Die bedeutenden Violinkonzerte des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts (1960-2020)

  • Eher ein Kuriosum:

    Wings – A Concert Piece for Solo Violin, String Orchestra and Rhythm Section hat Friedrich Gulda (1930-2000) 1973 komponiert und Sylvia Marcovici gewidmet. Uraufgeführt wurde das knapp unter 20 Minuten lange „Gulda-Violinkonzert“ am 29.3.1974 in der Aula der Universität Salzburg vom Wiener Philharmonischen Konzertmeister Josef Sivo. Erst am 14.5.2005 erlebte es anlässlich Guldas 75. Geburtstag im Großen Sendesaal im Radiokulturhaus in Wien eine Wiederbelebung. Benjamin Schmid war nun der Solist, es spielte das Ensemble „die reihe". Der Mitschnitt wurde vom ORF auf CD veröffentlicht (CD ORF 420).

    Es ist ein rhapsodisches, einsätziges Werk, in dem der Komponist dem Solisten sowie Schlagzeug und Pauken viel improvisatorischen Freiraum lässt. Stilistisch dominieren melodisch osteuropäische Züge und sanft swingende Rockanklänge sowie gelegentliche atonale Einsprengsel. Gleich zu Beginn hat der Solist aus dem Einstimmen heraus eine ausführliche Kadenz für sich, die nur mit ein paar Orchesterschlägen ergänzt wird. Gegen Ende gibt es ein längeres Ostinato, in dem der Solist und die Schlaginstrumente (die Geige auch elektronisch verstärkt) volle freie Entfaltungsmöglichkeit erhalten.

    Das Werk konnte sich etwa im Vergleich zum Anfang der 80er Jahre entstandenen Cellokonzert Guldas nicht durchsetzen. Eine genaue Detailanalyse findet sich in Friedhelm Flammes Friedrich Gulda-Buch.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Colin Matthews ist ein englischer Komponist - geboren am 13. Februar 1946. Sein älterer Bruder ist David Matthews, der ebenfalls komponiert und nicht weniger als 12 Streichquartette und 9 Symphonien geschrieben hat, ich habe über einige davon berichtet. Colin wurde u.a. von Nicholas Maw ausgebildet und war eine Zeitlang Assistent von Benjamin Britten und Imogen Holst. Für die Planeten von Gustav Holst hat er "Pluto" nachkomponiert, der zu Gustavs Zeiten noch nicht entdeckt war. Colin hat auch intensiv mit Deryck Cooke an der "Kompletierung" von Mahlers Zehnten mitgewirkt und darüber auch promoviert. Die Orchestrierung von Werken fremder Hand scheint ihm besonders zu liegen, so gibt es von ihm eine Orchesterversion der kompletten Preludes 1 und 2 von Claude Debussy, ein Werk, das ich gerne mal hören würde.

    Das Violinkonzert schrieb Colin Matthews 2007-2009 für Leila Josefowizc, die es mit Oliver Knussen und dem Bournemouth SO auch uraufführte, die vorligende Aufnahme entstand bei den Proms mit dem BBC SO unter dem gleichen Dirigenten.
    Das Violinkonzert hat 2 fast gleichlange Sätze und dauert exakt 20 min. Der Stil ist gar nicht so einfach zu beschreiben. Die Tonsprache ist zeitgemäß modern mit gelegentlichen Anklängen an die Minimal Music, die Textur ist licht und transparent und die Atmosphäre, die das Stück entfaltet, würde ich als eher positiv bezeichnen. Weitgehend kann man noch tonale Bezüge ausmachen und ich denke, wer mit Bergs und Bartoks Beiträgen klar kommt, hat auch mit diesem Stück keine größeren Probleme. Die Geige spielt teils in stratosphärischen Höhen und ist praktisch ununterbrochen im Einsatz, ein durchaus virtuoses Stück, das Leila natürlich problemlos meistert. Ob sich das Stück durchsetzen wird - Leila spielt es immer noch regelmäßig - muß man abwarten.

    https://www.youtube.com/watch?v=iy_NWUdywNs

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Rebecca Saunders (geb. 19.12.67) fetziges Violinkonzert darf nicht fehlen:
    https://www.youtube.com/watch?v=wUOeyCfbnQc

    typische RS-Mucke: kraftvoll, expressiv und gleichermaßen zart & zerbrechlich......
    (inzwischen 5 Mitschnitte davon eingebunkert, alle mit Carolin Widman als Saitenquälerin. RS widmete ihr diese Mucke)


    Dazu ergänzend der CD-Hinweis und ein bereits andernorts versuchter persönlicher Höreindruck:


    Ich erlaube mir hier, eine persönliche Konzerterinnerung zu zitieren:


    Nun, der Wunsch wurde also erfüllt. :thumbup: Habe "Still" gestern erstmals von CD gehört. Was mich vor allem auch beeindruckt, ist der tolle Raumklang, den die BR-Tontechniker hier zur Verfügung stellen. Das Werk fesselt mich von CD genauso wie live, ich werde es gerne immer wieder hören. Vor allem die Orchesterfarben im zweiten Teil, die eine spannend-unheimliche Atmosphäre erzeugen, kann ich gar nicht intensiv genug "inhalieren". Topmusik der Gegenwart!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Was mich vor allem auch beeindruckt, ist der tolle Raumklang

    ist ein Special bzw. sowas wie ein Stück Substanz in RS-Mucke... am geilsten kommt das meinen Löffeln bei <Stasis > rüber, ein höchst berührendes Stück für 16 im Raum verteilten Instrumentenquäler... ...konnten wir uns mal richtig live beim Now-Festival reinziehen .... bisher meine Lieblings-RS-Mucke... ihr VK kommt natürlich auch mega-fetzig rüber..

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Das Violinkonzert von Oliver Knussen

    Wer Oliver Knussen einmal live dirigieren sah, war von seiner nicht nur körperlich mächtigen Erscheinung beeindruckt. Dass ein solcher Mann aber auch sehr sensible, feine Musik schreiben konnte, bewies mir eine Aufführung seines Violinkonzertes in Zürich mit der amerikanischen Geigerin Leila Josefowicz, die ich vor Jahren hören durfte. Ein Erlebnis, das mir im Gedächtnis haften blieb.

    Dank einer CD-Aufnahme von Knussens Violinkonzertes an den Proms in London wollte ich diesem Musikerlebnis nochmals nachspüren. Es gibt zudem erfreuliche Anzeichen, dass Knussens Violinkonzert in letzter Zeit doch vermehrt programmiert wird.

    Von Anbeginn seines künstlerischen Schaffens war Oliver Knussen sowohl als Komponist wie auch als Dirigent aktiv. Er trat als Dirigent besonders für das zeitgenössisches Schaffen seiner Komponistenkollegen des 20. Jahrhunderts ein. Als Komponist hinterlässt er nach seinem plötzlichen Herztod 2018 ein eher kleines, aber präzis gestaltetes Werk, mit Kammermusik, 3 Sinfonien und mit einer bekannt gewordenen Oper nach dem Kinderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen». Sein Violinkonzert ist zwar erst 2002 uraufgeführt worden, aber ich zähle Oliver Knussen in der Nachfolge von Berg und Britten doch eher zu den Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein Violinkonzert ist zudem Pinchas Zukerman, einem der grossen Geiger des 20. Jahrhunderts, gewidmet. Knussens Musik ist freitonal, funkelnd instrumentiert, faszinierend zu hören, in Momenten magisch und brillant imaginiert. Seine Werke sind meist eher kleinformatig angelegt. Oliver Knussen sagte selbst: "Ich mag lieber ein paar Minuten verzaubert sein, als eine Stunde hypnotisiert werden." Sein Violinkonzert dauert denn auch nur knappe 16 Minuten. Zudem werden die drei Sätze Rezitativ, Aria und Gigue ohne Pause gespielt, als wären sie e i n szenischer Auftritt in einem Theater.

    Es lohnt sich, sich bloss mal in den ersten Satz (Recitative...) des Konzertes einzuhören: Alles beginnt mit einem Glockenschlag und einem sehr hohen E der Violine: Fantastisches und Zauberhaftes ist angesagt. Dann beginnt die Geige ihre Erzählung mit einem wilden Rezitativ. Aufregung im Orchester, die Geige macht weiter, das Orchester beruhigt sich. Harfe, Vibraphone und Flötenklänge bereiten ein Podium, auf dem die Geige ihre Erzählung weiterführen kann. Das Orchester folgt der Rede der Geige, unterstützt sie in dem, was sie zu erzählen hat. Ab und zu unterbrechen Pauken und Zwischenrufe der tiefen Bläser den dramatischen Bericht der Geige, auch Schlagzeug mischt sich ein. Doch die Geige berichtet weiter, hält an ihrer Erzählung fest, das Orchester reagiert immer anteilnehmender, der Auftritt der Geige beruhigt sich…

    Dann ein Harfenklang, ruhig geworden erhebt die Geige sich aus tiefer Lage empor zum Gesang. Die dramatische Rede wird zur befreiten Aria, die Geige singt eine lange, frei atmende Melodie…. wir sind schon im zweiten Satz unterwegs....

  • Danke für die anschauliche Beschreibung, lieber Toni! Ich kenne das Werk noch nicht (auch nicht andere Kompositionen Knussens). Auf Anhieb finde ich nur eine Aufnahme, mit Leila Josefowicz und dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung des Komponisten:

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Wie wäre es mit Philip Glass Violin Concerto.
    Wiener Philharmoniker, Gidon Kremer und Christoph von Dohnanyi.

    Und damals, ja damals brachte ich mir aus den USA folgende Aufnahme als LP mit
    Penderecki Violin Concertro. Issac Stern, Stanislaw Skrowaczewski und das Minnesota Orchestra.

    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Dieter Ammann (*1962): unbalanced instability, Konzertsatz für Violine und Kammerorchester (2012-13)

    Über zeitgenössische Kunstmusik zu schreiben, bedingt hohe musiktheoretische und analytische Kompetenzen. Würde das stimmen, dürfte ich mich nicht mit der Musik von Dieter Ammann auseinandersetzen. Doch auf die Frage eines Interviewers, inwiefern «Analysierbarkeit» ein ästhetisches Kriterium sei, antwortete Dieter Ammann:

    «Mir fällt ein Konzertbesuch ein, bei dem ich mich über ein uraufgeführtes Stück meinem Sitznachbarn (einem Musiker) gegenüber sehr positiv äusserte. Seine Antwort darauf war, er könne dazu nichts sagen, ohne das Stück analysiert (!) zu haben. Dabei hatte er doch auch zwei Ohren am Kopf! Wenn nicht im Klanglichen, woher rührt dann die Legitimation, musikalische Vorgänge schriftlich zu fixieren, und sie so der Wiederholbarkeit auszusetzen? Ich denke schon, dass durchdachte Materialbehandlung (z. B. Vor- und Rückbezüge, Variantenbildungen, Ableitungen etc.) eine gewisse Komplexität bezüglich Binnenstruktur und Grossform, bewusste Gestaltung des dramaturgischen Verlaufs und ähnliches unabdingbare Merkmale von komponierter Musik sein müssten; vieles davon liesse sich folgerichtig auf analytischem Weg nachweisen. Aber die Analysierbarkeit zum ästhetischen Kriterium zu erheben zielt meiner Meinung nach an der Sache – der Musik – vorbei. Denn Musik ist für mich als Hörer eben das, was ich höre – und dies muss sich in keiner Weise mit strukturellen Gegebenheiten decken.»

    Dieter Ammann erhält zunehmend grosse Aufmerksamkeit im Bereich zeitgenössische Kompositionen. Sein Orchesterstück «Glut» ist auf dem Wege, ein Orchesterstandardwerk des 21. Jahrhunderts zu werden und neuestens feiert auch sein Klavierkonzert «Gran Toccata» mit dem Pianisten Andreas Häfliger grosse Erfolge (Ende 2020 ist sogar eine CD erschienen!). Ich wende mich hier seinem Violinkonzert unbalanced instability zu. Schon der Titel weist auf Zustände hin, die man in etwa in der modernen Physik beschrieben erwartet. Dieter Ammann sagt in seinem Werkkommentar bei Bärenreuter:

    «Der Titel des Konzertsatzes unbalanced instability verweist einerseits auf die Art und Weise des Kompositionsvorgangs, andererseits auf die daraus resultierende vielschichtige Gestaltung des Formverlaufs.» Und weiter: «Meine Musik vereint eine grosse Vielfalt verschiedenartiger Texturen. Plakativ formuliert heisst dies, dass im Verlauf eines Stücks zu jedem Zeitpunkt alles passieren kann, dass nur der stete Wandel in all seinen Gestalten, vom fliessenden Übergang bis zur Ruptur, die einzige Konstante ist. Die Musik befindet sich quasi in permanenter Kommunikation, zum einen nach aussen hin, gleichzeitig aber auch nach innen, indem sie sich selber befragt, bisweilen gar in Frage stellt.

    Das sind zwei „Hauptthemen“ meines Komponierens: einerseits die (Er)Findung individueller Formen der Zeitgestaltung mittels Klang, ohne aber auf eine Kommunikationsfähigkeit des Klangresultats zu verzichten.»

    Den ersten unmittelbaren Höröffner zu diesem Violinkonzert erlebte ich selbst bei der Schweizer Erstaufführung am 7.9.2013 am Lucerne Festival. Caroline Widmann, Widmungsträgerin dieses Konzertes, begann das Konzert mit dessen energetischem Startimpuls, mit einem in der Partitur als Fingernagel-Pizzicato bezeichneten Reissklang, und zack… riss ihr die E-Saite. Sie musste eine neue Saite aufziehen und dann nochmals beginnen. Aber so aufmerksam auf dieses erneut gespielte Fingernagel-Pizzicato habe ich noch nie einen Klang innerlich in mir mitkreiert, in der gespannten Hoffnung, alles gehe gut. Und es ging gut und die Hörerwartung konnte sich dem überlassen, was sich in diesem Konzertsatz (ohne traditionelle Satzstruktur) haptisch und fragil, aber auch überwältigend und oft die Geige allein lassend klanglich ereignet. Ein Geigenkonzert, das zu entdecken, jeder und jedem Hörenden empfohlen sei. Ich bin dran, mich weiter mit diesem Konzertsatz hörend auseinander zu setzen, das heisst: immer mehr zu hören, bei jedem Hören.

  • Nur noch zur Ergänzung:

    Danke Wieland, dein Youtube-Hinweis bezieht sich auf eine Aufführung des Violinkonzerts von Dieter Ammann in Winterthur mit Carolin Widmann und Thomas Zehetmair als Dirigenten.


    Man findet auch noch zwei weitere Aufnahmen:

    Einmal hier ebenfalls auf Youtube, die Aufnahme von Luzern, allerdings wurde das Missgeschick des Anfangs weggeschnitten (eine Aufnahme des Schweizer Radios):
    mit Carolin Widmann (Violine), Lucerne Festival Academy Orchestra, Leitung: Pablo Heras-Casado
    Dieter Ammann - unbalanced instability (2012-13) - YouTube

    Und dann die CD-Aufnahme. Dieter Ammann weisst selbst bei Youtube darauf hin:
    Thanks for the upload. For interested listeners: There is also an "official" recording out (in quite good sound quality) with the same soloist, WDR-Orchestra and Emilio Pomarico, together with other works by Furrer, Kelterborn, Moser a.o.

  • Und dann die CD-Aufnahme. Dieter Ammann weisst selbst bei Youtube darauf hin:
    Thanks for the upload. For interested listeners: There is also an "official" recording out (in quite good sound quality) with the same soloist, WDR-Orchestra and Emilio Pomarico, together with other works by Furrer, Kelterborn, Moser a.o.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Somei Satoh Violinkonzert (2002)

    Somei Satoh (Jg 1947) ist ein japanischer Komponist von Musik überwiegend kontemplativen Charakters. Sein 25-minütiges Violinkonzert von 2002 entwickelt sich sehr langsam und bleibt durchgehend meditativ. Da es im Prinzip auch tonal ist, ist eine Nähe zu ähnlicher Musik osteuropäischer Komponisten offenkundig. Die Verwendung einiger japanischer Instrumente gibt dem Ganzen aber eine eigene Note.

    Das Konzert hat Satoh für die amerikanische Geigerin mit japanischen Wurzeln Anne Akiko Meyers geschrieben, die es hier auch spielt.

    https://www.youtube.com/watch?v=EOecmVS8Bg0

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Christian Jost TiefenRausch (1997)

    Christian Jost (Jg. 1963)
    TiefenRausch
    Konzert für Violine und Orchester
    Viviane Hagner
    Essener Philharmoniker
    Der Komponist

    Christian Jost ist ein Klangmagier, dessen Musik in erster Linie vom Klang her konzipiert ist. Dabei verlässt er nie ganz den Rahmen einer erweiterten Tonalität, dadurch kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie finnische (Rautavaara, Aho, Lindberg) und baltische Komponisten (Vasks).

    „Ich bin immer auf der Suche nach dem magischen Moment und dies erreiche ich nur durch ein komplexes, differenziertes Verhältnis von Struktur, Form und Klang“. (Christian Jost)

    TiefenRausch ist ein 25-minütiges Violinkonzert in einem Satz. Beginnt mit einem 3-minütigen Solo der Geige zu dem sich dann das Orchester gesellt. Die Klangsprache ist sehr gemässigt und weitgehend tonal, aparte impressionistische Klanggewebe dominieren, durch das Schlagwerk (Celesta, Xylo- und Marimbaphon) werden teils gamelanartige Wirkungen erzeugt. Da einsätzige Werk verklingt nach einem mediativen zweiten Teil im Nichts. Spricht mich sehr an die Musik und auch das Spiel der Deutsch-Koreanerin Viviane Hagner. Derzeit zum Niedrigtarif.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Hier eine Aufzeichnung von Ammanns "unbalanced instability" mit Carolin Widmann

    https://www.youtube.com/watch?v=hGLuWjMb3WU


    Ich wollte eigentlich nur kurz in das Video reinschauen und habe das Stück dann letztlich ganz gehört. Das ist wirklich gut! Das Klangspektrum der Violine wird reichlich ausgenutzt, es gibt schöne dialogische Momente mit dem Orchester, und die Instrumentation ist einfach wunderbar - das Stück fesselt! Den Namen Ammann sollte man sich merken (ich gebe zu, dass ich diesen Komponisten vorher nicht kannte).

    Christian Jost (Jg. 1963)
    TiefenRausch
    Konzert für Violine und Orchester
    Viviane Hagner
    Essener Philharmoniker
    Der Komponist

    Christian Jost ist ein Klangmagier, dessen Musik in erster Linie vom Klang her konzipiert ist. Dabei verlässt er nie ganz den Rahmen einer erweiterten Tonalität, dadurch kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie finnische (Rautavaara, Aho, Lindberg) und baltische Komponisten (Vasks).

    „Ich bin immer auf der Suche nach dem magischen Moment und dies erreiche ich nur durch ein komplexes, differenziertes Verhältnis von Struktur, Form und Klang“. (Christian Jost)

    TiefenRausch ist ein 25-minütiges Violinkonzert in einem Satz. Beginnt mit einem 3-minütigen Solo der Geige zu dem sich dann das Orchester gesellt. Die Klangsprache ist sehr gemässigt und weitgehend tonal, aparte impressionistische Klanggewebe dominieren, durch das Schlagwerk (Celesta, Xylo- und Marimbaphon) werden teils gamelanartige Wirkungen erzeugt. Da einsätzige Werk verklingt nach einem mediativen zweiten Teil im Nichts. Spricht mich sehr an die Musik und auch das Spiel der Deutsch-Koreanerin Viviane Hagner. Derzeit zum Niedrigtarif.


    Hier habe ich in die ersten ca. sechs Minuten reingehört und bin sehr angetan. Das Violinsolo zu Beginn zieht sich etwas, aber mit dem Orchester nimmt das Stück Fahrt auf. Klanglich ist es wirklich wunderbar! Bist Du Dir sicher, dass das "weitgehend tonal" ist? Natürlich hört man deutliche tonale Sprengsel, aber von einer halbwegs nachvollziehbaren Dur-Moll-Tonalität ist das doch schon deutlich entfernt. Den Vergleich mit Vasks finde ich übrigens unfair - Jost scheint mir der deutlich interessantere Komponist zu sein.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Bist Du Dir sicher, dass das "weitgehend tonal" ist?

    Nein, als musikalischer Laie kann ich das sicher nicht gut beurteilen. Aber nach reiner 12-Tönigkeit klingt es für mich auch nicht.


    Den Vergleich mit Vasks finde ich übrigens unfair - Jost scheint mir der deutlich interessantere Komponist zu sein.

    Der bezieht sich vor allem auf die 2. meditative Hälfte. Ich finde übrigens Vasks einen ziemlich interessanten Komponisten und mir scheint, das viele hier seine Werke kaum kennen, z.B. seine Streichquartette. Immerhin hat das renommierte Artemis Quartett sein 5. und 6. Quartett uraufgeführt.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Nein, als musikalischer Laie kann ich das sicher nicht gut beurteilen. Aber nach reiner 12-Tönigkeit klingt es für mich auch nicht.


    "12-Tönigkeit" ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Atonalität. Ob das Stück dodekaphon gearbeitet ist, kann man meistens nur auf Basis der Partitur beurteilen (ich kenne niemanden, der das aus dem Stand durch reines Hören könnte). "Rein atonal" ist das Stück sicherlich nicht, aber zu "weitgehend tonal" besteht dann doch noch eine erhebliche Spannweite. Für mich klingt es nach einer atonalen (im Sinne von atonikalen) Schreibweise mit nicht unerheblichen tonalen "Momenten" (das einleitende Solo ist m. E. tonaler als das, was danach kommt). Ich lasse mich aber gerne von jemandem korrigieren, der/die das besser hört und/oder den Stil von Jost besser kennt. Außerdem sei nochmals zugegeben, dass ich bisher nur den Anfang gehört habe. Für mehr fehlt im Moment leider die Zeit.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ob das Stück dodekaphon gearbeitet ist, kann man meistens nur auf Basis der Partitur beurteilen (ich kenne niemanden, der das aus dem Stand durch reines Hören könnte).

    in dem Fall kann man sehr gut erkennen, dass es weder dodekaphon noch atonal komponiert ist. In dem Stück arbeitet Jost eindeutig mit tonalen Zentren. Ich bin jetzt gerade bei 14 Minuten angekommen und es hat sich immer noch nicht dauerhaft von a-Moll wegbewegt. Wird allmählich eintönig.
    Auch wird der Wohlfühlklangteppich nie wirklich verlassen.

    Den Rest schenke ich mir. Wenn ich gutes a-Moll hören will, nehme ich Mahler 6 oder Sibelius 4...

  • in dem Fall kann man sehr gut erkennen, dass es weder dodekaphon noch atonal komponiert ist. In dem Stück arbeitet Jost eindeutig mit tonalen Zentren. Ich bin jetzt gerade bei 14 Minuten angekommen und es hat sich immer noch nicht dauerhaft von a-Moll wegbewegt. Wird allmählich eintönig.
    Auch wird der Wohlfühlklangteppich nie wirklich verlassen.

    Den Rest schenke ich mir. Wenn ich gutes a-Moll hören will, nehme ich Mahler 6 oder Sibelius 4...


    Vielen Dank! Ich hätte wohl doch mehr als die ersten ca. sechseinhalb Minuten hören sollen. :D Bis dahin schien es mir nämlich so, als würde auf das (ziemlich tonale) Eingangssolo durch den Orchestersatz mehr Abwechselung ins Spiel kommen und die Harmonik deutlich in atonale Richtung erweitert werden. So ist das halt, wenn man das Zuhören zu früh beendet. :versteck1: A-moll hätte ich nicht erkannt (dafür hat man ja zum Glück Absoluthörer wie Dich :) ).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Micheal Daugherty - Fire and Blood (2003)

    Muss denn Musik immer wer weis wie bedeutend sein ?

    Ich finde entscheidender, dass der Hörspass gegeben ist. Wie schon aus Daugherty-Theads bekannt, kaufe ich mir seit Jahren immer "die Neuste von Daugherty" !
    Solange er mich mich nicht mit Vokalstücken nervt (da gibt es jetzt eine neue CD von 2020, die diese Eigenschaft hätte), waren diese Neuerwerbungen ausnahmslos von Erfolg und Hörspass gekrönt.
    Ausserdem schreibt Daugherty in seiner modernen weitgehend tonalen Tonsprache so, dass es für die meisten Klassikhörer noch fasslich sein dürfte. ;) Für Amfortas-Muke-Fans dürfe das hier warscheinlich zu wenig sein ... Jedenfalls haben seine interessanten Werke orchestral einiges an Effekten, percussiven Elementen und Orchesterfarben zu bieten, die mir mit ihrer rhythmischen Grundhaltung richtig Freude macht. Man wird hier keine grossen Meisterwerke erwarten ... muss ja auch nicht sein !

    Micheal Daugherty hat sein dreisätziges Violinkonzert = "Fire and Blood" für Violine und Orchester im Jahre 2003 geschrieben.
    1. Volcano
    2. River Rouge
    3. Assembly Line

    Zu den Satzbezeichnungen und Werkbezeichnungen ist anzumerken, dass sich Daugherty in seinen Werken immer von amerikanischen Erlebnissen und Erfahrungen seiner Umwelt inspirieren lässt. Quasi immer mit einem Touch Programminhalt. Das Programm von Fire and Blood ist im Textheft ausführlich beschrieben: Ob man als Hörer diese sehr persönlichen Eindrücke/Erlebnisse zur Kenntnis nehmen muss, bleibt jedem selbst überlassen. Die Musik taugt aber auch dafür, einfach als absolute Musik auf sich wirken zu lassen.

    :thumbup: Die Aufnahme mit Ida Kavafian, Violine / Detroit SO / Neeme Järvi vermittelt ein ausgezeichnetes Niveau in jeder Beziehung (Interpr./Klang) . Diese Studio-Aufnahme auf der CD erfolgte einen Tag nach der UA vom 03.Mai 2003 durch Neeme Järvi mit dem hervorragend disponierten Detroit SO.
    ^^ Auch bei den anderen Werke auf der NAXOS - CD lässt er richtig fein die Post abgehen: Motor City Triptych (2000) und das ausgezeichnete Timpani-Konzert Raise the Roof (2003) sind ebenfalls ;) richtig klasse Musik des 21.Jhd.


    NAXOS, 2001, 2003, DDD

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

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