Aber ein Homo sapiens braucht nicht unbedingt ein modernes Haus, oder überhaupt ein Haus, wenn er nur in den Tropen leben würde, und das Erhalten der Art ist schon gar nicht abhängig davon, ob die Oper heute geöffnet ist oder nicht oder wann man zuletzt Hemingway gelesen hat.
Das heißt aber nur, dass Menschen freier wählen können, auf welche Weise sie ihr Überleben (und meinetwegen das der »Art«, wobei ich nich so genau weiß, was das sein soll) sichern wollen. Worauf sie aber genauso angewiesen sind wie die Vögel auf die angeborene Fähigkeit, Nester zu bauen oder auf ihre Federn, die sie vor Unterkühlung schützen, ist sein Denkvermögen. Mit diesem kann er nämlich die Defizite, die ihn von anderen Tieren unterscheiden, ausgleichen: Die Fähigkeit, Häuser zu bauen, Feuer zu machen, Gedichte zu schreiben, ist den Menschen nicht angeboren, sie haben aber die Fähigkeit, das zu erlernen. Noch wichtiger ist allerdings: Sie haben die Fähigkeit, sich etwas auszudenken, was es nicht gibt, die Folgen einer bestimmten Handlung vorauszuberechnen, und danach zu entscheiden, ob sie das ausführen oder nicht. (Tiere haben diese Fähigkeit übrigens auch in mehr oder weniger hohem Maße, als Unterscheidungskriterium ist die also nicht vollkommen tauglich, aber für den Moment mag es mal so gehen.)
Das heißt jedenfalls, dass der Unterschied nicht so groß ist. Die einen haben dies, die anderen haben das. Die einen haben die angeborene Fähigkeit, staunenswerte Bauwerke und verblüffend durchorganisierte Staatssysteme zu errichten, ohne eigentlich (»eigentlich« muss natürlich in Wahrheit »nach menschlichem Verständnis« heißen) zu wissen, was sie tun. Die Menschen, denen diese Fähigkeiten nicht gegeben sind, haben stattdessen die Intelligenz, und diese wiederum ist die Fähigkeit, in Gedanken eine Welt zu entwerfen, die es nicht gibt, und die Mittel zu ihrer Verwirklichung er ermitteln und zu erfinden.
Und diese Welt, die Menschen erdacht und verwirklicht haben, ist Kultur. Wobei man beachten muss, dass der Vorgang keineswegs so bewusst und planmäßig vonstatten geht, wie dieser Satz zu suggerieren scheint. Da lässt sich übertragen, was ein großer Mann (den ich leider vergessen habe) als Definition der Geschichte anbrachte: Kultur ist das, woran alle arbeiten, und wobei am Ende herauskommt, was keiner gewollt hat.
(Nebenbei und nicht eigentlich zum Thema gehörend: Da wir gerade bei Ameisen sind, eine kleine Geschichte, die mir zu denken gegeben hat, was die angeblich so sichere Differenz zwischen Menschen und Tieren betrifft. Wir haben auf unserem Grundstück große Ameisen, die in sehr ausgebauten Gängen unter der Erde leben. Das Problem ist, dass sie dadurch einige kleinere Bauten (Trennmauern im Garten, die Auffahrt vor dem Tor, das Tor selbst), die kein tiefes Fundament haben, unterhöhlen. Deshalb sprühe ich in regelmäßigen Abständen Ameisenspray in diese Löcher, die freilich kurze Zeit später schon wieder besiedelt werden. Beim Einsatz dieses Sprays habe ich nun beobachtet, dass zunächst ziemlich viele dieser Ameisen in panischem Schrecken auf dem Bau laufen, vermutlich um saubere Luft zu finden, dann aber ein großer Teil in den Bau zurückkehrt, um andere Ameisen herauszuholen, die es, warum auch immer, nicht schaffen. Und zwar bemerkenswerter Weise ausschließlich solche, die noch leben. Am Ende sind dann zwar alle tot, aber darum geht es nicht. Was ich sehe ist, dass diese Ameisen offensichtlich ein Bewusstsein der Todesgefahr haben und ihre Kollegen retten wollen. Würden sie rein instinktiv und im Interesse der »Erhaltung der Art« handeln, würden sie sich nicht noch einmal dem Gift aussetzen, das sie dann auch tötet. Es scheint da also etwas anderes im Spiel zu sein.)