HÄNDEL: Rodelinda HWV 19 (1725)
Dies ist eine weitere Threaderöffnung auf einer persönlichen Entdeckungsreise, die einfach nur die Begeisterung und tiefe Bewegtheit über ein tolles Opernwerk weiter geben möchte.
Mitten hinein in die Völkerwanderungszeit, in die Zeit des elbgermanischen Stamms der Langobarden, ins siebente Jahrhundert!
An sich sollten die Königreiche Pavia und Milano auf die zwei Thronerben Gundeberto und Bertarido aufgeteilt sein, doch Herzog Grimoaldo, verlobt mit der Schwester der beiden Eduige, hat nach Gundebertos Tod die komplette Macht an sich gerissen. Bertarido ist zu Beginn des 1. Akts untergetaucht und seine treue Frau Rodelinda, zurückgelassen mit dem Sohn Flavio, glaubt ihn tot – und wird von Grimoaldo begehrt. Bertarido zur Seite steht sein uneigennütziger Helfer Unulfo, wohingegen Grimoaldo in Herzog Garibaldo einen durchaus selbst machtlüsternen und durchtriebenen und deswegen zunächst mal auf Eduige scharfen Noch-Verbündeten hat, der auch eiskalt Rodelinda mit der Androhung des Mordes an ihrem Sohn zu erpressen versucht.
Im 2. Akt spitzt sich die Situation zu. Rodelinda scheint nun genötigt, Grimoaldo heiraten zu müssen, doch sie spielt Garibaldos Ansatz weiter und möchte nur zustimmen, wenn er den rechtmäßigen Thronfolger Flavio, ihren Sohn, tötet. Bertarido wird von Ediuge erkannt und landet als vermeintlicher Grimoaldo-Nebenbuhler was Rodelinda betrifft im Gefängnis.
Der 3. Akt bringt den Showdown und das Happy End. Mit Hilfe Eduiges und Unulfos kann Bertarido fliehen und Garibaldo töten, als dieser Grimoaldo beseitigen will. Das öffnet Grimoaldo die Augen, jetzt ist er zur versöhnlichen, harmonisierenden Lösung bereit, er „begnügt sich“ mit Eduige und Pavia und überlässt Milano der glücklich wiedervereinten Familie seines Retters Bertarido, Rodelinda und Flavio.
Innerhalb von 12 Monaten hat der erfolgreiche musikalische Leiter der Royal Academy of Music in London Georg Friedrich Händel nach Giulio Cesare und Tamerlano am 13.2.1725 mit dem Dramma per musica in tre atti Rodelinda, Regina de' Longobardi HWV 19 im King´s Theatre am Haymarket sein drittes großes Meister-Opernwerk hintereinander uraufgeführt.
Die wie ich finde für einen Einsteiger großartige Werkeinführung auf wikipedia schlüsselt unter anderem genau die Veränderungen der Opernfassung gegenüber der literarischen Vorlage auf.
Es ist wieder eine Opera seria mit Rezitativen und Arien sowie einem (?, siehe weiter unten) Duett und dem Schlusschor. Aber (mein Ersteindruck): Was für Rezitative und vor allem Arien sind das! Wie in den vorangegangenen Opern sind die Arien geniale „Showstopper“, die die jeweiligen Befindlichkeiten und Gefühle der Protagonisten zu großartigen Charakterzeichnungen zusammenfügen. Da offenbart sich einmal mehr eine empfindsame Gefühlstiefe, die ermöglicht, ganz unmittelbar mit den Identifikationsfiguren mitzuleben, mitzuleiden und sich mitzufreuen. Wie zuvor in Tamerlano gibt Händel eine Hauptrolle (damals ungewöhnlich) einem Tenor, nach Bajazet ist es diesmal Grimoaldo. Bertarido und Unulfo sind Counterstimmen vorbehalten.
Die Identifikationsfiguren sind für mich hier das klassische „gute“ Liebespaar Rodelinda und Bertarido sowie die wichtige Nebenrolle des gutmütig treuen Unulfo. Der klassische „Böse“ ist diesmal Garibaldo. Einen Läuterungsprozess durchlaufen zum Ende hin zuerst Eduige und dann doch auch Grimoaldo, und auch Bertarido ändert sich, vom passiven Versteckten zum im entscheidenden Moment dann doch Aktiven.
Schon die Ouvertüre nimmt lebendig, kräftig und farbig in diese Händel-Welt mit. Und es geht gleich im 1. Akt mit der ersten verzweifelten Rodelinda-Arie Ho perduto il caro sposo (Nr. 1), gefolgt von ihrer Allegro-Arie L’empio rigor del fato (Nr. 2), los. Schon hat man seine Haupt-Identifikationsfigur gefunden, mit der man nun mitzittern darf! Bertaridos Einstieg in die Oper zu Beginn des 2. Bildes, die (auch eine ganze empfindsam-mitfühlbare Psychologie ausbreitende) Counter-Paradenummer der Oper par excellence, das Accompagnato Pompe vane di morte! (Nr. 6) und die Arie Dove sei? amato bene! (Nr. 7), gehören wohl zu den größten Händel-Opernhits überhaupt. Und gleich danach, als ob wir nicht ohnedies schon mit den beiden aber sowas von mitleben, darf Rodelinda ihre ganz innige Trauerarie Ombre, piante, urne funeste! (Nr. singen.
Im 2. Akt heben sich als innige Höhepunkte zuerst die pastorale Siciliano-Arie Bertaridos und später Rodelindas innige Arie ab, als sie erfährt, dass Bertarido noch lebt. Und am Ende dieses 2. Akts muss Bertarido ins Gefängnis, was Händel das herzzerreißend verzweifelte Liebespaar-Duett Io t’abbraccio (Nr. 24) ermöglicht.
Es ist unglaublich, welche große Opernmusik Händel dann erst recht im 3. Akt, der dritten Opernstunde dieses Werks noch herauszaubert. Da ist zunächst die schicksalsschwere Kerkerszene Bertaridos, das Arioso Chi di voi fu più infedele (Nr. 28) und das begleitete Rezitativ Ma non che so dal remoto balcon (Nr. 29). Dann muss (als sie ihn dort nicht mehr vorfindet) Rodelinda annehmen er ist tot, was die nächste grandios innige schmerzerfüllte Arie mit sich bringt. Aber jetzt geht es erst richtig los. Der hin- und hergerissene Grimoaldo kriegt auch noch eine große Selbstzerfleischungsnummer mit dem Accompagnato-Rezitativ Fatto inferno è il mio petto (Nr. 32) und dem Siciliano Pastorello d’un povero armento (Nr. 33), und Bertarido legt nach dem Showdown mit einer kräftigen „Töte mich“-Verzweiflungsarie Richtung Grimoaldo nach (nach der Grimoaldo die Situation aber gleich harmonisiert). Man freut sich dann noch mit Rodelinda mit, dass sie, als sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat, auch noch ihre frohe Happy End-Liebesglückarie Mio caro bene! Caro! (Nr. 34) singen darf.
Habe das Werk dieser Tage mit zwei DVD-Veröffentlichungen kennen- und liebengelernt, hier die persönlichen Eindrücke:
Am 28.6.2003 hatte im Münchner Nationaltheater eine von Ivor Bolton dirigierte David Alden-Inszenierung der Oper in Bühnenbildern von Paul Steinberg und Kostümen von Buki Schiff Premiere, die 2004 vom BR aufgezeichnet und von Farao Classics auf 2 DVDs veröffentlicht wurde. Alden verlegt die in gehobenem Gesellschaftsbereich angesiedelte Handlung ins italienische Mafiamilieu der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, mit großteils finsteren nächtlichen Kulissen und aus Mafiafilmen bekannten Kostümen. Die Charaktere erscheinen deutlich herausgearbeitet: Paul Nilons Grimoaldo als (im Vergleich zu Cesare in Händels vorvoriger Oper) unschlüssiger, grundsätzlich skrupelloserer verliebter Herrscher mit gleichwohl heller, strahlender Tenorstimme (die ihn akustisch gefestigter erscheinen lässt als sein Charakter wohl ist), Felicity Palmers markante Eduige (zunächst fast eine Schreckschraube und gegen Ende dann doch mitfühlend mit den „Guten“, nur als Grimoaldo allzu rasch umschwenkt, sie doch zu „nehmen“, ganz kurz noch einmal die Schreckschraube erneut rauslassend), das Liebespaar Rodelinda und Bertarido stimmlich wie darstellerisch ideal besetzt mit Dorothea Röschmann und Michael Chance, Umberto Chiummo als klassischer machtgieriger, schmieriger, eiskalter Böser und Christopher Robson als liebevoll-komisch gezeigter Buchhaltertyp eines Unulfo. Die komischste Szene hat dieser Unulfo, als er mit dem ihm von Bertarido irrtümlich in die Brust gerammtem Messer herumlaufen muss.
Über das von Ivor Bolton stimmig geleitete Bayerische Staatsorchester lasse ich nichts kommen, das ist für mich ein ideales Händel-Orchester, das die Musik einfach farbig, dramatisch spannend und klangschön zu gestalten versteht. Völlig zurecht erhält es beim Schlussapplaus einen eigenen, besonders herzlichen, auf offener Bühne stehend.
Wie in einem Mafiafilm erschießt Bertarido in dieser Inszenierung im Showdown den Bösewicht, und zum Schluss sind hier die Helden Bertarido und Unulfo völlig kaputt, am Ende ihrer Kräfte, und der Junge Flavio schnappt sich die herumliegende Pistole, die ihm sofort neues Selbstbewusstsein gibt, ein Selbstbewusstsein, das signalisiert: der Mafia wird auch die Zukunft gehören.
Mit dieser Fernsehaufzeichnung wurde der Schreiber dieser Zeilen sofort ganz und gar auch für dieses Werk gewonnen.
Am 20.3.2011 feierte eine von Nikolaus Harnoncourt dirigierte und von dessen Sohn Philipp inszenierte Rodelinda-Produktion im Theater an der Wien ihre Premiere. Der Mitschnitt ist ebenfalls auf DVD veröffentlicht worden (belvedere).
Mafia-Nachklänge bestimmen auch diese Inszenierung. Das zweistöckige Multifunktions-Drehbühnenbild von Herbert Murauer kann sekundenschnell Villa, Rotlichtviertel, Obdachloseneck unter einer Brücke oder Kerker sein. Dort treibt sich die Upper Class, die High Society dieser Inszenierung mit ihrem Gesellschaftsdrama herum. Grimoaldo wirkt wie ein Dutzend-Kino- oder Fernsehhauptdarsteller „für eine männliche Hauptrolle“, Garibaldo ist der Zuhälter, Eduige beginnt als Edelprostituierte und wandelt sich zur noblen Helferin der Guten, und Rodelinda ist hier sexy und ziemlich resolut.
Philipp Harnoncourt streut, mehr Personal einsetzend, auch in Arien „Handlungen“ ein, zum Teil Nebenhandlungen, die die Situationen und Charakterzeichnungen verdeutlichen. Garibaldos erste Arie ist eine unbefriedigende Sexszene zumindest für Eduige. Bertarido lernen wir hier unter Obdachlosen kennen. Unulfo wird als bürgerlich Verheirateter mit zwei kleinen Kindern gezeigt, bei dem die Ehe aber auch zerbricht, nachdem er seine Frau offensichtlich geschlagen hat. Als es im 2. Akt darum geht, dass Rodelinda Grimoaldo heiraten muss, schnappt sich Flavio hier schon eine Pistole und bedroht Grimualdo damit. Pointiert wirkt es, wenn Grimualdo aus dem Schrank springt, um den vermeintlichen Nebenbuhler zu entlarven.
Zu bewundern sind für mich einmal mehr die sängerischen wie darstellerischen Leistungen der Mitwirkenden, die so ein minutiös ausgefeiltes Regiekonzept glaubhaft umzusetzen verstehen – Danielle de Niese als sexy kämpferische Rodelinda, Bejun Mehta als unglaublich ausdrucksstarker, persönlichkeitsstarker Bertarido, Kurt Streit als Denver Clan Playboy Grimoaldo, Konstantin Wolff als raffiniert unterspielender Garibaldo, Malena Ernman als letztendlich geläuterte Edelprosituierte und Matthias Rexroth hier als „Angestelltentyp“ eines treuen Helfers.
Nikolaus Harnoncourt dirigiert seinen Concentus Musicus Wien gewohnt klangrednerisch, mit der typischen beherzten Unbedingtheit, kantiger als Bolton in München. Rodelindas letzte Arie wird hier zu einem Duett des Hauptpaars, und der Schlusschor ist als Zugabe in den Schlussapplaus eingeflochten, von Nikolaus Harnoncourt auf der Bühnenmitte dirigiert.
Vielleicht möchte jemand Korrekturen, andere Eindrücke, CD-Empfehlungen abgeben oder anderes beitragen, herzlich willkommen hier!
Ich freue mich jedenfalls demnächst aufs Silke Leopold Buch über Händels Opern und auf Alessandro.