Was eigentlich ist Kultur?

  • Dann wären Krieg oder Mord auch Kultur.

    Davon bin ich überzeugt. Ich schrieb ja schon, zu Kultur (im weiteren Sinne) gehört auch das Schlechte und Böse. Das wollen wir nur nicht sehen bzw. zulassen.

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Karl Heinz Stockhausen sagte über die Anschläge vom 11. September 2001:

    Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat …

    Dafür wurde er scharf kritisiert. EIn esoterischer Spinner? Aber nüchtern betrachtet, hat er so Unrecht? Ich meine, ich hätte das (besondes so zeitnah) nicht so ausgedrückt, aber in gewisser Hinsicht hat er sicherlich Recht. Das schließt ja überhaupt nicht aus, dass es sich dabei um ein abscheuliches Verbrechen handelt. Das hat er auch nicht bestritten. Aber ich denke, auch so ein "perfektes" Verbrechen ist "Kultur". Passt nur nicht zu den "schönen Künsten".

    maticus

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    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Davon bin ich überzeugt. Ich schrieb ja schon, zu Kultur (im weiteren Sinne) gehört auch das Schlechte und Böse. Das wollen wir nur nicht sehen bzw. zulassen.
    maticus

    Du kannst aber nicht jede menschliche Handlung als Kultur deklarieren. Kultur wird es ab da, wo es über den reinen Zweck hinausgeht. Essen nur zum Sattwerden ist keine Kultur. Fahrplan lesen ist keine Kultur. Zur Straßenbahn rennen ist keine Kultur.

    Übrigens war unsere kindlicher "Krieg" gegen das Nachbardorf durchaus Kultur. Es hatte ja keinen rationalen Zweck, es ging mehr darum, die eigene Identität zu stärken.

    Sex als Triebbefriedigung ist natürlich auch keine Kultur. Sex als Freizeitbeschäftigung aber schon.


    Thomas

  • Es hatte ja keinen rationalen Zweck, es ging mehr darum, die eigene Identität zu stärken.

    Ist das kein Zweck?

    maticus

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    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Du bist also eher für die engere Begriffsbildung von Kultur. Also nicht "Kultur vs. Natur" oder "Alles von Menschen gemachte". Das ist dir für "Kultur" zu allgemein. Okay. Aber Fußball z. B. zählst du schon zur Kultur. Aber warum nicht z. B. auch einen perfekt geplanten und ausgeführten Mord (der keinen unmittelbaren Zweck hat)? Ein gut geschriebener Krimi, wo genau ein solcher beschrieben wird, zählst du wahrscheinlich schon zu Kultur. Wo ist da jetzt genau der Unterschied? Und warum soll das "spielerische" Kämpfen von Katzenjungen nicht Kultur sein?

    maticus

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  • Du kannst aber nicht jede menschliche Handlung als Kultur deklarieren. Kultur wird es ab da, wo es über den reinen Zweck hinausgeht. Essen nur zum Sattwerden ist keine Kultur. Fahrplan lesen ist keine Kultur. Zur Straßenbahn rennen ist keine Kultur.

    Tante Wiki will wissen:

    Zitat

    Das Wort „Kultur“ ist eine Eindeutschung des lateinischen Worts cultura („Bebauung, Bearbeitung, Bestellung, Pflege“), das eine Ableitung von lateinisch colere („bebauen, pflegen, urbar machen, ausbilden“) darstellt.

    Ich denke da zunächst an Agrikultur, "den Boden kultivieren". Das ist schon "reiner Zweck". Jedenfalls liegt der Zweck des Ackerbaus nicht in der ästhetischen geometrischen Anordnung der Parzellen.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Wie lange hat es eigentlich gedauert, bis Europäer und (aus Europa abstammende) Amerikaner anerkannt haben, dass die Ureinwohner von Afrika/Amerika/Australien AUCH Kulturen entwickelt haben - aber eben in einer anderen Form - und nicht kulturlose Wilde sind.

    das "Problem" dürfte zumindest in Lateinamerika weniger darin gelegen haben, daß man die Ureinwohner als "kulturlos" angesehen hätte, sondern daß die Kultur eine heidnische war. Wie weit die kulturelle Anerkennung gehen konnte, zeigt schön eine berühmte Tagebuchnotiz von Dürer, der in Brüssel Gegenstände aus Amerika gesehen hatte:

    Diese Ding sind alle köstlich gewesen, daß man sie beschäzt hundert tausend Gulden werth. Und ich hab aber all mein Lebtag nichts gesehen das mein Herz also erfreuet hat, als diese Ding. Dann hab ich darin gesehen wunderliche künstlich Ding, und hab mich verwundert der Subtilen Ingenia der Menschen In frembden Landen, und der Ding weiß ich nit auszusprechen, die ich do gehabt hab.


    es war z.B. auch regelrecht eine Mode unter den Mönchen, Grammatiken amerikanischer Sprachen zu verfassen.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ist die Fähigkeit, Politik zu betreiben, eine Kulturtechnik und damit Inhalt dieses Forums?

    Ich erinnere an Regel 11:

    Weltanschauliche, politische oder andere von den Kernthemen des Forums abweichende Diskussionen sind nur insoweit zulässig, als sie mit den Kernthemen des Forums in unmittelbarer Verbindung stehen. :wink:

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Ist die Fähigkeit, Politik zu betreiben, eine Kulturtechnik und damit Inhalt dieses Forums?

    Um die erste Hälfte zu beantworten: ja, natürlich ist Politik Kultur.

    Ich denke, die Verwirrung hier rührt von den vielfältigen Definitionen und Bedeutungen von "Kultur" her. Wenn man, besonders hier im Forum, von einer kulturellen Veranstaltung spricht, dann meint man damit wohl kaum eine politische. Allerdings ist nicht einmal das so eindeutig klar: z. B. würde ich politisches Kabarett ganz klar als Kultur auch im engeren Sinne dieses Forums ansehen, auch wenn sich eine politische Message dahinter verbergen mag. Hier scheint also die Verpackung die Kultur (im künstlerischen Sinne) zu machen.

    maticus

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    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
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                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Bei Kultur kommt es nicht darauf an, dass man etwas macht, sondern wie man es macht. Sonst hätten auch Stechmücken oder Muscheln eine Kultur.

    Beim Menschen fängt das eben irgendwann im Lauf seiner Kindheit an.

    Der Wikipedia-Artikel geht einfach vom Ursprung des Wortes aus.
    In den Wald gehen und Beeren sammeln: Keine Kultur. Beeren züchten: Kultur.

    So wird das Wort heute aber nicht mehr benutzt.

    Dass Nichteuropäer keine Kultur hätten, wurde nie behauptet. Die nichteuropäische war nur nicht so weit entwickelt wie die europäische. Heute ist es die "westliche Kultur", und sie ist immer noch weltweit dominierend.

    Bin mal gespannt, ob sich hier wenigstens die Gesichtsmasken durchsetzen werden. Morgen soll's losgehen.


    Thomas

  • Bei Kultur kommt es nicht darauf an, dass man etwas macht, sondern wie man es macht.

    Das ist Deine Definition.

    Ich behaupte: Wenn der Schulmusikstudent im 5. Semester seine erste dreistimmige Fugenexposition schreibt, dann mag die so schlecht sein, wie sie will - es ist in jedem Falle Kultur.

    Oder auf welcher Ebene wolltest Du Dein "Wie" ansiedeln?

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Nein. Jede denkbare Definition von Kultur setzt voraus, dass Wissen dauerhaft weitergegeben werden kann, ohne dass der jeweilige Empfänger unmittelbar anwesend ist, wenn etwas „passiert“ - es ihm also nicht unmittelbar am Objekt demonstriert werden muss (letzteres machen auch höhere Tiere, z. B . bei der Jagd). Das setzt zwingend eine Sprache voraus.

    Kann sein, bin mir aber nicht sicher. Ich würde sagen, dass Sprache eine Begleiterscheinung von Kultur ist, aber kein wesentliches Kriterium. Denn für zB Musik selbst und, nach Deiner eigenen Definition, sogar für die Übermittlung von Musik braucht man keine Sprache.

    Tiere haben jedenfalls keine Kultur. Punkt.

    Es kommt auf die Definition von Kultur an. Ich werde unten etwas dazu schreiben.

    :wink:

  • in Beitrag Nr 6 schrieb ich:


    Ich teile für mich ein in
    1) Kultur im weitesten Sinne = alles vom Menschen (von der Art Homo Sapiens) geschaffene und gedachte (abstrakte Konzepte wie auch reale Objekte) und alles, was der Mensch tut.

    2) Kultur einer spezifischen Menschengruppe (Beispiele: einer bestimmten Hochkultur, eines bestimmten Naturvolks, einer neuzeitlichen Nation) - soll heissen: ihre Gepflogenheiten (einschliesslich „Zeitvertreib“), abstrakte Konzepte und reale Erfindungen und geschaffene Objekte.

    3) Kunst = Kultur im engsten Sinne : die feinen Künste und die trivialen Künste (hier gibt es natürlich fliessende Übergänge und Spielraum für besonderes individuelles Empfinden) .

    Ich glaube das ist als Ausgangsbasis für eine konstruktive Diskussion passend.....

  • Dem würde ich zustimmen.

    Ich nicht, zumindest nicht, wenn es so gemeint ist, dass die Errichtung eines Ameisenstaates eine kulturelle Leistung ist: Ameisen entscheiden sich nicht dazu, einen Ameisenstaat zu errichten, sondern sie tun, es, weil sie Ameisen sind und es als solche gar nicht anders können. Sie wissen dabei nicht, dass sie es können, und sie wissen auch nicht, wie ihr Staat funktioniert. Es gibt keine Ameisen derselben Art, die sich entscheiden, lieber in Kleinfamilien als in einem Insektenstaat zu leben, und verschiedene Staaten derselben Art stehen auf derselben Entwicklungsstufe. Eine Entwicklung kann zwar dennoch stattfinden, aber nur evolutionär mit der Art. Auch ein Spinnennetz ist keine kulturelle Leistung, weil es Spinnen nun mal angeboren ist, Netze zu spinnen. So ein Netz kann ein bewundernswertes, raffiniertes Gebilde sein, aber die Bewunderung gebührt kaum der einzelnen Spinne, die als Exemplar ihrer Art auf die eine Fähigkeit zur Nahrungsgewinnung festgelegt ist, und die, weil sie von dieser besonderen Fähigkeit gar nichts weiß, diese auch nicht "kulturell" weiterentwickeln kann. Menschen müssen aber weder Fischernetze knüpfen, noch Ackerbau oder Viehzucht betreiben, sondern sie entscheiden sich für das eine oder das andere oder erfinden noch etwas ganz anderes, verbessern dabei individuell ihre Techniken und tauschen ihre Erfahrungen auch über die Generationen aus. Mir scheint, dass ein Kulturbegriff, der diesen Unterschied negiert, nicht sehr praktikabel wäre, und mir ist eine solche Definition auch noch nie untergekommen. Der große Gary Larson hat das übrigens sehr schön auf den Punkt gebracht in einem wunderbaren Cartoon, in dem ein Krokodil auf der Anklagebank eines Gerichts zu seiner Verteidigung sagt: "Natürlich war es heimtückischer Mord. Ich bin ein Reptil!". Insofern ist auch ein Mord eine negative kulturelle Errungenschaft, die Jagd eines Krokodils aber nicht. Es gibt Versuche mit isoliert aufgezogenen Eichhörnchen, die nie einen Baum oder unterschiedliche Jahreszeiten kennengelernt haben, die aber dennoch von dem verabreichten Futter einen "Wintervorrat" anlegen. Eine "kulturelle Leistung" kann das doch wohl kaum sinnvoll genannt werden.

  • Informationsweitergabe bei Tieren ist Situationsbezogen (z. B. Warnung) oder hochspezialisiert (Tanz der Bienen). Das ein Reh einem anderen mitteilt, dass es gestern einen Wolf von weitem gesehen hat, ist aber eher unwahrscheinlich

    Auch das ist nicht so eindeutig. Bei Rabenkrähen (als Beobachtungsspezies, also wohl nicht per se ausschließlich bei ihnen) konnte nachgewiesen werden, daß indirekte Informationsweitergabe über Bedrohungsmuster stattfindet, also Tiere, die nie diese Bedrohung (nebenbei: das geht auch bei anderen Verhaltensabläufen) sie erkennen konnten, ohne daß ein Tier, welches diese Muster erlebt hatte, anwesend war. Ähnlich wie andere erlernte Verhaltensweisen (bspw. Werkzeugnutzung bei Bonobo-Chimpansen) hat diese Informationsweitergabe auch vertikal (in der Erbfolge) funktioniert ...
    Ein anderes Beispiel ist die Informationsübermittlung der Wölfe bei der Rudeljagd, welche noch nicht einmal Sichtkontakt vorraussetzt ...

    Der Kulturbegriff ist - Erkenntnis- und Selbstbetrachtungsbedingt vielleicht - menschenzentriert. Daran ändert auch eine Betrachtung der Natur als andere Erscheinungsform menschlichen Daseins nichts. Das zeugt eher von einem anderen Respekt gegenüber der Natur. In hiesigen Breiten standen vielleicht eher die den zu trotzenden Naturgewalten im Mittelpunkt der Betrachtung.

  • Bei den Bonobos hat Lamarckismus bzgl. Werkzeugnutzung funktoniert?

    Wenn die Termiten eine Kultur hätten, gäbe es Analogien zu Romanik und Gotik bei den Termitenhügeln, d.h. es gäbe eine eigenständige Entwicklung der Bauart, die nicht direkt an biologische Unterschiede verschiedener Termitenspezies gekoppelt wäre. Ich meine, man hätte mal Nestbau"kultur" bei bestimmten Vögeln vermutet, aber es waren wohl eher individuelle Variationen. Nichts, das innerhalb der Tierfamilien, -stämme etc. weitergegeben worden wäre.
    Menschen haben einigen gefangenen Menschenaffen Zeichensprache beigebracht, aber kein heute noch bestehender Menschenaffenstamm (außer Homo sapiens sapiens) hat eine Sprache entwickelt.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Gibt es bei Tieren auch Kultur?


    Wenn ich mir einen Moment erlaube, Kulturganz grob zu definieren, als alles was der Mench schafft, tut und denkt, mit anderen Worten: als alles, was es ohne den Menschen nicht geben würde, dann trifft diese Definition auch für Tiere zu.

    Denn Tiere bauen Dämme und Nester, und manche benutzen sogar rudimentäre Werkzeuge; alles Dinge, die es ohne das betreffende Tier nicht geben würde. Wie ein anderer Forist zusätzlich schon im Thread „Wandern“ bemerkte: Tiere spielen sogar oder vertreiben sich die Zeit, ähnlich wie der Mensch auch.


    Was ist aber nun der wesentliche Unterschied zwischen Tier und Mensch in dieser Beziehung?


    Wie wir wissen macht jede bestimmte Vogelart, seit es sie gibt, mehr oder weniger ein und dasselbe Nest; man kann die Art eventuell sogar daran erkennen, je nachdem wie deutlich verschieden oder besonders ihre Nestbauten sind. Nach unserer obigen Definition könnte dies eine kulturelle Aktivität darstellen, denn der Vogel schafft etwas, was es ohne sein Tun nicht gäbe.


    Die Beschaffenheit dieses Nests bleibt allerdings immer in etwa gleich, egal wann und wo diese Vogelart lebt. Mit anderen Worten, wenn wir in einer Zeitmaschine 3.000 Jahre zurückreisten, trotzdem würden wir, solange wir wirklich diese Vogelart betrachten, ein typisches Nest dieser Art finden. Dasselbe träfe zu, wenn wir zusätzlich auch noch den Ort wechseln würden, also zB vom Jahr 2020 in London 3.000 Jahre in die Vergangenheit nach zB Kleinasien reisten, soweit es diese Vogelart dort auch verbreitet wäre.


    Wenn wir dies aber mit menschlichem Schaffen vergleichen, dann erkennen wir sofort, dass ein Wechsel des Orts sowie des Zeitalters von der Gegenwart in London in die Antike in zB Kleinasien sehr grosse und wesentliche Unterschiede aufzeigen würde. Unsere menschlichen „Nester“ sähen ganz bestimmt so wesentlich anders aus, dass ein unvoreingenommener Ausserirdischer nicht mehr unbedingt davon ausgehen könnte, dass sie von der selben Art, nämlich auch von Homo Sapiens gebaut worden seien. (Oder er würde eventuell annehmen, dass es mehrere Arten des Homo sapiens gäbe. ) Er würde sich fragen, woher diese Unterschiede innerhalb derselben Art kommen, denn bei Tieren könnten sehr viel geringere Unterschiede ein Indiz für unterschiedliche Arten darstellen.


    Warum sich unser Schaffen heute so anders manifestieren kann als vor 3000 Jahren, liegt natürlich an unserem abstrakten Denken. Unser Überlebenstrieb leitet dieses Denken an, immer sichere und bequemere Bedingungen zu schaffen. Dass Tiere dies nur sehr begrenzt innerhalb ihrer biologischen Adaption tun können, liegt an ihrer sehr beschränkten oder enventuell sogar gar nicht vorhandenen Fähigkeit zur Abstraktion.


    Aber dadurch wird klar, dass die kulturellen Manifestationen von Tieren, ihre Nester, Dämme und Werkzeuge, sich nicht von ihrer biologischen Art emanzipieren können, sondern untrennbar mit der biologischen Adaption des Tieres verknüpft sind. Wenn man dies nun von einem anderen Blickwinkel ansehen möchte, dann heisst dies, dass die Kultur von Tieren zu ihrem Programm des Überlebens und Arterhaltung gehören. Ein Biber ohne Damm kann die Art nicht erhalten; ein Vogel ohne sein spezifisches Nest und ein Kaninchen ohne Bau ebenso wenig.


    Aber ein Homo sapiens braucht nicht unbedingt ein modernes Haus, oder überhaupt ein Haus, wenn er nur in den Tropen leben würde, und das Erhalten der Art ist schon gar nicht abhängig davon, ob die Oper heute geöffnet ist oder nicht oder wann man zuletzt Hemingway gelesen hat.


    Es gibt also beim Tier die absolute, oder primäre Notwendigkeit seiner ganz speziellen und immer gleichbleibenden Kultur, wogegen es sich beim Menschen bei Kultur nur um eine Beqeumlichkeit handelt und um eine Reduzierung des Todesriskikos, welche einhergeht geht mit einer verlängerten Lebenserwartung. Vieles, was wir deshalb als menschliche Kultur im weitesten Sinne ansehen, hat deshalb nur sekundär oder indirekt mit unmittlebarem Überleben zu tun, denn man braucht, wie gesagt, in den Tropen kein Haus um lang genug zu überleben, um die nächste Generation bis zum Erwachsenenalter heranzuziehen.


    Es gibt aber nun beim Menschen sogar Kultur im engsten Sinne, die feinen und trivialen Künste, die von den meisten Menschen bewusst nur im entferntesten Sinne, wenn überhaupt, als überlebenswichtig angesehen werden. Viele können auf den ersten und auf den zweiten Blick nicht erkennen, wie sie dem Menschen ermöglichen seine Art zu erhalten, weder primär noch sekundär im Sinne von kurzzeitlicher und langzeitlicher Reduzierung von Todesriskio.


    Allerdings, und das habe ich im Thread “Wandern....Kultur oder einfach nur Bewegung an der frischen Luft?“ angedeutet, bin ich persönlich davon überzeugt, dass gerade Kunst, wie auch bestimmte andere Arten von Zeitvertreib, zwar primär und sekundär zweckfrei sind im Bezug auf Überleben, aber dass es eine tertiäre Wichtigkeit gibt. Die Künste steigern nämlich das Lebensgefühl und den Lebensgenuss für den modernen Menschen exponentiell, und dies wirkt sich sowohl positiv auf die individuelle Lebenslänge von einzelnen Personen als auch postiv auf unser Überleben als Art aus.


    Insofern befinden sich, wie schon ein anderer Forist im "Wandern...." Thema sagte, Natur (biologische Adaption beim Tier) und Kultur (die feinen Künste beim Menschen) auf einem Kontinuum und stellen jeweils die beiden Endpole darauf dar. Wo genau auf diesem Kontinuum (und ob überhaupt) „Natur“ aufhört und „Kultur“ anfängt, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.


    Aber eins steht felsenfest: Was dem Biber sein Damm ist, ist für mich der Lohengrin. :)

    :wink:

  • Wenn ich mir einen Moment erlaube, Kulturganz grob zu definieren, als alles was der Mench schafft, tut und denkt, mit anderen Worten: als alles, was es ohne den Menschen nicht geben würde, dann trifft diese Definition auch für Tiere zu.

    Große Klammer auf.

    Das ist natürlich falsch ... ;)

    ... wenn Kultur als alles das definiert wird, was der Mensch schafft, tut und denkt, dann ist das Schaffen, Tun und Denken der Tiere eben keine Kultur.

    Große Klammer zu.

    Wahrscheinlich geht es um den Unterschied zwischen Aussagen und Aussageformen.

    "Kultur ist das, was der Mensch schafft, tut und denkt" ist eine Aussage.

    "Kultur ist das, was X schafft, tut und denkt" ist eine Aussageform, sofern X eine Variable ist.

    Nix für ungut. :verbeugung2:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

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