Was eigentlich ist Kultur?

  • Aber ein Homo sapiens braucht nicht unbedingt ein modernes Haus, oder überhaupt ein Haus, wenn er nur in den Tropen leben würde, und das Erhalten der Art ist schon gar nicht abhängig davon, ob die Oper heute geöffnet ist oder nicht oder wann man zuletzt Hemingway gelesen hat.

    Das heißt aber nur, dass Menschen freier wählen können, auf welche Weise sie ihr Überleben (und meinetwegen das der »Art«, wobei ich nich so genau weiß, was das sein soll) sichern wollen. Worauf sie aber genauso angewiesen sind wie die Vögel auf die angeborene Fähigkeit, Nester zu bauen oder auf ihre Federn, die sie vor Unterkühlung schützen, ist sein Denkvermögen. Mit diesem kann er nämlich die Defizite, die ihn von anderen Tieren unterscheiden, ausgleichen: Die Fähigkeit, Häuser zu bauen, Feuer zu machen, Gedichte zu schreiben, ist den Menschen nicht angeboren, sie haben aber die Fähigkeit, das zu erlernen. Noch wichtiger ist allerdings: Sie haben die Fähigkeit, sich etwas auszudenken, was es nicht gibt, die Folgen einer bestimmten Handlung vorauszuberechnen, und danach zu entscheiden, ob sie das ausführen oder nicht. (Tiere haben diese Fähigkeit übrigens auch in mehr oder weniger hohem Maße, als Unterscheidungskriterium ist die also nicht vollkommen tauglich, aber für den Moment mag es mal so gehen.)

    Das heißt jedenfalls, dass der Unterschied nicht so groß ist. Die einen haben dies, die anderen haben das. Die einen haben die angeborene Fähigkeit, staunenswerte Bauwerke und verblüffend durchorganisierte Staatssysteme zu errichten, ohne eigentlich (»eigentlich« muss natürlich in Wahrheit »nach menschlichem Verständnis« heißen) zu wissen, was sie tun. Die Menschen, denen diese Fähigkeiten nicht gegeben sind, haben stattdessen die Intelligenz, und diese wiederum ist die Fähigkeit, in Gedanken eine Welt zu entwerfen, die es nicht gibt, und die Mittel zu ihrer Verwirklichung er ermitteln und zu erfinden.

    Und diese Welt, die Menschen erdacht und verwirklicht haben, ist Kultur. Wobei man beachten muss, dass der Vorgang keineswegs so bewusst und planmäßig vonstatten geht, wie dieser Satz zu suggerieren scheint. Da lässt sich übertragen, was ein großer Mann (den ich leider vergessen habe) als Definition der Geschichte anbrachte: Kultur ist das, woran alle arbeiten, und wobei am Ende herauskommt, was keiner gewollt hat.

    (Nebenbei und nicht eigentlich zum Thema gehörend: Da wir gerade bei Ameisen sind, eine kleine Geschichte, die mir zu denken gegeben hat, was die angeblich so sichere Differenz zwischen Menschen und Tieren betrifft. Wir haben auf unserem Grundstück große Ameisen, die in sehr ausgebauten Gängen unter der Erde leben. Das Problem ist, dass sie dadurch einige kleinere Bauten (Trennmauern im Garten, die Auffahrt vor dem Tor, das Tor selbst), die kein tiefes Fundament haben, unterhöhlen. Deshalb sprühe ich in regelmäßigen Abständen Ameisenspray in diese Löcher, die freilich kurze Zeit später schon wieder besiedelt werden. Beim Einsatz dieses Sprays habe ich nun beobachtet, dass zunächst ziemlich viele dieser Ameisen in panischem Schrecken auf dem Bau laufen, vermutlich um saubere Luft zu finden, dann aber ein großer Teil in den Bau zurückkehrt, um andere Ameisen herauszuholen, die es, warum auch immer, nicht schaffen. Und zwar bemerkenswerter Weise ausschließlich solche, die noch leben. Am Ende sind dann zwar alle tot, aber darum geht es nicht. Was ich sehe ist, dass diese Ameisen offensichtlich ein Bewusstsein der Todesgefahr haben und ihre Kollegen retten wollen. Würden sie rein instinktiv und im Interesse der »Erhaltung der Art« handeln, würden sie sich nicht noch einmal dem Gift aussetzen, das sie dann auch tötet. Es scheint da also etwas anderes im Spiel zu sein.)

  • Die Geschichte mit den Ameisen gefällt mir!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Du kannst aber nicht jede menschliche Handlung als Kultur deklarieren. Kultur wird es ab da, wo es über den reinen Zweck hinausgeht.

    Im Krieg ist der reine Zweck der Sieg. Das kann man nun durch reines Haudrauf zu erreichen versuchen oder aber durch ausgeklügelte Taktik und Strategie. Und da würde ich schon von Kultur sprechen, auch wenn sie uns vielleicht nicht passt.

    Ich denke da zunächst an Agrikultur, "den Boden kultivieren". Das ist schon "reiner Zweck". Jedenfalls liegt der Zweck des Ackerbaus nicht in der ästhetischen geometrischen Anordnung der Parzellen.

    Auch hier würde ich den Unterschied machen zwischen reinem 'Saatkorn in die Erde' und dem Vorhaben, den Boden so vorzubereiten, die Saat so auszubringen, dass der Ertrag möglichst groß ist.

    Wenn man, besonders hier im Forum, von einer kulturellen Veranstaltung spricht, dann meint man damit wohl kaum eine politische.

    Ist vielleicht ein Extrembeispiel, aber waren die Reichsparteitage in Nürnberg nicht auch großes kulturelles Spektakel, womit ich nicht das Beiprogramm meine, sondern die Massenaufmärsche? Allerdings wieder einmal ein Beispiel für Negativkultur.

    Bei Kultur kommt es nicht darauf an, dass man etwas macht, sondern wie man es macht.

    Ich behaupte: Wenn der Schulmusikstudent im 5. Semester seine erste dreistimmige Fugenexposition schreibt, dann mag die so schlecht sein, wie sie will - es ist in jedem Falle Kultur.

    Ich glaube, Ecclitio hat da schon recht, allerdings müsste man ergänzen, dass es auch um Fähigkeiten und Möglichkeiten geht. Der Student im 5. Semester, wenn es denn kein Wunderkind ist, kann sicherlich nicht mit den besten Leistungen auf diesem Gebiert mithalten. Er schafft aber nach seinen Möglichkeiten. Genauso wie der Bauer der Frühzeit, der wirklich nur das Korn in die Erde steckte, in der Hoffnung, dass es diesmal klappen wird. Für seine Zeit, für sein Wissen, seine Möglichkeiten eine enorme kulturelle Leistung, während man heute die Augen verdrehen würde.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Was ich sehe ist, dass diese Ameisen offensichtlich ein Bewusstsein der Todesgefahr haben und ihre Kollegen retten wollen. Würden sie rein instinktiv und im Interesse der »Erhaltung der Art« handeln, würden sie sich nicht noch einmal dem Gift aussetzen, das sie dann auch tötet. Es scheint da also etwas anderes im Spiel zu sein.

    Ich bin nicht sicher, aber soweit ich mich an einen Artikel erinnere, den ich dazu mal gelesen habe, spricht man im Zusammenhang von Insektenstaaten von "Superorganismen", die als Ganzes zu Leistungen fähig sind, die den einzelnen Mitgliedern unmöglich wären. Voraussetzung dazu ist die Selbstaufgabe dieser Einzelmitglieder zugunsten des Ganzen. Insofern wäre es wohl doch möglich, dass Deine Ameisen im Interesse der Arterhaltung handeln, aber auf Kosten der Selbsterhaltung.

  • Zu den Ameisen habe ich mal eine ähnliche Geschichte gehört. Von einer Ameisenforscherin in einer Talk-Show. Sie hatte ein Ameisennest umpflanzen müssen, und so ca. einen Kilometer versetzt. Es ist bei so einer Aktion nicht zu vermeiden, dass ein gewisser Prozentsatz von Ameisen dabei zurückbleibt. Die Forscherin hat beobachtet, dass einige Ameisen von dem neuen Haufen zum alten zurückliefen (was wohl schon nicht-trivial war, aber die Ameisen haben den Weg, der wohl auch kein "direkter" war, anscheinend ohne Schwierigkeiten gefunden), und vom alten Nest haben sie "Kameraden" abgeholt und zum neuen Nest mit genommen. Die Forscherin fand dies sehr beeindruckend, und das fand ich auch. Sie erklärte, es schien, als würden sie ihre Freund / Verwandten abholen. Dass es jedenfalls noch sehr viel unerklärliches für uns gäbe.

    maticus

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                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Ich bin nicht sicher, aber soweit ich mich an einen Artikel erinnere, den ich dazu mal gelesen habe, spricht man im Zusammenhang von Insektenstaaten von "Superorganismen", die als Ganzes zu Leistungen fähig sind, die den einzelnen Mitgliedern unmöglich wären. Voraussetzung dazu ist die Selbstaufgabe dieser Einzelmitglieder zugunsten des Ganzen. Insofern wäre es wohl doch möglich, dass Deine Ameisen im Interesse der Arterhaltung handeln, aber auf Kosten der Selbsterhaltung.

    Ein interessanter Aspekt. Vielleicht ist es so. Allerdings wäre das dann verheerend, denn dadurch wird die ganze Population zuverlässig ausgerottet, was der Arterhaltung eigentlich nicht dienlich sein kann. (Den Begriff der Selbstaufgabe würde ich hier nicht einsetzen, weil der das Bewusstsein eines Selbst voraussetzt.)

    Allerdings bildet dann auch die Menschheit einen Superorganismus und eigentlich alles, was ist. Dann ist das Besondere am Menschen, dass er das Eigeninteresse über das Interesse des Organismus stellen kann. Das ist immerhin eine Aussage.

    Aber das war wirklich nur eine Nebenbemerkung, eine Sache, über die ich nicht viel nachgedacht habe, ich schaue nur hin. Immerhin erhebt sich dabei die Frage, wie es nun mit der Freiheit und Autonomie des Individuums wirklich bestellt ist. Unterscheiden wir uns wirklich so sehr von den Ameisen? Oder ist der Unterschied lediglich, dass wir dem Irrtum des principium individuationis unterliegen?

  • Worauf sie aber genauso angewiesen sind wie die Vögel auf die angeborene Fähigkeit, Nester zu bauen oder auf ihre Federn, die sie vor Unterkühlung schützen, ist sein Denkvermögen. Mit diesem kann er nämlich die Defizite, die ihn von anderen Tieren unterscheiden, ausgleichen:

    Ich bin absolut Deiner Meinung !
    Kann sein, dass ich es schonmal wo anders hier im Forum geschrieben habe:
    Der Mensch ist gemessen an anderen biologischen Arten relativ hilflos. Er hat keine Krallen, keine scharfen Zähne, keine Flügel, er hat keine Tarnfarben und kein Fell, er kann nicht ebsonders gut oder schnell klettern, er kann nicht schnell rennen. Wenn er angegriffen wird, ohne eine Waffe zu haben, ist er so gut wie verloren.
    Wie aber Argonaut sagt: die Waffe des Menschen ist sein Denkvermögen. Er kann damit nicht nur Waffen, Fallen und Festungen erfinden, er kann sogar in die nähere und weitere Zukunft schauen und sich vorstellen, was er alles brachen könnte und tun könnte. Er kann damit nicht nur Objekte schaffe, sondern Strategien entwickeln.
    Je weiter dann die umnittelbaren Lebensgefahren in die Ferne rückten, je mehr Energie hatten wir, um unser Denken auch für feinere Dinge zu verwenden.

  • Ein interessanter Aspekt. Vielleicht ist es so. Allerdings wäre das dann verheerend, denn dadurch wird die ganze Population zuverlässig ausgerottet, was der Arterhaltung eigentlich nicht dienlich sein kann.

    Die Ameisen in Deinem Garten laufen zurück, um die Kollegen zu retten, obwohl sie wissen, dass dort eine Gefahr ist oder war. Das zeugt entweder von Empathie oder von biologisch-adaptivem Programm zur Erhaltung der Art (welches von beidem und ob Empathie sich immer mit Erhaltung der Art deckt, wollen wir jetzt erstmal nicht diskutieren). Sie erkennen aber die Beschaffenheit dieser Gefahr nicht, nämlich, dass es sich um ein unnatürliches Gift handelt, welches auch noch nachhaltig wirkt, also nicht nur ein paar Minuten, sondern tagelang. Sie können sie auch nicht erkennen, denn diese Gefahr gibt es in ihrem natürlich entstandenen "Vokabular" nicht, denn es ist eine von Menschen geschaffene Gefahr, gegen die der Ameiseninstinkt kein Programm hat.

    Die Ameise hat also ein Programm zur Erhaltung der Art, dass sie dazu zwingt die Kollegen zu retten, aber dieses Programm geht davon aus, dass es sich zahlenmässig lohnt, wenn ein paar Retterameisen dabei draufgehen. Das biologische "Programm" kann nicht wissen, dass mithilfe des Gifts alle dabei draufgehen werden. Die Frage ist, ob sich Ameisen irgendwann biologisch auf solche Giften anpassen werden. Ich nehme an ja, denn es gibt bei Ratten schon eine Resistenz gegen Gifte, die der Mensch gegen sie benutzt, und es müssen von uns immer potentere Gifte erfunden werden, um die Viecher loszuwerden.

    Man kann bei Tierverhalten oft Empathie bis hin zur Selbstaufopferung erkennen, aber die Frage ist eben, ob es nichts als Programm zur Artenerhaltung ist und keine wirkliche Empathie. Selbstaufopferung des Individuums würde natürlich nur zur Artenerhaltung beisteuern, wenn durch den Tod eines Tieres mindestens 2 andere überleben.
    Eine interessante Diskussion......

    Ich weiss, dass es etwas ab vom Thema erscheint, aber ich finde, dass es zum Verständnis des Kontinuums Natur - Mensch und damit zum Erkennen eines Kontinuum Natur - Kultur beisteuert, wenn man erkennt, wieviel Tier im Mensch steckt und wieviel Mensch im Tier.

    Dazu ein paar Links über Frans de Waal, der sehr viel über Empathie bei Tieren zu sagen hat:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Frans_de_Waal
    "Die Schwerpunkte von de Waals Arbeiten liegen in der Erforschung der tierischen und menschlichen Entwicklung von Kultur, Moral und der Entstehung von Empathie und Altruismus als einer der Grundlagen der Sozialisation innerhalb von Gruppen und im Speziellen der daraus später entstehenden besonderen Aspekte der Menschwerdung."

    ttps://http://www.deutschlandfunkkultur.de/verhaltensfors…ticle_id=422730

    https://www.fr.de/kultur/literat…h-11443667.html

    https://www.theguardian.com/books/2016/oct…-de-waal-review

  • Ich habe keine Untersuchung des Seelenlebens der Ameisen anregen wollen, davon verstehe ich zu wenig. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass der Unterschied zwischen menschlichem (»bewusst« genannten) und tierischem (»instinktiv« genannten) Handeln möglicherweise keineswegs so groß ist, wie man gemeinhin annimmt. Übrigens war das lediglich eine Nebenbemerkung, die eigentlich nicht zum Thema gehört.

    Eine Klärung zur »Erhaltung der Art«. Ich sehe nicht, warum es ein biologisches Programm geben soll, dass der Erhaltung von etwas dient, das es biologisch gar nicht gibt, sondern nur in den Lehrbüchern der Menschen (und da in verschiedenen Kulturen sehr verschieden gefasst wird). Angesehen davon sieht man durch die neue Verkleidung allzu deutlich die gute alte Teleologie ihr Wesen treiben. Das stört mich an dieser Idee. Einerseits stört mich, dass es die alte abgewirtschaftete Idee in einem neuen Kleid ist, anderseits, dass jene, die dieses dürftige Gewand erfunden haben, annehmen, dass ich den Trick nicht durchschaue.

  • Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass der Unterschied zwischen menschlichem (»bewusst« genannten) und tierischem (»instinktiv« genannten) Handeln möglicherweise keineswegs so groß ist, wie man gemeinhin annimmt.

    Da rennst Du bei mir offene Türen ein.

    Übrigens war das lediglich eine Nebenbemerkung, die eigentlich nicht zum Thema gehört.

    Doch, ein bisschen schon.

    Eine Klärung zur »Erhaltung der Art«. Ich sehe nicht, warum es ein biologisches Programm geben soll, dass der Erhaltung von etwas dient, das es biologisch gar nicht gibt, sondern nur in den Lehrbüchern der Menschen (und da in verschiedenen Kulturen sehr verschieden gefasst wird).

    Das verstehe ich jetzt wieder nicht. Das Coronavirus z. B. "will" nichts weiter, als sich zu vermehren, d. h. seine "Art" zu erhalten. Das ist die biologische Logik.

    maticus

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                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Eine Klärung zur »Erhaltung der Art«. Ich sehe nicht, warum es ein biologisches Programm geben soll, dass der Erhaltung von etwas dient, das es biologisch gar nicht gibt, sondern nur in den Lehrbüchern der Menschen (und da in verschiedenen Kulturen sehr verschieden gefasst wird). Angesehen davon sieht man durch die neue Verkleidung allzu deutlich die gute alte Teleologie ihr Wesen treiben. Das stört mich an dieser Idee. Einerseits stört mich, dass es die alte abgewirtschaftete Idee in einem neuen Kleid ist, anderseits, dass jene, die dieses dürftige Gewand erfunden haben, annehmen, dass ich den Trick nicht durchschaue.

    Da ich den Begriff der "Arterhaltung" hier eingebracht (aus dem Gedächtnis aus einem Artikel zitiert) habe, nehme ich an, dass ich der gemeinte trickreiche Fallensteller bin. Dazu kann ich nur sagen, dass Du mich bei weitem überschätzt. Ich wusste bis gestern nicht einmal, dass das Konzept der Arterhaltung inzwischen als überholt gilt. Danke für die Anregung, wieder eine Wissenslücke etwas kleiner zu machen.

  • Zu „Erhaltung der Art“ , und was das mit Kultur zu tun hat:


    Der Begriff Arterhaltung kann unterschiedlich verstanden werden.
    Hier ein paar Beispiele:

    Bis etwa 1970 nahm man innerhalb der Biologie (so in etwa) an, dass ein Individuum einer taxonomischen Art sich so verhielt*, dass das Erhalten seiner Art wahrscheinlicher als ihr Verschwinden war. Man sprach dem Individuum damit eine altruistische Motivation zu, denn das Individuum konnte sich innerhalb dieses Verständnisses auch für andere aufopfern.

    Seitdem spricht man davon aber nicht mehr in diesem Sinne, sondern nimmt (unter anderen Theorien) an, dass ein Individuum sich so verhält*, dass sein eigenes Erbmaterial eine höhere Wahrscheinlichkeit hat weitergegeben zu werden (the selfish gene theorie).
    Mein Kommentar dazu wäre nun, dass in diesem Falle aber ganz automatisch die Erhaltung der Art viel wahrscheinlicher wird als in der ersten Option, weil das Individuum sich nicht gegen sein eigenes Interesse verhält und sich nicht aufopfert.

    Man kann also eigentlich nicht kategorisch sagen, dass das biologische Konzept der Erhaltung der Art überholt sei. Denn der Vorgang findet statt, egal wie man ihn nennt und was die Dynamik oder Motivation ist, die ihn hervorruf, egal ob absichtlich oder als Begleiterscheinung.

    Man kann den Vorgang aber nicht auf zwei nachfolgenede Generationen beschränkt anwenden, sondern nur auf eine sehr lange Zeit, denn von einer Generation zur nächsten muss das selfish gene sich nicht unbedingt positiv auf die Art auswirken. Das „Resultat“ wird erst nach sehr vielen Generationen ersichtlich.

    Der Begriff hat leider auch innerhalb des Faschismus Anwendung gefunden, und das Konzept der Erhaltung der Art ist dort missbraucht worden. Es ist also auch ein negativ belastetes Konzept, dass verständlicherweise bei vielen, die damit in Berührung kommen, inneren Widerstand und Abneigung hervorruft.

    Der Begriff oder die Idee der Arterhaltung wird immer noch verwendet, wenn man das „Austerben einer Art“ bespricht oder verhindern möchte, zB im Naturschutz.


    *lassen wir die Frage, ob es bewusst oder unbewusst geschieht, beiseite.


    --------


    Mit Kultur hat das alles sehr viel zu tun. Meiner Meinung nach trägt Kultur (im engeren Sinne, also Kunst und Freizeitgestaltung) dazu bei, dass dem einzelnen Menschen innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft Raum gegeben wird, die täglichen Frustrationen, die das Leben innerhalb dieser mit sich bringt und denen er nicht entkommen kann, konstruktiv zu verarbeiten. Kurz und gut, es kann eine Art Selbsttherapie für den modernen Menschen sein, wenn man es mal so simpel sagen darf.

    Kreativität ist mE übrigens ein Grundzug des Menschlichen. Ohne die Möglichkeit einer kreativen Tätigkeit fehlt dem Menschen ein wesentlicher Bestandteil seiner biologischen Adaption. In dem Sinne sehe ich Kunst oder kreative Freizeitgestaltung als eine Überlebensnotwendigkeit, genau wie Sauerstoff und Wasser. Es ist nur nicht so offensichtlich.


    :wink:

  • Man kann nicht alle biologischen Individuen über einen Leisten schlagen: Löwen verhalten sich anders als staatenbildende Insekten wie Ameisen oder Bienen. Und der Mensch ist sowieso ein eigenes Kapitel und läßt sich nicht in starre Schemata pressen. Arten, die sich nicht anpassen bzw. nicht rasch genug anpassen können, verschwinden (sehen wir einmal von Katastrophenfällen - wie fatale Meteoriteneinschläge - ab). Lernfähigkeit aber braucht meist Zeit oder aber einen schnellen Generationenwechsel. Hier ist der Mensch gegenüber etwa den Stechmücken im Nachteil, weil der Verstand bei vielen das ererbte Verhalten nicht genügend modifiziert, um es simpel auszudrücken.
    Ich stimme zu, daß Kultur für das Überleben des Menschen lebensnotwendig ist. Leider ist sie, zynisch betrachtet, auch keine Garantie.

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Meiner Meinung nach trägt Kultur (im engeren Sinne, also Kunst und Freizeitgestaltung) dazu bei, dass dem einzelnen Menschen innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft Raum gegeben wird, die täglichen Frustrationen, die das Leben innerhalb dieser mit sich bringt und denen er nicht entkommen kann, konstruktiv zu verarbeiten.

    erliege ich einer Art von Hybris, wenn ich von Kunst mehr erwarte als nur eine Art Reparaturbetrieb für die Deformationen der Zivilisation... Womöglich etwas wie - Sinn?

    Kurz und gut, es kann eine Art Selbsttherapie für den modernen Menschen sein, wenn man es mal so simpel sagen darf.

    Wobei sich da die Frage nach dem Therapieziel stellt: Wiederherstellung der Fähigkeit, am Produktionsprozess teilzuhaben, also: sich anzupassen?
    Oder womöglich die Kraft, eine tatsächlich als sinnvoll empfundene Tätigkeit zu suchen bzw zu entwickeln? Am z.B.von Beethoven formulierten Anspruch gemessen ("Musik soll dem Manne Feuer aus dem Geiste schlagen") scheint mir ersteres etwas dürftig.

    Kreativität ist mE übrigens ein Grundzug des Menschlichen. Ohne die Möglichkeit einer kreativen Tätigkeit fehlt dem Menschen ein wesentlicher Bestandteil seiner biologischen Adaption. In dem Sinne sehe ich Kunst oder kreative Freizeitgestaltung als eine Überlebensnotwendigkeit, genau wie Sauerstoff und Wasser. Es ist nur nicht so offensichtlich.

    das sehe ich ganz genauso, allerdings widerspricht es 1. dem herrschenden Menschenbild und 2.der Realität der meisten Menschen.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Meiner Meinung nach trägt Kultur (im engeren Sinne, also Kunst und Freizeitgestaltung) dazu bei, dass dem einzelnen Menschen innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft Raum gegeben wird, die täglichen Frustrationen, die das Leben innerhalb dieser mit sich bringt und denen er nicht entkommen kann, konstruktiv zu verarbeiten.

    Ich weiß nicht ... das ist mir irgendwie zu klein gedacht ... Musik (oder meinetwegen Kultur im Allgemeinen) ist doch keine Bewältigungshilfe für die kleinen Dinge, die mich tagsüber ärgern ...

    ... ich versuche: Kultur ist ein Antwortversuch auf die Geworfenheit des Menschen in die Welt zwischen Leben und Tod, ist Identitätsbestimmung (wer bin ich?), Frage nach dem Ursprung (wo kommen wir her?) und dem Ziel (wo gehen wir hin?).

    erliege ich einer Art von Hybris, wenn ich von Kunst mehr erwarte als nur eine Art Reparaturbetrieb für die Deformationen der Zivilisation...

    Würde ich nicht so sehen ...

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ... ich versuche: Kultur ist ein Antwortversuch auf die Geworfenheit des Menschen in die Welt zwischen Leben und Tod, ist Identitätsbestimmung (wer bin ich?), Frage nach dem Ursprung (wo kommen wir her?) und dem Ziel (wo gehen wir hin?).

    Mir scheint, das ist ein guter Versuch - zumal sich hier Kunst, Philosophie und auch Religion gut unterbringen lassen.

    Wobei ich Rosamundes These deshalb nicht zurückweisen würde: Tatsächlich trägt Kultur dazu bei, genauer: sie kann dazu beitragen, "die täglichen Frustrationen, die das Leben innerhalb dieser mit sich bringt und denen er nicht entkommen kann, konstruktiv zu verarbeiten." Eine Wesensbestimmung ist das allerdings auch für mich nicht (eher eine Antwort auf die Frage: Wozu kann Kultur gut sein?), das wäre dann in der Tat "zu klein gedacht".

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Bis etwa 1970 nahm man innerhalb der Biologie (so in etwa) an, dass ein Individuum einer taxonomischen Art sich so verhielt*, dass das Erhalten seiner Art wahrscheinlicher als ihr Verschwinden war. Man sprach dem Individuum damit eine altruistische Motivation zu, denn das Individuum konnte sich innerhalb dieses Verständnisses auch für andere aufopfern.

    Man kann das als Metapher verwenden, um die Rede abzukürzen. Wenn man das, wie es hier anscheinend geschieht, für eine genaue Beschreibung dessen nimmt, was tatsächlich stattfindet, ist man unrettbar in die Falle der Teleologie gegangen. Die Individuen können schon darum ihr Handeln nicht auf der Ziel der Erhaltung der Art ausrichten, weil sie von einer Art gar nichts wissen, Tatsächlich gibt es Arten von Lebewesen oder Gegenständen nur in Büchern oder in Gedanken von Menschen. In dem, was uns umgibt, existiert so etwas nicht. Das wussten die Biologen natürlich auch schon vor 1970. Die aristotelische Philosophie ist bekanntlich schon lange nicht mehr das Maß aller Dinge. Man kann getrost annehmen, dass auch die Biologen schon vor 1970 von Hume oder Kant oder auch Sextus Empiricus, vielleicht auch von Lange oder Wittgenstein gehört haben.

    Was nun die Verwendung der Kunst als Heilmittel betrifft, übersieht diese Instrumentalisierung den entscheidende Punkt: Kunst wird exakt dadurch Kunst, dass sie der Instrumentalisierung entkommt. In dem Moment, wo die Erzählung von Tod und Auferstehung ds Dionysos nicht mehr fester Bestandteil eines Rituals ist und nur in diesem wahrgenommen word, sondern um ihrer selbst willen vorgetragen und angehört wird, wird aus dem religiösen Vollzug Kunst, in diesem Falle Theater. Wenn man der Kunst nun wieder eine außerkünstlerische Aufgabe zuschreibt, z. B. die Menschen von den Wunden zu heilen, die sie sich gegenseitig im täglichen Kampf um die Profitmaximierung schlagen, ihr also den Zweck zuschreibt, die glänzende Fassade der Barbarei zu bilden, die unsere Kultur in Gefahr bringt, nimmt man ihr eben das, was Kunst ausmacht, bringt sie also vor ihren Anfang zurück und vernichtet sie also. Ich glaube nicht, dass das eine gute Konzeption ist.

  • Kurz und gut, es kann eine Art Selbsttherapie für den modernen Menschen sein, wenn man es mal so simpel sagen darf.

    Brauche ich dafür Kunst? Dafür können doch schon ausgedehnte Gespräche mit Freunden, Selbstwahrnehmung und das Hinterfragen des eigenen Handelns ausreichen.

    Sollte Kunst nicht vielleicht eher Neuland für mich bereitstellen, mein Denken und Fühlen in Richtungen bringen, die unbekannt für mich sind, eventuell unbequem und schmerzhaft und die dann möglicherweise überhaupt keine Lösung für die Frustrationen des Alltags sind.

    Um damit fertigzuwerden, reicht vielleicht 'ne Soap, aber dann bewirkt sie nur, wie Philmus schon schrieb, dass meine Teilnahme am Produktionsprozess wieder möglich ist. In diesem Fall würde Kunst nur einer übergeordneten kapitalistischen Sichtweise dienen und würde zur manipulativen Unterhaltung degradiert werden. Das aber ist Kunst gerade nicht.

    So wie ich Kunst empfinde, das muss vom Künstler wahrlich nicht so intendiert sein, ist sie v.a. 'gegen'. Sie teilt mir Dinge mit, die gegen das vorherrschende Denken sind, gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen allgemeine Sichtweisen, gegen Schönheitsideale, gegen als absolut gesetzte Dogmen, gegen Äußerlichkeiten und so weiter, und so fort. Lasse ich mich dann darauf ein, hilft sie in der Regel recht selten gegen Frustrationen. Im Gegenteil! Aber nur dadurch kann ein Prozess in Kraft gesetzt werden, der vielleicht mal irgendwann irgendetwas bewirkt.

    :wink: Wolfram

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