Schönberg - späte Tonalität, spät-tonale Werke

  • Schönberg - späte Tonalität, spät-tonale Werke

    Anlaß für diesen Thread war ein gehaltvoller Beitrag Meliones in einem anderen Faden, zu dem ich zumindestden Versuch einer Randbemerkung machen wollte:

    Der Großteil der Orgelvariationen in D, Opus 40 (von 1941) zwischen dem D-Moll-Akkord am Ende des Rezitativs und des D-Dur-Akkordes am Ende der Fuge ist tonartlos. Die Töne streben hier kein bisschen mehr auseinander, als sie es in einer zwölftönigen (oder zumindest frei-tonartlosen) Komposition Schönbergs tun. Was ich damit nicht sagen will: Dass sie gar nicht auseinanderstreben. Trotz des unglaublich chromatischen, "ziellosen", hinsichtlich des "durchschnittlichen" Sonanzgrades mit einer zwölftönigen Komposition mindestens vergleichbaren Tonmaterials der Orgelvariationen ist ihr Sonanzgrad hauptverantwortlich für den depressiven, hoffnungslosen, suchenden, brütenden Charakter dieser Musik.

    Dann müsste es zumindest möglich sein, eine beliebige viertaktige Stelle funktionsharmonisch zu analysieren. Sagen wir zwei Takte! Beispielsweise aus der ersten oder zweiten Variation

    Thema dieses Threads soll also die späte Tonalität bzw. die spät-tonalen Werke Schönbergs sein.


    Die hier einschlägigen Werke (wenn die Bearbeitungen hier nicht berücksichtigt werden) sind also:

    - die Suite im alten Stil für Streichorchester (1934)

    - die 2. Kammersinfonie für kleines Orchester op. 38 (die allerdings bekanntl. zu großen Teilen schon zur Zeit der 1. Kammersinfonie komponiert wurde und der zudem mit vollem Recht ein eigener Faden gewidmet ist, 1906/1939)

    - Kol nidre für Sprecher, Chor und Orchester op. 39 (1938)

    - die Variationen über ein Rezitativ für Orgel op. 40 (1941)

    - die Variationen g-moll für Blasorchester op. 43A sowie ihre Bearbeitung für großes Orchester op. 43B (1943)

    - Drei Volkslieder für gemischten Chor a cappella op. 498(1948).


    ich beschränke mich hier auf ein Kurzreferat dieses Aufsatzes:

    Christian Martin Schmidt: Ansätze zu einem harmonischen System in späten tonalen Kompositionen Schönbergs, in: Die Musikforschung, 29.1976, H. 4, S. 425-431
    Stable URL: https://www.jstor.org/stable/41119420

    Schmidt beschreibt, wie Schönberg in den Skizzen zu den Orgelvariationen (es gibt zu keiner Komposition von Schönberg relativ gesehen soviel Skizzen wie zum op. 40) eine Art "Tonalität" entwirft, die an die letzten noch tonal zu bezeichnenden Werke vor dem Übergang zur Atonalität (Kammersinfonien) anknüpft.

    Schönberg stellt systematisch nach bestimmten Prinzipien gebildete Akkkorde und Akkordfortschreitungen zusammen (die sich natürlich zur wirklichen Komposition etwa so verhalten wie Beispiele aus einer Harmonielehre zu einer solchen).

    Der Akkordaufbau schließt das Bauprinzip der herkömmlichen Tonalität nicht gänzlich aus, benutzt also auch aus Terzen aufgebaute Akkorde; darüber hinaus aber entwickelt er einen zweiten Akkordtyp, der auf Übereinanderschichtung reiner Quarten beruht. Diese Quartschichtung muß nicht lückenlos sein; so kombiniert Schönberg einen gegebenen fünftönigen Quartenturm mit jeweils einem sechsten Ton, der eine Lücke in der Fortsetzung der Quartschichtung läßt (also zum Quartenturm {c - f - b - es - as} jeweils hinzutretend ges oder h oder e oder a oder d. Auf diese Weise wird ein Akkordrepertoire aufgebaut, das maßgebend ist für die Akkordbildung in den Orgelvariationen und den diese umgebenden tonalen Kompositionen.

    Schönberg stellt zudem eine Fortschreitungsregel auf. In der herkömmlichen Tonalität beruht die Akkordfortschreitung im Prinzip auf der Quintfortschreitung der Grundtöne. Schönberg dagegen regelt an Stelle dessen die Fortschreitung aller Akkordtöne. Maßgebend dafür wird als Folge der weitestgehenden Chromatisierung des Tonsatzes der Halbton. Das heißt: Die Fortschreitung von einem Akkord zum nächsten erfolgt durch Halbtonfortschreitung im Prinzip aller Akkordtöne.

    Beide Prinzipien, das des Akkordaufbaues und das der Akkordfortschreitungen werden allerdings nicht völlig exakt verwendet: der Akkordaufbau kennt Abweichungen von Akkordtönen um einen Halbton, die Akkordfortschreitungen Ersetzung eines Halbtonschrittes durch Ganzton- oder Terzschritt. (Das sind keine "Versehen" von Schönberg, der vielmehr die entsprechenden Stellen eigens markiert).

    Der erste Akkord gehört immer dem Typus der Quartenakkorde an, der zweite ist stets ein Dur- oder Molldreiklang. Die Töne der beiden Akkorde sind je einen Halbton voneinander entfernt. Will man unter Voraussetzung der angegebenen Fortschreitungsregel in einen Dur- bzw. Molldreiklang fortschreiten, so kann der Ausgangsklang maximal sechs verschiedene Tonqualitäten umfassen - das erklärt die Sechstönigkeit der Quartenakkorde.

    Die Quartenakkorde fungieren als Spannungsklänge, die Dreiklänge als Lösung. Die Akkorde sind damit in Hinsicht auf ihre Gewichte, ihre harmonische Funktion qualifiziert.

    Ein Beispiel:

    Ausgangspunkt sei der Quartenakkord {B - es° - as° - des' - ges' plus e"}. Dieser wird durch Umkehrung und Oktavversetzungen beispielsweise folgendermaßen disponiert:

    {e° - gis° - cis' - ges' - b' - es"}.

    Man hat dann quasi zwei Mollakkorde im Abstand einer großen Non. Diese Akkorde bewegen sich halbtönigaufeinander zu, so daß beide in einen d-Moll-Dreiklang übergehen:

    {e° - gis° - cis' - ges' - b' - es"} --> {f° - a° - d' - f' - a' - d°}.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • @zabki, vielen Dank, das ist interessant. werde den Artikel lesen.

    Ohne ihn gelesen zu haben:
    Versteht der Autor des Artikles diese Kompositionsgenese als bewusstes Suchen nach einem System, das der Komposition vorausging? Oder schreibt Schönberg in den Skizzen nur etwas nieder, was ihm spontan eingefallen ist, was aber nur im Nachhinein so systhematisch "ertüftelt" aussieht?

  • Für mich sieht es nach einem spontanen System aus ...
    :pfeif:

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich meinte damit, dass man das nicht so sauber trennen kann. Spontane Ideen reflektieren verinnerlichte Systeme und das Erschaffen eines Systems bedarf der Intuition.

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  • Versteht der Autor des Artikles diese Kompositionsgenese als bewusstes Suchen nach einem System, das der Komposition vorausging? Oder schreibt Schönberg in den Skizzen nur etwas nieder, was ihm spontan eingefallen ist, was aber nur im Nachhinein so systhematisch "ertüftelt" aussieht?

    spontanen System

    ... genau. :jaja1:

    m.E. ist ganz gut zu erkennen, daß da "Spontaneität" und systematisches Vorgehen in verschiedener Weise miteinander verflochten sind. Überhaupt nach einer Alternativtonalität zu suchen bzw. dafür eine gewisse Richtung einzuschlagen setzt doch irgendwelche, wenn auch ggf. vage "spontane" Klangvorstellungen voraus. Ebenso dann z.B. die Entscheidung, den Quartenaufbau zu präferieren und dessen Möglichkeiten in einer gewissen Systematik zu erfassen. Auch wiederum die "Abweichungen" in dieser Systematik lassen auf ein "spontanes Urteil des Ohres" schließen.

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  • Skrjabin und Rosslawetz(?) und auch Schönberg selbst hatten ja schon früher mit Quartenschichtungen gearbeitet. Diese waren wohl für eine Weiterentwicklung von Tonalität naheliegend.

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  • Skrjabin und Rosslawetz(?) und auch Schönberg selbst hatten ja schon früher mit Quartenschichtungen gearbeitet. Diese waren wohl für eine Weiterentwicklung von Tonalität naheliegend.

    nahliegend vielleicht, aber nicht zwingend. Ein Interesse des Ohres, in der Richtung fortzufahren, wird man unterstellen dürfen.

    Übrigens beschreibt Schmidt den Unterschied zwischen den früheren und den späteren Quartenschichtungen:

    Der Vergleich mit der Kammersymphonie läßt ein allgemeineres Moment hervortreten. Sowohl in op. 9 als auch in op. 40 ist den Quartenakkorden das charakteristische Merkmal der Spannung gemeinsam. In der Kammersymphonie tritt diese Spannung gegen ein noch relativ intaktes tonales System und dehnt es bis an die Grenzen. Thematisch ist hier das Verhältnis der Quartenakkorde als sprengendes Element zu diesem tonalen System. So genügt es, zumeist nur die einfache Quartenschichtung zu verwenden; so ist es auch nicht erforderlich, die Fortschreitung systematisch zu regeln. Dagegen 35 Jahre später in den Orgelvariationen: Das herkömmliche tonale System ist so weit verbraucht, daß Schönberg sich bemüht, daneben ein eigenes harmonisches System unter Wahrung der abstrakten Hierarchie jener Tonalität zu etablieren. Und er reguliert alles neu, was spezifisch für die harmonische Tonalität war: Akkordaufbau, Akkordfortschreitung, Gewichtsverhältnisse der Akkorde. Das Moment der Spannung in den Quartenakkorden wird zum Agens des musikalischen Fortgangs und bekommt dominantische Funktion; und die halbtönige Fortschreitung, die zur Regel der Akkordverbindung zwischen den Quartenakkorden und Dreiklängen erhoben wird, ist Ausgangspunkt für die Entwicklung von Kadenzzusammenhängen, die auf der chromatischen Fortschreitung beruhen.


    (S. 430f.)

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  • Anlaß für diesen Thread war ein gehaltvoller Beitrag Meliones in einem anderen Faden, zu dem ich zumindestden Versuch einer Randbemerkung machen wollte:

    Den wichtigsten Teil des Zitats hast du ausgelassen: Dass die Tonartlosigkeit der Variationen nur meine These war. :D Die würde ich jetzt als entkräftet ansehen. (Wobei - hörst du die Variationen, ausgenommen die Eckpunkte mit D im Bass, denn selbst as "tonal"? Beispielsweise im Vergeich zu, sagen wir, dem Klavierkonzert?)

    - die 2. Kammersinfonie für kleines Orchester op. 38 (die allerdings bekanntl. zu großen Teilen schon zur Zeit der 1. Kammersinfonie komponiert wurde und der zudem mit vollem Recht ein eigener Faden gewidmet ist, 1906/1939)

    Im entsprechenden Thread hatte ich ja gegen Ende noch ein bisschen Recherche betrieben. Vom ersten Satz entstammen 87 % aus der Fassung von 1907, vom zweiten Satz allerdings nur 26 %. Mehr als die Hälfte der zweiten KS ist also neu komponiert.

    - Drei Volkslieder für gemischten Chor a cappella op. 498(1948).

    Die würde ich auch als Bearbeitung zählen. Dafür gibt's noch (als erstes spät-tonales Schönberg-Stück) "Verbundenheit", die letzte Nummer aus den Six Pieces for Male Chorus a cappella, Op. 35 (1930), die allerdings nur eine Minute dauert.

    Hochinteressant - war mir alles komplett unbekannt (auch der Reichtum an Skizzenmaterial zu den Variationen!). Das bestätigt meine Intuition, wie ich sie im Thread zur zweiten Kammersymphonie beschrieben habe:

    [...] wobei die eigentlich fast schon Neugebiet sind - das ist zwar nicht "atonal", aber funktionsharmonisch auch nicht wirklich, sondern irgendwie ein neuer tonaler Weg; jedenfalls enden sie in strahlendem D-Dur.

    Die Variationen für Blasorchester gehen diesen Weg interessanterweise nicht weiter, sondern kehren zur stark erweiterten, aber klar erkennbaren Funktionsharmonik der zweiten Kammersymphonie zurück.

  • m.E. ist ganz gut zu erkennen, daß da "Spontaneität" und systematisches Vorgehen in verschiedener Weise miteinander verflochten sind. Überhaupt nach einer Alternativtonalität zu suchen bzw. dafür eine gewisse Richtung einzuschlagen setzt doch irgendwelche, wenn auch ggf. vage "spontane" Klangvorstellungen voraus. Ebenso dann z.B. die Entscheidung, den Quartenaufbau zu präferieren und dessen Möglichkeiten in einer gewissen Systematik zu erfassen. Auch wiederum die "Abweichungen" in dieser Systematik lassen auf ein "spontanes Urteil des Ohres" schließen.

    Danke, ja , das muss wohl so sein. Die Frage ist, in welchem Verhältnis und wie weit man sich einer Sache verschreibt aus Gründen, die nichts mit der Klangvorstellung zu tun haben.
    Man sollte aber natürlich davon ausgehen dürfen, dass Klangvorstellungen eine Rolle spielen.

  • Die Frage ist, in welchem Verhältnis und wie weit man sich einer Sache verschreibt aus Gründen, die nichts mit der Klangvorstellung zu tun haben.
    Man sollte aber natürlich davon ausgehen dürfen, dass Klangvorstellungen eine Rolle spielen.

    ich verstehe jetzt nicht ganz, worauf du hinaus willst. Etwas, das "nichts" mit Klangvorstellung zu tun hat, was soll das denn in unseren Zusammenhang sein?

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
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  • ich verstehe jetzt nicht ganz, worauf du hinaus willst. Etwas, das "nichts" mit Klangvorstellung zu tun hat, was soll das denn in unseren Zusammenhang sein?

    Du hast Recht, das geht eigentlich nicht.

    Aber ich meinte, dass manche Entscheidungen nur indirekt mit Klangvorstellung zu tun hatten. zB als es um die Eindämmung der Auswucherungen der Spätromantik ging. Es gab dafür auch rein parktische Gründe, nämlich dass man dieses System in seiner Expressivität bis zum Extrem ausgekostet hatte und nun nichts Expressiveres mehr möglich war.

    Ich kann mir vorstellen, dass Schönbergs veränderte Klangvorstellung ein Ergebnis des Wunsches war, mehr Epxressivität zu erreichen. Wie er diese gesteigerte Expressivität erreichen wollte, hat er mE ausprobiert anhand seiner "Experimente" mit neuen spontanen Systemen. Ich glaube, dass eine Klangvorstellung nur ganz konkret eine Rolle gespielt hat, in dem Moment, als er wirklich die Noten geschrieben hat und er sie hören konnte und feststellen, ob sie seinem Anspruch an Expressivität auch entsprachen. Ich glaube nicht, dass diese Expressivität zunächst an eine Klangvorstellung per se gebunden war.
    Er hat nach und nach anhand seiner Ansprüche an Expressivität seine neue Klangvorstellung, oder seine neue Klangwelt, geschaffen, die sich aber aus praktischen Gründen ausserhalb des Spätromantischen Wucherns befinden musste.

    So in etwa...

  • Verstehe ich nicht. Die späten tonalen Stücke wegen eines Wunsches, mehr Expressivität zu haben? Mehr Expressivität als wo? Das Maximum hatte er ja schon etwa in Erwartung.

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  • Verstehe ich nicht. Die späten tonalen Stücke wegen eines Wunsches, mehr Expressivität zu haben? Mehr Expressivität als wo? Das Maximum hatte er ja schon etwa in Erwartung.

    Ich verstehe Deinen Einwand nicht.
    Die späten "tonalen" Werke, mit den "neuen Systemen", die @zabki angesprochen hat, sind ein Zwischenschritt auf die Atonalität hin. Ich sehe sie als eine Suche. Aber eben auch motiviert durch Wunsch nach gesteigerter Expressivität, nicht nur durch eine vorausgesetzte, noch so vage, Klangvorstellung. Ich glaube es war beides und eventuell gab es noch andere Motivationen, wer weiss.
    Ich sehe es so, dass er nach intensiverer Expressivität gesucht hat, aber eben ausserhalb der Wucherungen der Spätromantik. Dass diese Entwicklung sich für Dich nicht so anhört, ist doch ein anderes Thema.

    Natürlich ist es auch keine gerade chronologische Linie der Expressivität nach oben. Wer will das auch beurteilen, ob Schöngberg diese Sache der Steigerung der Expressivität auch für den Hörer verwirklichen konnte? Für mich hat er es in mancher Beziehung soger sehr erfolgreich realisiert. In anderer ganz und gar nicht.

    Aber mein Argument war, dass das Suchen nach neuen Systemen nicht nur durch eine vorher feststehende Klangvorstellung kam, sondern auch durch den allgemeinen Wunsch die Expressivität zu steigern , aber die Sackgasse der Romantik zu verlassen. Warum er meinte, dass die Spätromantik nicht mehr passend sei, seinen Wunsch nach Expressivität zu befriedigen, das hatte ich ja schon angedeutet. Aber das wollen wir nicht nochmal alles durchkauen, da hat jeder seinen eigene Meinung dazu, oder gar keine :saint: .
    Er hat ausserdem nicht in Isolation komponiert. Er hat natürlich geschaut, was andere so machten. Und ihm reichte das nicht.

  • Ich verstehe Deinen Einwand nicht.
    Die späten "tonalen" Werke, mit den "neuen Systemen", die @zabki angesprochen hat, sind ein Zwischenschritt auf die Atonalität hin.

    Nein, das ist falsch. Schönbergs Schritt in die Atonalität war um 1908, in die Zwölftontechnik um 1923 und die späten tonalen Werke datieren um 1940. Letzteres steht ja sogar im Eröffnungsbeitrag; dass der Schritt in die Atonalität vor dem ersten Weltkrieg war, wurde im Nachbarthread x-mal betont.

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  • Aber mein Argument war, dass das Suchen nach neuen Systemen nicht nur durch eine vorher feststehende Klangvorstellung kam, sondern auch durch den allgemeinen Wunsch die Expressivität zu steigern , aber die Sackgasse der Romantik zu verlassen. Warum er meinte, dass die Spätromantik nicht mehr passend sei, seinen Wunsch nach Expressivität zu befriedigen, das hatte ich ja schon angedeutet.

    Ich gehe davon aus, dass Du eher keine Hintergrundinformation zu Schönberg hast und das alles von Dir frei erfunden ist, denn sonst würdest Du wohl so halbwegs die Chronologie von Schönbergs Schaffen kennen.

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  • Ich gehe davon aus, dass Du eher keine Hintergrundinformation zu Schönberg hast und das alles von Dir frei erfunden ist, denn sonst würdest Du wohl so halbwegs die Chronologie von Schönbergs Schaffen kennen.

    Schönberg and the Crisis of Expressionism Author(s): Alan Lessem Source: Music & Letters , Oct., 1974, Vol. 55, No. 4 (Oct., 1974), pp. 429-436 Published by: Oxford University Press Stable URL: http://www.jstor.com/stable/734095

    Über den Autor:
    https://thecanadianencyclopedia.ca/en/article/alan-lessem-emc

    Man muss natürlich den Artikel lesen, damit man die folgenden Zitate in ihrer gesamten Gewichtung richtig einordnen kann, aber dennoch nur ein paar kurze Auszüge....to wet your appetite. Wir haben all das im Musik Leistungskurs gelernt. Es war ein guter Kurs.....Die Lehrerin war mit Werner Klüppelholz verheiratet, deshalb der sehr tiefgehende Inhalt - und eines der eindrucksvollsten Erlebnisse meiner Bildung.

    “The challenge, for Schönberg and his contemporaries, was to discover how expression and form could be properly conciliated. Evidence for the association can be found in the published Schönberg correspondence. ….For those who met only indifference to the urgency of this issue, it became necessary, for the sake of 'truthfulness', to contemplate the risk of going beyond entrenched norms of asthetic mediation. Art had to become 'Expressionistic'.

    “The music of Schonberg's crucial period, which extended from I908 to the composition of the first twelve-note works, was shaped, as he noted some years later, by powerful and pervasive subjective impulses: "In my first works of the new style I was guided, in the shaping of forms, by exceptionally strong forces of expression (Ausdrucksgewalten), both with regard to particulars and to the whole". Further, he allowed himself to believe that the intensity of the subjective demand would, of necessity, generate artistic forms that were appropriate to it.”

    Im Bezug auf unser Thema des Zeitgeist schreibt dieser Autor:

    „IN Arnold Schönberg's published writings, as well as those of Webern and Berg, there is no lack of reference to the decisiveness of the year I908, in which he took the first steps in what has sub- sequently been described as 'free atonal' composition. Since then, too, there has been much wrangling over the implications of 'atonality', abstractly considered, but less willingness to explore some of the broader issues of the crisis into which Schonberg and his pupils were plunged-a crisis which has its place in the social and intellectual history of our century. In pre-War Vienna the perilous closeness of political and moral collapse (and an inevitable general hardening to the pursuit of new enterprise) brought with it a heightened awareness, on the part of thinking men, of the phenomenon of social stagnation and dis- integration. Hugo von Hoffmansthal described this phenomenon as "das Gleitende" (the "slipping away" of the world); its most pervasive symptoms were an abnormal cultivation of the self, a pre-occupation with the expressions of psychic disturbance and a guilt-ridden sexuality. …… Among the most intransigent in the struggle against decadence was the satirist and polemicist Karl Kraus. In his own journal Die Fackel (founded I899) he exposed and condemned abuses of language so evident in the inflated stylishness and superfluous phraseology of the Viennese feuilletonistes. An affinity of temperament between Kraus and Schonberg drew them, from time to time, together. In the dedication which the composer sent to Kraus with a copy of his 'Harmonielehre' (i 91 I ) he wrote: "I have learnt more perhaps from you than one can learn if one is to remain indepen- dent". At the very outset of his book he had attacked the mental indolence that, in his time, canonized its prejudices in art …….. “


    “Through the War years, the crisis of form, to which was linked a crisis of personal belief, remained unresolved. The Rilke poems chosen by Schonberg for his orchestral songs of Op. 22 give voice to his own anxious expectations; the poem entitled 'Alle welche dich suchen', for example, ends with the plea, "Gib deinen Gesetzen recht, die von Geschlecht zu Geschlecht sichtbarer sind". In 'Die Jakobsleiter' the Biblical ladder becomes a symbol of evolving life in its struggle to overcome mere existence. Gabriel makes the 'dissolution' of life and its illusions a condition for entry into the spiritual domain where the 'laws' are to be found; the music, with its high degree of textual integration, its clarity of line and thematic work, points to the imminence of such laws. Most significantly, an emerging principle of organization, described some years ago by Winfried Zillig, yields strict formal recurrences and pitch symmetries which should be associated, in the text, with the concept of a transcendent order. Schonberg's secrecy with regard to the development and consolidation of his twelve-note method was surely motivated, not by narrow pride, but by a natural reluctance to allow the method to be evaluated in abstracto, that is, without relation to the human and spiritual experience out of which it evolved.”

  • Rosamunde:

    putto hat schon recht mit seiner Richtigstellung.

    Bei den "späten tonalen Werken" Schönbergs handelt es sich nicht um letzte tonale Kompositionen vor dem Übergang zur Atonalität, sondern um Werke aus Schönbergs letzten Lebensjahren, in denen er die frühere Tonalität wieder aufgreift und weiter zu entwickeln sucht. Sicher ist der Fadentitel "späte tonale Werke" da etwas mißverständlich, es aber m.W. die gängige Bezeichnung für diese Spät-Opera.

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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Bevor Rosamunde jetzt daraus ableiten kann, "aha! Hat der olle Schönberg also sogar selbst gemerkt, dass die Atonikalität ein Irrweg war", sollte man vielleicht hinzufügen, dass er nicht ausschließlich, sondern nur ab und zu zur tonartgebundenen Musik zurückgekehrt ist. :D Auch in Schönbergs letzten Schaffensjahren ist der Großteil seiner Werke (streng ;) ) zwölftönig. Und zur frei-tonartlosen Musik ist er gar nicht mehr zurückgekehrt.

  • Auch in Schönbergs letzten Schaffensjahren ist der Großteil seiner Werke (streng ;) ) zwölftönig.

    So ist es doch wohl. Zabki hat ja am Anfang eine relevante Liste eingestellt. Ich kenne - und schätze davon - nur die Kammersinfonie, Nr. 2. Dass ich nicht mehr kenne, ist wohl mein ganz persönliches Problem, aber etliche mir gut bekannte zwölftönige Werke fallen in diese Zeit.

    Vielleicht könnte man allerdings die in den letzten zwei Jahrzehnten zumindest entstandenen Bearbeitungen nach Brahms, Monn und Händel mit hinzunehmen. Die Händel-Paraphrase finde ich sehr reizvoll und Monn kennt man vermutlich auch eher über Schönberg. Brahms höre ich aber wirklich lieber im Original.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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