Fussball die fiesesten Fouls teilweise doppelt und dreifach in Zeitlupe wiederholen w ü r g

    dann 'türlich noch die "Tatort"folge Franziska, die seinerzeit aus Jugendschutzgründen erst um 22.00h laufen durfte: damals war der ehemalige Studiosus der Sozialwissenschaften in mir erwacht, und ich hatte mir diese Folge extra deshalb mit derart kugelrunden Augen betrachtet wie vermutl. keinen "Tatort" davor oder danach ==>> mit dem Ergebnis, dass diverse Empfindlichkeiten der öffentl.rechtl. Häuptlinge nicht die meinen sind - von mir aus könnten sie diese Folge in die Sozialkunde-,Ethik- Lehrpläne (10.Klasse Realschule, Gymnasium?) aufnehmen: als (notwendig) krasses Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man zu gewagt mit diversem Drahtspielzeug u. ä. herumexperimentiert........

    kleine Pointe am Rande ... aparterweise zeigte just am verg. Karfreitag das MDR-Fernsehen die legendären "Sieben Sommersprossen" - hartnäckigen Gerüchten zufolge der freizügigste aller DEFA-Filme... na von mir aus :)

    Das TV gibt mehr 'Unterhaltung' aus, als es hat - in der bürgerl. Gesetzgebung nennt man das 'betrügerischen Bankrott' Werner Schneyder Es ging aus heiterem Himmel um Irgendwas. Ich passte da nicht rein. Die anderen aber auch nicht. FiDi über die Teilnahme an seiner ersten (und letzten) Talkshow

  • Liebe Rosamunde, gab es das nicht schon immer. Schon Shakespeare (wer immer es denn nun war :D ) wusste doch ganz genau, was er dem zahlenden Publikum bieten musste, damit sie auch bei der Stange, d.h. im Theater blieben. Die Frage ist eben nur, inwieweit staatliche Eingriffe z.B. durch Fördermaßnahmen bestimmte Sichtweisen und Themen in einer demokratischen Gesellschaft heute trotzdem vorhanden sind.

    Ja, genau, es gab es schon immer.

    Das Eingreifen des Staates durch Fördermassnahmen und Subventionen steuert der Zensur, die durch Marktkräfte automatisch entsteht, bewusst entgegen. Es ist ein Teil Demokratie oder ein Teil Pluralismus; sozusagen das Unterstützen von Randgruppen und Minderheiten in der Kunst, die sonst keine Stimme hätten. Das würde ich nicht als Zensur bezeichnen, sonder eher als das Gegenteil.

    Welche Dinge da nun aus allen "Randbewegungen" offiziell als förderungswürdig ausgesucht werden, ist dann eher interessant........da würde ich aber behaupen, dass sich hier die Schlange in den eigenen Schwanz beisst, denn m E werden wieder nur solche Dinge gefördert, die sich gerade trendmässig soeben erst am Rande der etablierten Gesellschaft bemerkbar machen.
    Wenn ich mal ganz wild behaupten darf, sind solche Trends gesellschaftspolitisch immer sehr links* der Mitte einzuordnen. (Rechts der Mitte wird nix gefördert.)

    Es geht eben dann trotzdem, auch bei staatlichen Förderungen, die sich auf Kunst auswirken von gesellschaftlichen Trends aus.

    Mit anderen Worten: Mainstrem Trends beeinflussen Marktkräfte; Randgruppen-Trends werden staatlich gefördert. Gesellschaftliche Trends sind also die primäre Kraft, an beiden Polen der Dynamik.

    *Jetzt hör ich schon den Einwand: wie kann denn Prüderie links der Mitte sein? Genau dann, wenn es (unterbewusst) motiviert ist durch den Wunsch, das traditionelle Geschlechterverständnis aufzulösen. Denn dann muss man sich erstmal (im übertragenen Sinne) wieder "anziehen" , sonst macht sich der Unterschied zu sehr bemerkbar . Man soll ihn ja vergessen, diesen triebhaft zwingenden Unterschied, an den man bei nackten Personen ständig erinnert wird. Führt jetzt zu weit, aber ist eigentlich ein tolles Thema.


    :wink:

  • Das Eingreifen des Staates durch Fördermassnahmen und Subventionen steuert der Zensur, die durch Marktkräfte automatisch entsteht, bewusst entgegen.

    Das aber ist genau die Frage. Tut der Staat mit seinem Eingreifen das wirklich oder gibt er sich nur den Anschein? Und wenn der Staat durch Fördermaßnahmen z.B. experimentelle Filmabenteuer mit Geld unterstützt, müsste er nicht auch dafür sorgen, dass sie einem Publikum in entsprechenden Kinos auch zugeführt werden könnte? Ist die Förderung dann nicht nur ein Feigenblatt? Im Theater-/Opernbereich subventioniert der Staat die Häuser, die dann, wenn sie wollen, Avantgarde 'produzieren' können. Da ist also die Möglichkeit den Endverbraucher zu erreichen wesentlich einfacher. Bei Film wird der Film unterstützt und dann kann der Regisseur sehen, wo er bleibt.
    Und wenn es stimmt, wie du schreibst, dass der Staat eher Projekte links der Mitte unterstützt (das müsste mal genauer untersucht werden, das Ergebnis ist vielleicht sogar sehr interessant), dann findet schon hier auch durch die Vorauswahl eine Art Zensur statt. Zudem werden wohl auch Filme gefördert, von denen man sich einen 'Mainstream'-Erfolg verspricht, während möglicherweise für andere, weit radikalere Vorhaben dann vielleicht das Geld fehlt. Klar, sehr viel 'vielleicht' und 'möglicherweise', aber in wie vielen Programmkinos sieht man denn noch Filmexperimente?

    *Jetzt hör ich schon den Einwand: wie kann denn Prüderie links der Mitte sein?

    Ups, den wollte ich gar nicht bringen. :D Aber schon ein interessantes Thema.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Was ja interessant ist, wenn es als These stimmen sollte. Gewalt ist also eher gesellschaftlich akzeptiert als die schwer steuerbare Sexualität? Wenn das so stimmt, welche Rückfragen lässt das eigentlich auf eine demokratisch verfasste Gesellschaft zu?

    Ja aber so simpel war es nicht gemeint von mir.

    Ich glaube, dass es im Moment in der Gesellschaft den Trend zum Verstecken der Nacktheit gibt, und wieso das so ist, habe ich im vorherigen Beitrag versucht zu beschreiben.

    Aber es gibt einen davon unabängigen gesellschaftlichen Trend hin zur Verharmlosung von Gewalt, der sich aber im Moment mE erst bei Kunst und Unterhaltung bemerkbar macht.
    Im Bezug auf die Senkung der Altersbeschränkungen bei Gewalt in Filmen, ist es mE zu begründen durch Videogaming, wie ich schon sagte.
    Aber bei Erwachsenen findet ja dieselbe Desensibilisierung statt. Ich schliesse mich ein. Erinnert sich noch jemand an "the hunger games" ? Was ein Skandal vor ein paar Jahren ! Jetzt ist es kalter Kaffee.

    Die Rückfragen auf eine demokratische Gesellschaft? Hm, willst Du meine ehrliche Meinung wissen? Solange es sich nur im TV und Film und Online zeigt und man sonst auch noch was Ordentliches anderes angeboten bekommt, ist es ok. Es könnte sogar als Ersatz sehr wertvoll sein, dh wenn man sich virtuell komplett abreagiern könnte, wäre das doch prima. Vorausgesetzt man kann sich disziplinieren und nicht süchtig nach immer mehr werden. Aber das ist ja bei allem so. Sucht ist immer ein Risiko.

  • Erst einmal finde ich es problematisch, die Begriffe zu vermengen. Förderung ist ein Bonus. Keine Förderung oder Einstellung der Förderung ist keine Zensur i.e.S. Zensur heißt, dass jemand mit gesetzlicher, administrativer oder sonstiger Macht sagt: Das wird nicht gedruckt, gesendet, oder eben rausgeschnitten. Wie die legendären Abschaltungen mitten in der Sendung, die der BR angeblich mehrfach in den 70ern gemacht hat (war vor meiner Zeit, kenne ich nur vom Hörensagen).

    Zweitens sehe ich nach wie vor kein gutes Beispiel für die Tendenz zu mehr Zensur oder Einschränkung (schon gar nicht von Nackheit oder Sexualitätsdarstellung) in den letzten ca. 20 Jahren. Vor 20 Jahren habe ich zwei Filme im Kino gesehen, die damals als leicht "shocking" galten, da in "mainstream-Filmen" Elemente enthalten waren, die sonst eher explizit pornographischen zugerechnet wurden ("Intimacy" und "Romance XXX"). Beide nicht ideal für das erste Date, da eher abtörnend :versteck1: Ich bin kein Cineast und seither kaum noch im Kino gewesen und verfolge das auch sonst nicht. Aber ich habe vom Fernsehen, inkl. amerikanischer Serien ganz und gar nicht den Eindruck, dass da der Puritanismus Einzug gehalten hätte. Im Gegenteil, s.o. Es gibt Serien, die man fast unter (soften) Erotica buchen könnte (True Blood oder letztes Jahr diese deutsche, die von Das Parfum inspiriert war, von der ich aber nur eine Folge gesehen habe), die jedenfalls, obwohl Hauptthema was ganz anderes ist, Sex sehr reichlich und deutlich servieren.
    Auch bei Gewaltdarstellung (zB Rome, Prison Break, Breaking Bad usw.) ist man nicht zimperlich.

    Also bei den typischen Stolpersteinen gibt es m.E. überhaupt keine Tendenzen zur Strenge. Wo genau gibt es die denn Eurer Ansicht nach?

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    (B. Pascal)

  • Ja aber so simpel war es nicht gemeint von mir.

    Hehe, von mir auch nicht. ;)

    Ich glaube, dass wir hier ein wenig aneinander vorbeireden. Ich glaube, dass eine gewisse Toleranz bei Gewalt in Bezug auf Jugendliche eher damit zu tun hat, dass von der 'Norm' abweichendes sexuelles Verhalten für eine Gesellschaft, weil sehr subversiv und wenig kontrollierbar, immer noch eher als Bedrohung empfunden wird, als Gewalt bzw. Aggressivität, die in einer doch immer noch männlich dominierten oder nach ehemals männlich gedachten Regeln funktionierenden Gesellschaft eher gebraucht werden kann. Die These mag alt sein, aber sie ist deshalb wohl noch immer nicht unrichtig.

    :wink: Wolfram

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  • So, so. Und welcher Marktmechanismus ist z. B. wirksam, wenn eine Inszenierung vom Theatertreffen ausgeladen werden soll, weil in dem betreffenden Stück ein Nazi das Wort verwendete (wofür er dann in der Aufführung »beep« sagen musste)?

    Sorry, Argonaut, habe ich nicht ganz verstanden. ...Willst Du sagen es kam das Wort "Nazi" vor und nun wurde die Inszenierung ausgeladen, aber dann doch aufgeführt und anstelle von Nazi musste "beep" gesagt werden?
    Wenn Du das meinst, dann würde ich sagen, dass im Endeffekt dennoch entweder Angst vor sinkender Nachfrage oder Angst vor gekürtzten Förderung durch den Staat * zugrunde liegen. Das erste sagtest Du ja auch selber.

    * habe ich inzwischen in anderem Beitrag erwähnt.

    Oder wenn ein Gedicht, das irgendwem aus idiotischen Gründen sexistisch erscheint, von einer Wand entfernt werden muss?

    Du hast schon irgendwie Recht: Vom Blickwinkel derjenigen, die in dem Gedicht keinen Sexismus erkannt haben, ist das Entfernen des Gedichts eine Zensur.

    Ich glaube aber, das hat mehr mit Angst des Verantwortlichen zu tun, dass er Diskriminierung angehängt bekommt. Das ist so gesehen keine Zensur.
    Warum hat er Angst? Weil es im Moment eben den Trend gibt, die Geschlechterrollen und die Geschlechter neu zu definieren. Das ist ein Randgruppentrend, der vom Staat geschützt und gefördert wird. Der Staat übt damit keine Zensur aus, sondern tut das Gegenteil, er verhindert mit der Entfernung des Sexisitischen Gedichts die Diskriminierung aus Sexistischem Grund. Das fördert den Pluralismus, denn nun darf sich die Genderisungsrandgruppe frei entfalten.

  • Erst einmal finde ich es problematisch, die Begriffe zu vermengen. Förderung ist ein Bonus. Keine Förderung oder Einstellung der Förderung ist keine Zensur i.e.S. Zensur heißt, dass jemand mit gesetzlicher, administrativer oder sonstiger Macht sagt: Das wird nicht gedruckt, gesendet, oder eben rausgeschnitten.

    Zensur ist wahrlich ein sehr weitreichender Begriff, aber wohl in einer demokratischen Gesellschaft nicht so einfach zu fassen. Natürlich setzt sich hier niemand hin und sagt: 'Das und das verbieten wir aus den und den Gründen.' Aber wenn eine Förderung zunächst einmal nach einer Art 'Gießkannenprinzip' funktionieren soll und nur künstlerische Gesichtspunkte zählen sollten, dann ist schon das Bewilligen von Fördermitteln für bestimmte, eher leicht genießbare Produkte, die keine Fragen stellen, ein Punkt, den man überdenken sollte.

    Es gibt Serien, die man fast unter (soften) Erotica buchen könnte (True Blood oder letztes Jahr diese deutsche, die von Das Parfum inspiriert war, von der ich aber nur eine Folge gesehen habe), die jedenfalls, obwohl Hauptthema was ganz anderes ist, Sex sehr reichlich und deutlich servieren.

    Ich kenne die alle nicht und kann von daher auch nichts dazu sagen. Aber vielleicht sollte man mal genau untersuchen, welche Praktiken in welchem Zusammenhang gezeigt werden. A la: die Guten machen es eher brav, die Bösen wenden andere Praktiken an. Ok, das ist jetzt sehr simpel ausgedrückt. Aber ich erinnere mich an eine Zeit in der Oper, in der die Unterdrückung der Frau immer dadurch besonders gekennzeichnet war, dass der 'Tenor' sie 'von hinten nahm'.

    Übrigens habe ich nicht gesagt, dass Sex heute nicht mehr so im Kino, im Film gezeigt wird. Nur, dass möglicherweise FSK solche Filme eher altersmäßig hochstufen als Filme mit viel Gewalt.

    :wink: Wolfram

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  • Ich glaube aber, das hat mehr mit Angst des Verantwortlichen zu tun, dass er Diskriminierung angehängt bekommt. Das ist so gesehen keine Zensur.

    In dem Fall des Gedichts geht es doch um Abwägen von unterschiedlichen GG-Paragraphen. Ich würde dabei schon annehmen, dass die Verantwortlichen keine Zensur ausüben wollen. Allerdings sollten sie sich wahrlich bewusst sein, dass das durchaus passiert, wenn sie das Gedicht 'ausradieren'.

    In dem speziellen Fall, auf den Argonaut anspielt, war es ein wirklich harmloses Gedicht. Aber trotzdem schließt sich da die Frage an, was eine Gesellschaft, die Meinungsfreiheit sehr betont, im künstlerischen Bereich eigentlich aushalten können muss.

    Wenn aufgrund von bestimmten 'Trends' in der Gesellschaft sofort Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, dann sind wir nicht mehr weit von Bücherverbrennungen entfernt, um es jetzt mal sehr radikal auszudrücken.

    :wink: Wolfram

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  • Zitat

    Wenn aufgrund von bestimmten 'Trends' in der Gesellschaft sofort Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, dann sind wir nicht mehr weit von Bücherverbrennungen entfernt, um es jetzt mal sehr radikal auszudrücken.

    vielleicht gibt es auch so etwas wie Güterabwägung? Das ist ein in demokratischen Strukturen normaler Vorgang. Dass dabei gelegentlich skurrile Ergebnisse auftreten, ist kein Argument dagegen. Das hat nichts mit „Zensur“ zu tun, auch wenn mir das Resultat nicht schmeckt. Das muss man in einer offenen Gesellschaft aushalten können. Die „andere Seite“ hat nämlich die selben Rechte. Man muss nur darüber diskutieren dürfen. (Was ja im Fall des entfernten Gomringer-Gedichtes der Fall war und ist.)


    Wer hierzulande „Zensur“ am Werke sieht, weiß nicht, was das ist. Just my five cents.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • In dem Fall des Gedichts geht es doch um Abwägen von unterschiedlichen GG-Paragraphen. Ich würde dabei schon annehmen, dass die Verantwortlichen keine Zensur ausüben wollen. Allerdings sollten sie sich wahrlich bewusst sein, dass das durchaus passiert, wenn sie das Gedicht 'ausradieren'.


    Mal abgesehen davon, dass es im Grundgesetz keine Paragraphen, sondern nur Artikel gibt, liegt der Fall beim Gomringer-Gedicht aber doch wohl etwas anders.

    Wenn ich den Vorgang richtig erinnere, gab es seinerzeit Proteste dagegen, dass das angeblich sexistische Gedicht an der Hauswand eines Gebäudes einer Berliner Hochschule stand. Es oblag also der Leitung und den zuständigen Gremien der Hochschule, darüber zu entscheiden, ob man die Darstellung des Gedichts von der Hauswand entfernt oder nicht.

    Durch die Entfernung des Gedichts von der Hauswand ist das Gedicht also nicht "ausradiert" worden, es darf ja ungehindert weiter verbreitet werden. Somit ist auch z. B. das Recht auf Kunstfreiheit durch den Vorgang nicht beschnitten worden. Es ist auch kein staatlicher Eingriff erfolgt, sondern die Leiter einer staatlich finanzierten Einrichtung haben im Rahmen ihrer autonomen Entscheidungsmöglichkeiten gehandelt. Insofern ist hier keine Zensur erfolgt.

    Trotzdem finde ich die seinerzeit getroffene Entscheidung absurd, aber das steht auf einem anderen Blatt. Man kann natürlich auch darüber diskutieren, ob eine solche Entscheidung zu Überempfindlichkeiten beiträgt, die längerfristig dann wiederum ein gleichsam zensurales Klima begünstigen.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Nachtrag:
    Daß sich bestimmte Meinungen durchsetzen und andere nicht, und manche eher eine Plattform finden als andere, ist eine Folge des ganz normalen gesellschaftlichen Diskurses. Das kann man auch hier im Forum en miniature beobachten. Davon sind natürlich auch weder offizielle Stellen noch private Veranstalter frei, denn auch diese sind ein Teil dieser Gesellschaft. Diesen normalen Vorgang als "Zensur" zu bezeichnen, weil ich in dem einen oder anderen Fall das das subjektive Gefühl habe, daß das, was mir wichtig wäre, nicht ausreichend gewürdigt wird, halte ich für komplett überzogen.

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Durch die Entfernung des Gedichts von der Hauswand ist das Gedicht also nicht "ausradiert" worden, es darf ja ungehindert weiter verbreitet werden. Somit ist auch z. B. das Recht auf Kunstfreiheit durch den Vorgang nicht beschnitten worden. Es ist auch kein staatlicher Eingriff erfolgt, sondern die Leiter einer staatlich finanzierten Einrichtung haben im Rahmen ihrer autonomen Entscheidungsmöglichkeiten gehandelt. Insofern ist hier keine Zensur erfolgt.

    Das war keine klassische Vorzensur, denn das Gedicht stand nun schonmal Jahre lang an der Wand. Aber die Unterscheidung zwischen "staatlichem Eingriff" und "autonomer Entscheidung der Leitung einer öffentlichen FH" finde ich zu subtil, um das zum Kriterium dafür, ob etwas de facto Zensur (oder sehr nahe dran) ist, oder nicht, zu machen. Ich sehe da einfach keinen wesentlichen Unterschied. Ob der Kultusminister oder der "autonome" Dekan entscheidet, dass im Seminar zur Kunstgeschichte keine Bilder von Schiele behandelt werden dürfen, weil die zu "schweinisch" sind, ist egal. Das ist nur eine Frage der administrativen Zuständigkeit. (Und es ist m.E. auch eine Art von Zensur, wenn etwas aus der Öffentlichkeit "verbannt" wird (zumal etwas, was jahrelang unproblematisch schien), man vgl. etwa, ob eine nackte Statue im öffentlichen Park oder nur in einem geschlossenen Museum stehen darf. Oder ob ich einen Film einfach so im TV zu sehen kriegen, oder ob ich ihn mit Altersnachweis o.ä. bestellen muss. Natürlich kann es gute Gründe geben, manche Filme so zu behandeln. (Wie gesagt wundert mich etwas, dass Leute über ca. 40, die sich noch an die 1980er erinnern können, meinen, wir seien bei den typischen Zensurthemen in den letzten Jahrzehnten strenger geworden, ich habe immer noch kein gutes Beispiel dafür.)

    Dagegen sehe ich einen großen Unterschied, wenn jemand, der komplett privat ein Museum finanziert, entscheidet, dort keine Schiele-Ausstellung stattfinden zu lassen. Genauso wenn ein Mäzen, einen Künstler "fallen lässt". Das kann der machen, weil er nun lieber Sportler sponsort oder weil ihm die Bilder nicht mehr gefallen oder weil er sie aufgrund einer religiösen Bekehrung plötzlich zu "schweinisch" findet. Alles blöd für den Künstler und nicht nett vom Mäzen, aber Entzug der Großzügigkeit ist m.E. fast nie eine Verletzung der Rechte derer, die davon betroffen sind (denn ein Recht auf die Großzügigkeit anderer zu haben, wäre offenbar problematisch). So ähnlich sehe ich das auch bei staatlicher Filmfinanzierung. Wobei ich nach wie vor bezweifle, dass es da in den letzten Jahr(zehnt)en vermehrt Kürzungen aufgrund klassischer zensurierter Themen (Gewalt, Sex, Religion etc.) gegeben hat.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • uns mag das eine oder andere durchaus moralinsauer aufstoßen. Aber Moral ändert sich. War schon immer so. Wenn man alt genug ist, bekommt man das halt mit.

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Die Frage war aber doch nicht, ob nicht Filme u.a. mehr PC-Predigten enthalten als in früheren Zeiten, sondern ob typischerweise restringierte Themen mehr oder weniger vorkommen. Ich sehe das exakt umgekehrt wie angedeutet. In der Tat bin ich immer wieder überrascht, wie in den knapp 30 Jahren seit meiner Teenagerzeit, die ich einigermaßen zu überblicken meine, sich Dinge geändert haben. Und das betrifft eben nicht nur die extrem gewachsene Sensibilität auf manchen Bereichen (die man als Über-PC oder moralinsauer sehen mag), sondern eben auch die nahezu gleichermaßen gewachsene Freizügigkeit (nicht nur, aber doch hauptsächlich auf den sexuellen Bereich bezogen). Z.B. "Das Schweigen der Lämmer" ist vielleicht heute auch noch "edgy", aber vor knapp 30 Jahren war das ein extremer Schocker auf so vielen verschiedenen Gebieten.
    Mein Lieblingsbeispiel daraus ist etwas völlig banales. Ich habe den Film 1991 zufällig mit mir vorher kaum bekannten Leuten gesehen. In einer Szene sieht man, dass der Mörder (ein mörderischer Transvestit, der seine Opfer schindet, um sich Kleidung aus der Haut zu schneidern) ein Brustwarzenpiercing hat. Das wurde meinem Eindruck nach damals als ein relativ klares Indiz verstanden: perverses Schwein. Vielleicht ein Jahr später hatte Axl Rose oder so ein Rocksänger eins und 1996 war es unter den etwas waghalsigeren coolen Typen der "akademischen Jugend" zwar noch ein "Hingucker", aber eben auch nicht mehr extrem. Fünf Jahre von "pervers" bis "cool".

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  • Die Frage war aber doch nicht, ob nicht Filme u.a. mehr PC-Predigten enthalten als in früheren Zeiten, sondern ob typischerweise restringierte Themen mehr oder weniger vorkommen. Ich sehe das exakt umgekehrt wie angedeutet. In der Tat bin ich immer wieder überrascht, wie in den knapp 30 Jahren seit meiner Teenagerzeit, die ich einigermaßen zu überblicken meine, sich Dinge geändert haben. Und das betrifft eben nicht nur die extrem gewachsene Sensibilität auf manchen Bereichen (die man als Über-PC oder moralinsauer sehen mag), sondern eben auch die nahezu gleichermaßen gewachsene Freizügigkeit (nicht nur, aber doch hauptsächlich auf den sexuellen Bereich bezogen).

    sehe ich auch so. "Ändern" bedeutet ja nicht, daß sich alle Bereiche gleicherweise in die gleiche Richtung ändern. War vielleicht missverständlich

    viele Grüße

    Bustopher


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  • Mal abgesehen davon, dass es im Grundgesetz keine Paragraphen, sondern nur Artikel gibt,

    Sorry, bin kein Jurist.

    Durch die Entfernung des Gedichts von der Hauswand ist das Gedicht also nicht "ausradiert" worden, es darf ja ungehindert weiter verbreitet werden. Somit ist auch z. B. das Recht auf Kunstfreiheit durch den Vorgang nicht beschnitten worden. Es ist auch kein staatlicher Eingriff erfolgt, sondern die Leiter einer staatlich finanzierten Einrichtung haben im Rahmen ihrer autonomen Entscheidungsmöglichkeiten gehandelt. Insofern ist hier keine Zensur erfolgt.

    Wenn ein Gedicht von einer Hauswand entfernt wird, kann man es wohl schon als ausradieren bezeichnen. Ich kann natürlich auch übertünchen, übermalen etc. benutzen. Ich weiß nur leider nicht, welche Technik angewandt wurde.

    Es gibt ja nicht nur staatliche Zensur, sondern auch Selbstzensur, 'Schere im Kopf', vorauseilender Gehorsam usw. Aber wenn ein Kunstwerk aus dem öffentlichen Raum und damit wenigstens an dieser Stelle dem öffentlichen Blick entzogen wird, weil sich eine mehr oder weniger große Gruppe daran stört, dann ist das für mich ein Akt, der einer Zensur doch zumindest sehr nahekommt.

    Die Wirkung eines Kunstwerks wird durch Maßnahmen Dritter, die in ihrer staatlichen Funktion handeln, eingeschränkt, verhindert. Das, wie gesagt, geht sehr in die genannte Richtung.

    :wink: Wolfram

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