Beethoven: Fidelio bzw. Leonore 1806 - ThadW, ARTE 12.4.20-11.7.20
Liebe Capricciosi,
habe ich etwas übersehen oder war von dieser, dank Corona übertragenen "Leonore 1806" im ThadW hier im Forum tatsächlich noch keine Rede? Hat sie noch jemand genossen?
https://www.arte.tv/de/videos/0969…hristoph-waltz/
In der Summe gefällt sie mir deutlich besser als die "Leonore 1805" der WSO. Christoph Waltz beweist, dass man keine neuen Dialoge schreiben muss, sondern ganz behutsame Modernisierungen und Kürzungen reichen, um dem Text jede Peinlichkeit und überzogenes Pathos zu nehmen. Das hätte ich kaum für möglich gehalten. Das Bühnenbild mit der Verschlingung der beiden Treppen ist die beste Verbindung aus schlicht und raffiniert, die ich je gesehen habe.
Nicole Chevalier hat als Leonore die dramatischste Stimme in diesem Ensemble und so soll es vermutlich ja auch sein. Sowohl ihre große Arie als auch die Kerkerszene meistert sie mit Bravour. Die Dramatik kann sie in der Kerkerszene auch erfolgreich schauspielerisch ausdrücken. Es ist meiner Erinnerung nach das glaubhafteste Fidelio-Kerkerquartett, das je in Bild und Ton aufgenommen wurde.
Melissa Petit als Marzelline glänzt mit einer wunderbar jugendlich-süßen Stimmfarbe. Die Eifersucht Jaquinos treibt Benjamin Hulett mit großem schauspielerischem Einsatz auf die Spitze.
Gabor Bretz als Pizarro schafft das Kunststück, nicht nur mit Stimmkraft über das Orchester zu kommen, sondern auch mit Timbre und umfassender Gestaltung in jeder Szene zu vermitteln, dass man vor diesem Pizarro wirklich zittern muss.
Christof Fischesser singt einen sehr genau artikulierten Rocco. Von Eric Cutler als Florestan hätte ich mir noch etwas mehr an stimmlicher Gestaltung gewünscht. Ich halte eigentlich viel von ihm und er singt seinen Part auch durchweg sehr schön, das ist mir aber für den Florestan zu wenig (ich bin da allerdings auch besonders anspruchsvoll). Seine Arie ist die einzige Szene dieser Inszenierung, in der ich Benjamin Bruns mit der "Leonore 1805" aus der WSO vorziehe. Karoly Szemeredy singt seine wenigen Sätze als Minister sehr schönstimmig.
Manfred Honeck dirigiert insgesamt eher zügig, aber ohne zu hetzen. Im Quartett "Mir ist so wunderbar" ist das Tempo sogar relativ langsam, was der Transparenz der stark verschlungenen Stimmführungen zugute kommt.
Bis kurz vor der Finalszene bleibt Christoph Waltz bei einer sehr lebhaften Personenführung, die sich trotz unbestimmter Verankerung in Ort und Zeit dabei sehr genau an das Libretto hält. Das kann für mich in meinen Lieblingsopern (wie auch dem Fidelio) die perfekte Mischung sein. Deshalb bin ich ihm sehr dankbar, auch wenn er sich in den Rezensionen dafür manche Kritik eingehandelt hat.
Er verlässt diese Ebene allerdings stufenweise nach dem Kerkerquartett, die Akteure blicken sich immer weniger gegenseitig an, handeln immer weniger aufeinander bezogen, bis sie in der Schlussszene völlig losgelöst voneinander umhergehen. Selbst Pizarro ist und bleibt in dieser Szene anwesend, das "Hinweg mit diesem Bösewicht" des Ministers ist eine allgemeine Äußerung, nicht auf Pizarro als Person bezogen.
Hier befreit nicht mehr eine Ehefrau ihren Ehemann, sondern es wird eine allgemeine gesellschaftliche Vision entwickelt. Das mag der Intention Beethoven, wie er sie 1814 weiter entwickelt hat, sehr nahe kommen. Ohne Interaktion der Handelnden bleiben für mich dennoch Fragezeichen zurück: ist das tragfähig, was da entsteht?
VG, stiffelio