HÄNDEL: Tamerlano HWV 18

  • HÄNDEL: Tamerlano HWV 18

    Der Tamerlano wurde hier ja weiter oben schon genannt als eine der interessantesten Händel-Opern! Die Meinung teile ich, eigentlich hätte er einen eigenen Thread verdient... Die von Dir verlinkte Aufnahme habe ich nicht, sondern eine ältere unter Gardiner, die ich sehr liebe. Vor einiger Zeit hatte ich aber mit palestrina mal eine kurze Diskussion zum Tamerlano bei Eben gehört -- ich glaube er hat die verlinkte Aufnahme, vielleicht kann er etwas dazu sagen...

    - In Handel'schen Opern und Oratorien sterben sowohl die Guten als auch die Bösen: beliebig herausgegriffen: ...
    der Tod des Bajazet im dritten Akt der Oper Tamerlano HWV 18 ist in seiner Intensität in einer halbwegs guten Live-Aufführung absolut atemberaubend;

    Jetzt aber! Wenn niemand sonst, dann halt ich als einmal mehr begeisterter Neuentdecker. ;) Unbedingt empfehlenswert hier die ausgezeichnete, oben ja auch angeführte wikipedia Werkeinführung!

    Hier nur in Kürze, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit:

    Georg Friedrich Händels Dramma per musica Tamerlano HWV 18 wurde am 31.10.1724 im King´s Theatre am Haymarket in London uraufgeführt. Das Libretto stammt von Nicola Francesco Haym. Für eine Opera seria ungewöhnlich ist das Selbstmordende der Hauptrolle Bajazet.

    Der Inhalt:

    Anfang des 15. Jahrhunderts: Der Tatar Tamerlano konnte den osmanischen Sultan Bajazet besiegen und gefangen nehmen. Ihm winkt die Ehe mit Irene, doch er begehrt Bajazets Tochter Asteria, die aber, was auf Gegenseitigkeit beruht, den griechischen General Andronico liebt. Als Tamerlano von Andronico fordert, für ihn bei Asteria zu werben, nimmt das Drama seinen Lauf. Asteria geht zum Schein darauf ein, in Wirklichkeit will sie Tamerlano töten. Doch vor dem entscheidenden Moment muss sie sich selbst entlarven. Schließlich bekennt sich Andronico zur Geliebten. Asteria versucht es in ihrer Verzweiflung ein zweites Mal, diesmal mit Gift, doch Irene warnt Tamerlano rechtzeitig. Bajazet opfert sich mit dem Selbstmord durch Gifteinnahme und rettet damit Asteria. Tamerlano ermöglicht kurzerhand das Happy End, er mit Irene, Andronico mit Asteria.

    Mein erster Eindruck:

    Georg Friedrich Händels operndramatische Musiksprache überzeugt auch hier mit berückender empfindsamer Menschlichkeit. Die Charaktere und ihre Empfindungen erfahren in den (ausführlichen!) Rezitativen und Da capo Arien sowie einem Terzett, einem Duett und dem Schlusschor einmal mehr wunderbar mitfühlbare Zeichnungen.
    Sofort nimmt mich die Ouvertüre mit in diese barocke Opernmusik, sofort ist man mittendrin im Geschehen, wenn der gefangene Bajazet auftritt und seine erste stolze Arie singt. Man sollte (nicht nur) bei dieser großen ernsten Händel Oper genau hinhören und den Text mitverfolgen, das geht alles so ungemein zu Herzen, wenn man sich ganz darauf einlässt.
    Die Identifikationsfiguren sind für mich das Liebespaar Asteria und Andronico mit ihren Arien zwischen inniger Liebe und großer Verzweiflung sowie der stolze und empathische Bajazet. Tamerlano ist der arrogant-selbstgefällige, mit seiner Macht spielende Herrscher, und Irene weiß geduldig auf ihr Ziel, neben dem Herrscher am Thron sitzen zu können, hinzuarbeiten.
    Ihnen allen und auch zwei Nebenfiguren (eine davon eine Basspartie) hat Händel optimale Charakter- und Empfindungsnummern komponiert.
    Und doch ragen für mich einmal mehr (wird man speziell von besonders beseelten Verzweiflungsnummern angesprochen) Asterias Arie Nr. 9 im 1. Akt Deh, lasciatemi il nemico und im 3. Akt ihre Arie Nr. 27 Cor di padre e cor d´amante sowie ihr Duett mit Andronico Nr. 29 Vivo in te mio caro bene und schließlich ihr Accompagnato Padre, amante mit anschließendem Arioso e Recitativo Folle sei heraus, alles innigste, berührende Opernverzweiflung.
    Ungewöhnlich war wie man liest 1724 die Besetzung eines Tenors mit der Hauptpartie des Bajazet, und vor allem weil damals ein „Star“ engagiert wurde, musste Händel diesem einen operndramatisch besonders wirkungsvollen Abgang nach komponieren, Accompagnato und Rezitativ, Arioso und nochmal Accompagnato, und der hat es wirklich in sich (siehe auch Giovanni di Tolons Bemerkung oben). Bajazet hat das tödliche Gift genommen, kehrt zurück auf die Bühne, liefert einen unberechenbaren „Wahnsinnabgangsauftritt“ und nimmt bewegend Abschied von der Tochter, eine Szene, die die in ihrer psychologisch-operndramatischen Intensität nahezu die großen Verdiopern-Sterbeszenen antizipiert.
    Der Schlusschor danach (ohne Asteria) erklingt nicht festlich, sondern melancholisch und endet in Moll, auch das ist ungewöhnlich.

    Ich habe das Werk dieser Tage mit diesem DVD Set kennen- und liebengelernt:

    Die 50. Händel-Festspiele Halle brachten im Juni 2001 im Goethe-Theater Bad Lauchstädt eine Inszenierung des Werks von Jonathan Miller zur Aufführung, die fürs Fernsehen mitgeschnitten und in 3sat gesendet sowie auf DVD bei Arthaus veröffentlicht wurde.

    Mein Eindruck:

    Es ist eine statische Inszenierung, die der Musik die vollkommene Kontrolle überlässt, wodurch man sich allerdings umso besser auf die feinfühlig komponierte Musik konzentrieren kann. The English Concert unter der Leitung des großartigen Cembalisten und Dirigenten Trevor Pinnock spielt das alles fabelhaft lebendig, farbig und beseelt.

    Miller versetzt uns in die europäische Sichtweise der Orientatmosphäre zu Händels Zeit, mit einem Einheitsbühnenbild (nur goldbraune Kulissen im Hintergrund und ein Thronstuhl davor) und farbenprächtigen Kostümen.
    Die gesanglich kongenial besetzten und einheitlich ideal singenden Mitwirkenden bei denen niemand abfällt müssen in der Statik des Bewegungsablaufs aus der Kraft der Musik heraus sowie mit Mimik und Gestik durchkommen, was ihnen hervorragend gelingt - schon allein deren Intensität wegen, die von der ersten bis zur letzten Minute ganz für dieses Werk einnimmt.

    Thomas Randles Bajazet hat nicht nur eine der dankbarsten Händel-Opernszenen für sich, Elisabeth Norberg-Schulz darf als Asteria innig bewegen (zweimal plant diese Opernfigur einen Mord, aber die Verzweifelte bleibt dank Händels Musik eine Sympathieträgerin!) genauso wie der Countertenor Graham Pushee als Andronico, fabelhaft selbstgefällig gibt Monica Bacelli den Tamerlano und bauernschlau zurückhaltend wie umso zielstrebiger Anna Bonitatibus die Irene.
    Die Fernsehaufzeichnung vermittelt durchaus eindrücklich die wunderbare Barockopernaufführungsatmosphäre des von Goethe mitentworfenen Provinztheaters in Bad Lauchstädt.

    Das umfangreiche Begleitmaterial bringt ein Making of (das damals noch seriös dokumentarisch gemacht wurde und auf die gegenseitigen Lobhuldigungen gänzlich verzichtet) sowie Interviews mit wichtigen Persönlichkeiten der Händel Festspiele.

    Wer will, findet im Netz bald informativ Geschriebenes zu einer Münchner Premiere aus dem Jahr 2008.
    https://www.youtube.com/watch?v=xoGdyjZoME0

    Und im September 2014 konnte man in Hamburg eine konzertante Aufführung mit Il Pomo d´Oro unter der Leitung von Maxim Emelyanychev erleben. Das Programmheft ist auf der NDR Homepage verfügbar.
    https://www.ndr.de/orchester_chor…rammheft676.pdf

    Bin nun auch sehr froh, diese Oper in meine chronologische Händel-Reise mitgenommen zu haben. (Demnächst selbstverständlich Rodelinda, was sonst... ;) )

    Herzlich willkommen nach über elf Jahren Capriccio im Tamerlano Thread!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lieber Alexander,

    ja, der Tamerlano ist der Hammer, oder? Ich denke, dass der Vergleich zu Verdi-Opern zwar manchem Freund der großen Oper des 19. Jahrhunderts einen möglichen Zugang bietet, aber eigentlich die Überwältigung des Stücks eher mindert. Denn schließlich steht diese Oper mit ihrem Tod nach Verwünschungen und einem gesungenen Dahinsterben in der Opernwelt des 18.Jahrhunderts eher vereinzelt da. Wie harmlos ist diese Szene beispielsweise im Bajazet von Vivaldi?

    Ich habe 1985 den Tamerlano als meine erste Live-Handel-Begegnung erlebt und bin noch immer von diesem Erlebnis geprägt. Leider konnten in den zwei späteren Live- Aufführungen unter McGegan (im Jahre 2010: https://www.ndr.de/kultur/musik/H…merlano100.html) erneut in Göttingen und einige Jahre vorher in einer Pierre-Audi-Aufführung im Nationaltheater München nicht an die sängerische Exzellenz der Gardiner-Aufführung heranreichen. Die von Dir gepostete Gardiner- Aufnahme wurde wenige Tage nach meinem Live-Erlebnis im Deutschlandfunk in Köln mitgeschnitten. Ich kann nur raten, auch diese Aufführung anzuhören. Dort ist eine aus meiner Sicht großartige, sonst so gut wie nicht eingespielte Arie enthalten, die mich absolut begeistert: 'Sù la sponda del pigro Lete' des Bajazet am Anfang des Dritten Akts: wieder so eine eigentlich musikalische nicht besonders komplexe, aber in ihrer emotionalen Dichte unübertroffene Meditation über den Tod.

    Was ich besonders beeindruckend finde an dieser Oper ist, dass es eigentlich vier Hauptrollen gibt: Bajazet und Asteria, Andronico und Tamerlano: dieses Macht- und Leidenschaftsvieleck wird immer wieder verschoben und neu austariert: eigentlich gibt es das in dieser Form nur noch beim Giulio Cesare in Egitto.

    In nahezu allen Texten zum Tamerlano wird auf die große Bedeutung der Oper 'Il Bajazete' von Francesco Gasparini hingewiesen, mit deren Partitur in der Tasche der Sänger des Bajazet in London auftauchte. Handel hat sich tatsächlich freigiebig bedient, man kann das sogar nachhören, weil es den Gasparini auch als Aufnahme gibt:

    Wenn man hier die Vorlage und die Handel-Fassung vergleicht, sind die z.T. winzigen Veränderungen Handels in meinen Ohren immer absolute Verbesserungen ... Insbesondere in der Sterbeszene des Bajazet hat sich Handel doch sehr eifrig bedient ....

    Wer mag, darf vergleichen ....

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Eine IMHO sehr schöne Aufnahme des Tamerlano ist diese:

    mit dem exzellenten Henri Ledroit in der Titelrolle.
    Die Auswahl aus den unterschiedlichen Versionen ist anders als bei Gardiner - leider ist hier z.B. Sulla sponda del pigro Lete nicht vorhanden - so daß ich mir meinen Ideal-Tamerlano aus beiden Aufnahmen zusammengeschnitten habe.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Zum Tamerlano der auch für mich eine der abwechslungsreichen Oper von Händel ist......

    Zitat von Philbert

    Sulla sponda del pigro Lete

    ....ja, diese schöne Arie des Bajazet ist nur auf den Aufnahmen mit Gardiner und Pinnock enthalten.

    Ich hatte mir mal eine Liste erstellt was wo gespielt wird im Tamerlano, aber beim Umzug ging so einiges abhanden, oder es findet sich nochmal.
    Gardiner, Pinnock und Malgoire, soweit ich es noch in Erinnerung habe spielen Mischfassungen, Minasi die 1734 und Petrou* die erste komplette 1724 Fassung.

    *

    Bei der Aufnahme mit Petrou ist der Andronicco mit der MS M.E.Nesi besetzt sowie der Bajazet mit dem Bariton Tassis Christoyannis, mir gefällt er ausgesprochen gut. Beim Andronico ist man ja mehr oder weniger ein Counter gewohnt aber Mary-Ellen Nesi macht das mit ihrer beweglichen schön getönten Stimme mehr wie gut!

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • ... Ich habe das Werk dieser Tage mit diesem DVD Set kennen- und liebengelernt:


    Soeben bestellt.

    Werde mir wohl Ende des Jahres "Tamerlano" in Bielefeld anschauen und habe eben schon auf Youtube in eine (andere) Inszenierung reingeschnuppert. Ich kannte diese Oper bislang noch nicht. Wird aber sicherlich gut. Freue mich auf die DVD. Der Trailer spricht mich schon mal an.

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



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