Schönberg - späte Tonalität, spät-tonale Werke
Anlaß für diesen Thread war ein gehaltvoller Beitrag Meliones in einem anderen Faden, zu dem ich zumindestden Versuch einer Randbemerkung machen wollte:
Der Großteil der Orgelvariationen in D, Opus 40 (von 1941) zwischen dem D-Moll-Akkord am Ende des Rezitativs und des D-Dur-Akkordes am Ende der Fuge ist tonartlos. Die Töne streben hier kein bisschen mehr auseinander, als sie es in einer zwölftönigen (oder zumindest frei-tonartlosen) Komposition Schönbergs tun. Was ich damit nicht sagen will: Dass sie gar nicht auseinanderstreben. Trotz des unglaublich chromatischen, "ziellosen", hinsichtlich des "durchschnittlichen" Sonanzgrades mit einer zwölftönigen Komposition mindestens vergleichbaren Tonmaterials der Orgelvariationen ist ihr Sonanzgrad hauptverantwortlich für den depressiven, hoffnungslosen, suchenden, brütenden Charakter dieser Musik.
Dann müsste es zumindest möglich sein, eine beliebige viertaktige Stelle funktionsharmonisch zu analysieren. Sagen wir zwei Takte! Beispielsweise aus der ersten oder zweiten Variation
Thema dieses Threads soll also die späte Tonalität bzw. die spät-tonalen Werke Schönbergs sein.
Die hier einschlägigen Werke (wenn die Bearbeitungen hier nicht berücksichtigt werden) sind also:
- die Suite im alten Stil für Streichorchester (1934)
- die 2. Kammersinfonie für kleines Orchester op. 38 (die allerdings bekanntl. zu großen Teilen schon zur Zeit der 1. Kammersinfonie komponiert wurde und der zudem mit vollem Recht ein eigener Faden gewidmet ist, 1906/1939)
- Kol nidre für Sprecher, Chor und Orchester op. 39 (1938)
- die Variationen über ein Rezitativ für Orgel op. 40 (1941)
- die Variationen g-moll für Blasorchester op. 43A sowie ihre Bearbeitung für großes Orchester op. 43B (1943)
- Drei Volkslieder für gemischten Chor a cappella op. 498(1948).
ich beschränke mich hier auf ein Kurzreferat dieses Aufsatzes:
Christian Martin Schmidt: Ansätze zu einem harmonischen System in späten tonalen Kompositionen Schönbergs, in: Die Musikforschung, 29.1976, H. 4, S. 425-431
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/41119420
Schmidt beschreibt, wie Schönberg in den Skizzen zu den Orgelvariationen (es gibt zu keiner Komposition von Schönberg relativ gesehen soviel Skizzen wie zum op. 40) eine Art "Tonalität" entwirft, die an die letzten noch tonal zu bezeichnenden Werke vor dem Übergang zur Atonalität (Kammersinfonien) anknüpft.
Schönberg stellt systematisch nach bestimmten Prinzipien gebildete Akkkorde und Akkordfortschreitungen zusammen (die sich natürlich zur wirklichen Komposition etwa so verhalten wie Beispiele aus einer Harmonielehre zu einer solchen).
Der Akkordaufbau schließt das Bauprinzip der herkömmlichen Tonalität nicht gänzlich aus, benutzt also auch aus Terzen aufgebaute Akkorde; darüber hinaus aber entwickelt er einen zweiten Akkordtyp, der auf Übereinanderschichtung reiner Quarten beruht. Diese Quartschichtung muß nicht lückenlos sein; so kombiniert Schönberg einen gegebenen fünftönigen Quartenturm mit jeweils einem sechsten Ton, der eine Lücke in der Fortsetzung der Quartschichtung läßt (also zum Quartenturm {c - f - b - es - as} jeweils hinzutretend ges oder h oder e oder a oder d. Auf diese Weise wird ein Akkordrepertoire aufgebaut, das maßgebend ist für die Akkordbildung in den Orgelvariationen und den diese umgebenden tonalen Kompositionen.
Schönberg stellt zudem eine Fortschreitungsregel auf. In der herkömmlichen Tonalität beruht die Akkordfortschreitung im Prinzip auf der Quintfortschreitung der Grundtöne. Schönberg dagegen regelt an Stelle dessen die Fortschreitung aller Akkordtöne. Maßgebend dafür wird als Folge der weitestgehenden Chromatisierung des Tonsatzes der Halbton. Das heißt: Die Fortschreitung von einem Akkord zum nächsten erfolgt durch Halbtonfortschreitung im Prinzip aller Akkordtöne.
Beide Prinzipien, das des Akkordaufbaues und das der Akkordfortschreitungen werden allerdings nicht völlig exakt verwendet: der Akkordaufbau kennt Abweichungen von Akkordtönen um einen Halbton, die Akkordfortschreitungen Ersetzung eines Halbtonschrittes durch Ganzton- oder Terzschritt. (Das sind keine "Versehen" von Schönberg, der vielmehr die entsprechenden Stellen eigens markiert).
Der erste Akkord gehört immer dem Typus der Quartenakkorde an, der zweite ist stets ein Dur- oder Molldreiklang. Die Töne der beiden Akkorde sind je einen Halbton voneinander entfernt. Will man unter Voraussetzung der angegebenen Fortschreitungsregel in einen Dur- bzw. Molldreiklang fortschreiten, so kann der Ausgangsklang maximal sechs verschiedene Tonqualitäten umfassen - das erklärt die Sechstönigkeit der Quartenakkorde.
Die Quartenakkorde fungieren als Spannungsklänge, die Dreiklänge als Lösung. Die Akkorde sind damit in Hinsicht auf ihre Gewichte, ihre harmonische Funktion qualifiziert.
Ein Beispiel:
Ausgangspunkt sei der Quartenakkord {B - es° - as° - des' - ges' plus e"}. Dieser wird durch Umkehrung und Oktavversetzungen beispielsweise folgendermaßen disponiert:
{e° - gis° - cis' - ges' - b' - es"}.
Man hat dann quasi zwei Mollakkorde im Abstand einer großen Non. Diese Akkorde bewegen sich halbtönigaufeinander zu, so daß beide in einen d-Moll-Dreiklang übergehen:
{e° - gis° - cis' - ges' - b' - es"} --> {f° - a° - d' - f' - a' - d°}.