HÄNDEL: Agrippina HWV 6 (1709)
Hier nun der Versuch, auch die Begeisterung für diese Oper von Georg Friedrich Händel weiterzugeben.
Zur Entstehung:
1706 verließ Georg Friedrich Händel Hamburg und ging auf mehrjährige Studienreise nach Italien, er wirkte vor allem in Florenz, Rom, Neapel und Venedig.
Am 26.12.1709 feierte Händels zweite italienische Oper nach Rodrigo, Agrippina HWV 6, komponiert auf ein Libretto von Vincenzo Grimani, im Teatro San Giovanni Grisostomo in Venedig ihre Uraufführung.
Der Schreiber dieser Zeilen lernt das Werk mit einer 2019 eingespielten Studio-CD-Aufnahme und einer Radio-Liveübertragung vom Februar 2020 aus der Metropolitan Opera in New York kennen. In beiden Aufnahmen singt die US-amerikanische Primadonna Joyce DiDonato die Barockprimadonna Agrippina.
Der Inhalt:
Die Handlung spielt ungefähr im Jahr 54 nach Christus und setzt Personen der römischen Geschichte ein, die aber teilweise nicht im selben Zeitraum lebten. Kaisergattin Agrippina will unbedingt Nerone, einen Sohn aus einer früheren Ehe, als Nachfolger Claudios sehen und nicht den Feldherrn Ottone, den Lebensretter Claudios, dem die Thronnachfolge zusteht. Sie möchte das mit Intrigen durchsetzen und benutzt dafür zwei in sie verliebte Höflinge und später auch die Verliebtheit des Kaisers in die edle Römerin Poppea, Ottones Geliebte, für die sich auch Nerone interessiert. Als Poppea Agrippinas Intrige durchschaut, setzt nun sie zur Rache Claudio und Nerone ein. Am Ende erreicht Agrippina ihr Ziel, weil Ottone der Liebe wegen auf den Thron verzichtet. Nero wird Claudios Nachfolger und die Dea ex Machina Giunone gibt Poppea und Ottone den Segen.
Persönlicher Eindruck:
Das wird in drei Akten erzählt, die alle deutlich über eine Stunde dauern, doch das fast vier Stunden lange vielfach satirisch-komödiantische Werk ist in keiner Sekunde langatmig.
Händel baut auf Rezitative und kürzere Arien und Ariosi sowie auf zwei Chöre und je ein Terzett und ein Quartett. Das Intrigieren, das Begehren, das Benutzen Verliebter, das Sich-Verstellen, das Heucheln, die Wut, aber auch die echte, innige Liebe werden (liest man das Libretto mit) in den vielen Rezitativen und Arien durchgehend äußerst kurzweilig eingefangen, die Zeit wird gar nicht lang dabei, die Stunden vergehen wie im Flug.
Hat man zuvor so wie der Schreiber dieser Zeilen Almira gehört, staunt man möglicherweise über die Weiterentwicklung – die Partitur ist reifer, deutlich ausgefeilter, bunter. Händel entwirft unglaublich starke Charakterzeichnungen. Damals hat man noch ungeniert geklaut, Eigenes und von anderen. Hier hat sich Händel aus dem eigenen Fundus sowie bei Reinhard Keiser, Johann Mattheson, Arcangelo Corelli und Jean-Baptiste Lully bedient. Das „Gesamtpaket“ macht´s aber, es ist wie ich es höre ein Werk wie aus einem Guss.
Durch die Musik forcierte Identifikationsfiguren sind für mich zu Beginn Nerone (der im Lauf des Werks mit der Aussicht auf die politisch bestmögliche Karriere dann aber etwas zurückfällt) und sofort und ganz und gar Poppea, während Agrippina, die intrigante Barockprimadonna, als starke musikalische Persönlichkeit besticht. Claudio ist an sich auch ein empfindsamer Charakter, sein Schicksal geht mir aber nicht so nahe. Ab dem 2. Akt wird Ottone (als Geliebter Poppeas und als Agrippinas Intrigenopfer) zum Poppea gleichwertigen Identifikationscharakter des Werks. Den anderen Mitwirkenden, den Höflingen, dem Diener Lesbo und auch am Ende der Göttin gibt Händel meinm Höreindruck nach souverän-routinierte Durchlaufarien. Zwischen all diesen die bewegenden Höhepunkte zu entdecken, ist wie bei vielen anderen Werken der Musikgeschichte für mich eine echte Offenbarung.
Im 1. Akt sind das gleich die Ouvertüre (zuerst ein Marsch, dann schnell) und sofort Nerones erste Arie Con saggio tuo consiglio (noch ganz der innig dankbare Sohn), Agrippinas erste auch gleich persönlichkeitsstarke Arie L’alma mia fra le tempeste, Nerones Arioso Qual piacer a un cor pietoso, Agrippinas Arie Tu ben degno sei dell’allor, und dann (da geht eine Natursonne auf, die junge innig Liebende!) Poppeas erste Arie Vaghe perle, eletti fiori und gleich ihre zweite, emotionalere, È un foco quel d’amore, die nächste Agrippina-Arie Ho un non so che nel cor und die letzten beiden Arien des 1. Akts, Agrippinas Non ho cor che per amarti und Poppeas Se giunge un dispetto.
Im 2. Akt stechen nach Agrippinas Arie Nulla sperar da me, Poppeas Tuo ben è il trono als erste „Zentrum der Welt“ Szene des Werks das ungemein nahegehende Recitativo e Aria des Ottone Otton, qual portentoso fulmine è questi? – Voi che udite il mio lamento, Poppeas Arie Bella pur nel mio diletto (sie hofft, dass er unschuldig ist), Ottones pastorales Arioso Vaghe fonti, che mormorando und eigentlich die ganze Szenenfolge mit Poppea und Ottone heraus – beide sind Opfer von Agrippinas Intrige, und als Poppea das durchschaut, ist sie umso wütender auf Agrippina, sogleich die Höflinge auf ihre Seite ziehend. Der in Poppea verliebte Nerone hat auch noch eine schöne Arie hier, Quando invita la donna l’amante. Die steht aber vor dem zweiten „Zentrum des Werks“ Moment der Oper, Agrippinas Arie Pensieri, voi mi tormentate. Selbstquälerisch, selbstentblößend, hochdramatisch offenbart die Primadonna hier, wie verbissen sie Nerone als Herrscher sehen will, jenseits der Intrigenspiele. Auch Agrippinas den 2. Akt abschließende Arie Ogni vento ch’al porto lo spinga ist noch als herausragend zu nennen.
Der kürzere 3. Akt lässt gleich aufhorchen mit Ottones demütig-liebender Arie Tacerò, pur che fedele, dann mit seinem innigen Liebesbekenntnis für Poppea Pur ch’io ti stringa al sen, mit Poppeas dieses lebendig ergänzendem Bel piacere è godere fido amor (allgemein die Liebe lobend), Agrippinas letzter Arie Se vuoi pace, o volto amato (nun eine sanfte Harmonisierungsarie, sie glaubte halt zu Beginn, Claudio sei tot, daher ihr angeblich staatstragendes Handeln) und auf der CD-Aufnahme mit dem letzten und längsten der an den Auftritt der Göttin anschließenden Tänze, einer reizvollen Passacaille.
Die absoluten Highlights (zum sofortigen Immerwiederhören) sind also für mich Poppeas erste Arie Vaghe perle, eletti fiori im 1. Akt (Szene 14, auf der CD-Aufnahme 1/25) und im 2. Akt Ottones Recitativo e Aria Otton, qual portentoso fulmine è questi? – Voi che udite il mio lamento (Szene 5, 2/20) und Agrippinas gewaltige Selbstentblößung Pensieri, voi mi tormentate (Szene 13, 2/37).
Meine Aufnahme-Eindrücke:
Die Studioaufnahme (3 CDs Erato 0190295336585) entstand von 20. bis 28.5.2019 im Sala Mahler im Centro Culturale Dobbiaco. Maxim Emelyanychev dirigierte das italienische Barockensemble Il Pomo d´Oro. Neben Joyce DiDonato (Agrippina) sangen hier Elsa Benoit die Poppea, Luca Pisaroni den Claudio und drei Countertenöre: Franco Fagioli den Nerone, Jakub Jozef Orlinski den Ottone und Carlo Vistoli den Höfling Narciso. Ausgefeilt wie Händels Partitur ist für mich die exquisite, rollendeckende Besetzung hier. An die Countertenorstimmen gewöhnt man sich rasch (ist man so etwas nicht gewohnt). Opern-Studioaufnahmen werden ja immer seltener. Hier spürt man, wie detailgenau aufs Endziel hingearbeitet wurde. Joyce Di Donato überstrahlt als Primadonna meinem Hörempfinden nach souverän alles, es ist „ihr“ Werk, aber alle anderen fallen nicht ab, alles ist sehr ausgewogen aufgenommen. Das Orchester ist straff aufgezogen und bringt volle Barockpower. Was für mich (ausgehend von meiner Prägung und meinen Vorlieben) fehlt, ist der „Kick“ des spontanen Musizierens, wie er beispielsweise bei Nikolaus Harnoncourt selbstverständlich ist. Hier hört man angestrebte und erreichte Vollperfektion. Die Aufnahme rundet das Werk nach dem Auftritt der Göttin mit einigen Tänzen ihres Gefolges ab und bringt im Appendix ergänzend eine weitere Poppea-Arie aus dem 1. Akt und ein auch im Ablauf zuvor ausgespartes Duett Poppea/Ottone aus dem 3. Akt.
Die Met-Aufnahme, am 29.2.2020 in Ö1 zuerst zeitversetzt, im zweiten Teil dann live übertragen, war die 7. Aufführung einer Inszenierung des schottischen Regisseurs David McVicar, die am 6.2.2020 Premiere hatte (die erste Aufführung dieser Oper an der Met). Da ist für mich sofort das spontane Livefeeling da, das eben auch eine mitreißende, bewegende Opernatmosphäre ausmacht. Die ganze Aufführung wirkt auf mich erdiger, großartig bodenständig. Auch hier bestechen alle Mitwirkenden gesanglich wie charakterlich. Der Nerone ist hier kein Countertenor, sondern ein Mezzosopran, Kate Lindsay. Man hört neben den beiden Brenda Rae (Poppea), Iestyn Davies (Ottone), Nicholas Tamagna (Narciso), Duncan Rock (Pallante) und Matthew Rose (Claudio) sowie das für mich großartig erdige, lebendig wie differenziert aufspielende Metropolitan Opera Orchestra. Das wird vom auch fabelhaften Cembalisten Harry Bicket dirigiert. Er macht etwa Poppeas Arie Ingannata una sol volta im 2. Akt mit seinem Cembaloläufen flugs zu einer weiteren Glanznummer des Werks. Pause gemacht wird in New York nicht nach jedem Akt, sondern mitten im 2. Akt, nach Ottones auch hier ungemein nahegehender großer Szene mit Rezitativ und Arie. Atemanhaltender Gipfelpunkt der Aufführung wird natürlich Agrippinas große Arie im 2. Akt Pensieri, voi mi tormentate. Ottones innige Arie im 3. Akt Pur ch´io ti stringa al sen wird überraschend einfühlsam zu einem Duett mit Poppea erweitert, das habe ich so nicht auf der CD gehört. Die im CD-Appendix zu hörenden beiden Nummern bleiben auch hier im Ablauf ausgespart. Die Met-Aufführung endet mit der Arie der Göttin Juno, es werden keine Tänze nachgeschoben. Diese haben die CD-Aufnahme (finde ich) schon sehr stimmig abgerundet, während der Live-Schluss eher abrupt wirkt.
Meine Eindrücke sind von Neugier geprägt, ich sehe mich nicht als Sängerexperte, hier gibt es sicher differenziertere Einschätzungen. Auch gibt es was Agrippina betrifft ja einige andere Aufnahmen, Tonträger wie Fernsehaufnahmen. Vielleicht möchte jemand Empfehlungen beisteuern.
Meine Bilanz nach Almira und danach fast acht Stunden Händel-Agrippina-Opernfieber: Wenn einer mit 19 schon so einen verblüffenden Erstling vorlegen und mit 24 schon so eine gewaltige Fast-Vierstundenoper zusammenklauben und zusammenfügen und erst recht zusammenkomponieren kann – was mag da noch kommen? Es ist ja erst der Anfang…
Quellen: wikipedia zum Werk und das CD-Booklet.