Toni Morrison: "Jazz" - kein Roman über Jazz, sondern Jazz als Roman

  • Toni Morrison: "Jazz" - kein Roman über Jazz, sondern Jazz als Roman

    Toni Morrison: Jazz. Deutsch von Helga Pfetsch. 249 S. Rowohlt Tb.
    Die Geschichte des Jazz ist auch eine Geschichte des Rassismus, der Unterdrückung, der Gewalt der Weißen gegen african americans. Das wird deutlich in Toni Morrisons, für mich stilistisch bestem Roman "Jazz".
    Der Roman spielt in den 20er Jahren in New York und erzählt die Geschichten von Joe Trace, der seine junge Geliebte Dorcas tötete; von seiner Frau Violet, die am Rande des Wahnsinns lebt; von Violets Großmutter True Belle, die einer weißen Dame den Haushalt führte, die wiederum Golden Gray großzog, ihr mit einem Schwarzen gezeugtes uneheliches Kind. Dieser Schwarze war der Jäger und Fährtensucher Henry Les Troy, eine fast mythische Figur, wie sie bei Toni Morrison häufig vorkommen und die ihrer Literatur das Etikett "Magischer Realismus" verleihen. Der Roman wimmelt von zahlreichen weiteren Figuren und Verknüpfungen. Er erzählt von Erinnerungen, alten Geschichten, Personen; von Spuren (wie der Name "Trace" schon sagt), die in die Vergangenheit der Hauptfiguren zurückführen. Joe Trace und Violet stammen aus dem Süden und haben dort schlimme rassistische Gewalt erlebt. Die Großstadt bietet ihnen neue Möglichkeiten, Freiheiten, aber auch Gefährdungen. Die Musik der Großstadt ist der Jazz, während der Blues die Musik des ländlichen Südens ist.
    Toni Morrison erzählt in "Jazz" nicht von Musikern, Konzerten, Musikstücken, sie macht den Roman selbst zu einer Jazzähnlichen Komposition. Ihre Instrumente sind die Stimmen der Figuren, mit denen sie Motive und Themen hervortreten lässt, variiert, die Stimmen Soli "spielen", dann wieder ins Ensemble zurücktreten lässt.

    Ein stilistisches Meisterwerk der Nobelpreisträgerin des Jahres 1993.

    :wink: Talestri

    One word is sufficient. But if one cannot find it?

    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • Liebe Talestri,

    danke für Deinen Schritt, den Jazzkeller auch in der Sparte Literatur mit Leben zu erfüllen.
    Leider kann ich Deine Begeisterung für das vorgestellte Buch übehaupt nicht teilen. Meine Frau hatte es mir geschenkt (wegen "Jazz" halt), aber ich bin mit der von Dir so gepriesenen Stilistik überhaupt nicht zurecht gekommen. Im Ergebnis habe ich das Buch dann schlicht entsorgt, so daß ich jetzt leider keine Beispiele für meine Kritik bringen kann.
    Gerade bei der amerikanischen Prosa des ausgehenden 20. Jahrhunderts habe ich häufiger arge Eingewöhnungsschwierigkeiten, weil dieser "realistische" Stil mit Brüchen, Einwürfen usw. mir das Lesen verleidet. Und wenn ich in ein Buch nicht "reinkomme", dann wird es zügig zur Seite gelegt.
    Weitere Beispiele hierfür : Saul Bellow - Herzog und Tom Wolfe - Ein ganzer Mann.

    Dies soll aber bitte Deine Begeisterung nicht schmälern, sondern nur meine eigene Meinung sein.

    Grüsse
    Achim :wink:

  • Lieber Achim,
    ich kann Dich gut verstehen, leicht macht es Toni Morrison ihren Lesern nicht. Die vielfältigen Verknüpfungen erschließen sich eigentlich erst beim zweiten Lesen, da man beim ersten Mal ja noch gar nicht weiß, wohin genau die Reise geht.
    Aber ich glaube, Morrison begreift den Jazz, diese uramerikanische, von Schwarzen geprägte Musik, als mehr als nur eine Musikrichtung. Er spiegelt auch die Geschichte ihres Volkes und die ist stark beeinflusst von afrikanischen, karibischen, so gar nicht europäischen Traditionen. Das prägt auch ihre Erzählweise und wenn man weiß, dass sie ihre Bücher gerade nicht für weiße Leser schreibt, sondern für ihre Leute, dann wird es sehr schenll begreiflich, dass Weiße, vor allem Europäer schwerer Zugang finden.
    Vielleicht bist Du als Jazzkenner und -liebhaber mit einer anderen Erwartungshaltung an den Roman gegangen. Ich habe fünf ihrer acht oder neun Romane gelesen und irgendwann habe ich gedacht, so wirklich verstehen kann ein eurozentrisch geprägter Mensch sie gar nicht.
    Aber die Geschichten von Verletzungen, Gewalt, Diskriminierung, die sie erzählt, sind eben auch die Geschichten, die die Jazzmusik erzählt, zumindest sind es auch Geschichten, wie sie viele schwarze Jazzmusiker erlebt haben.
    Ich fand folgende Seite im Internet sehr hilfreich:
    http://www.gradesaver.com/jazz/study-guide/
    Da bekommt man einen ausführlichen Abriss des Inhalts und interpretatorische Hilfen.
    Insgesamt ist Toni Morrison nicht so leicht zu lesen, aber es gibt ja auch genügend Jazz-Stücke, die nicht gerade eingängig zu hören sind.
    Vielleicht versuchst Du es noch mal? Toni Morrison ist immerhin die literarische Stimme der Afroamerikaner.
    André Previn hat übrigens einige ihrer Gedichte vertont. Mein Englisch reicht bei weitem nicht aus, die Texte wirklich zu verstehen. Aber interessant finde ich die Verbindung schon.
    Viele Grüße von
    :wink: Talestri

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    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • Liebe Talestri,

    danke für Deine Replik, sie macht mich doch wieder neugierig - und das ist doch das beste, was in der Literatur passieren kann.

    Grüsse
    Achim :wink:

  • :klatsch:
    Lieber Achim, das freut mich.

    Dort oben, in dem Teil der Stadt - und das ist der Teil, wegen dem sie gekommen sind – kann die richtige Melodie, unter einer Tür gepfiffen oder von den Rillen und Kreisen einer Schallplatte aufsteigend, das Wetter verändern. Von eiskalt über heiß zu cool. ("Jazz", S. 61)

    Gute Nacht wünscht
    :wink: Talestri

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    Virginia Woolf, Jacob's Room

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