Franz Schmidt: Sinfonie Nr. 2 Es-Dur
ZitatFür uns ist Schmidt eben etwas Heiliges, zwischen Schmidt und uns besteht so eine Art Nabelschnur, da sind wir empfindlich, wenn einer darauf herumtrampelt.
Mit diesen Worten wandten sich einige Mitglieder der Wiener Philharmoniker an die Öffentlichkeit, nachdem die Sinfonie Nr. 2 Es-Dur von Franz Schmidt von einem Kritiker verrissen worden war.
Was war genau geschehen? Am 27. und 28. September 1958 gaben die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Dimitri Mitropoulos im Großen Saal des Musikvereins zwei Konzerte mit folgendem Programm:
François Couperin (arr. Darius Milhaud): "Introduction und Allegro" aus "La Sultane"
Arnold Schönberg: "Verklärte Nacht" (Fassung für Streichorchester von 1917)
Franz Schmidt: Sinfonie Nr. 2 Es-Dur
In der Wiener Presse gab es nach diesen beiden Konzerten sechs gute Kritiken, allerdings auch eine schlechte. Der Kritiker Karl Lobl schrieb am 29. September 1958 in der Morgenausgabe der Boulevardzeitung "Express":
ZitatBei ihm (Mitropoulos) bedeuten Intensität, Phantasie und Persönlichkeit mehr als die objektive Richtigkeit. Man erkannte das am besten bei der Zweiten Symphonie von Franz Schmidt, die fast wie ein gutes Stück klang, weil sie von Mitropoulos mit Energie und gewaltigem Aufwand an effektvollen Retuschen zumindest spannend nacherzählt wurde. An ihrer akademisch fundierten, schönseligen, wenn auch durchaus achtbaren Hinterwäldler-Mentalität vermochte allerdings auch er nichts zu ändern. Aber er kaschierte sie gut.
Diese Unverschämtheit konnte der Orchestervorstand der Wiener Philharmoniker nicht auf sich beruhen lassen. Also organisierte er eine Publikumsbefragung. Im November 1958 verkündete er stolz deren Ergebnis: Von insgesamt 2360 Antworten waren 13 Personen mit der Kritik im "Express" einverstanden, 112 Personen äußerten sich differenziert, während 2235 (!) Personen die Schmähkritik im "Express" verurteilten.
Woher kommt diese "Nabelschnur" zwischen Franz Schmidt und den Wiener Philharmonikern? 1896 erhielt Schmidt eine Stelle als Cellist sowohl bei den Wiener Philharmonikern als auch im Wiener Hofopernorchester (heute das Orchester der Wiener Staatsoper). Unter dem Chefdirigenten Gustav Mahler wurde Schmidt der bevorzugte Erste Cellist im Hofopernorchester. Seine Tätigkeit bei den Wiener Philharmonikern behielt er bis 1911 bei, die Stelle als Solocellist im Wiener Hofopernorchester sogar bis 1914. Dies bedeutet: Der Komponist Franz Schmidt war für die Wiener Philharmoniker "einer der ihren". Hinzu kommt, dass Schmidt jahrzehntelang an der Wiener Musikakademie unterrichtete, deren Rektor er von 1927 bis 1931 war. Er lehrte dort bis 1937 Klavier, Violoncello, Kontrapunkt und Komposition. Zahlreiche Musiker, die später Mitglieder der Wiener Philharmoniker wurden, waren durch seine Schule gegangen. Mehr Nabelschnur geht kaum.
Nachdem Schmidt 1911 seine Cellistenstelle bei den Wiener Philharmonikern niederlegt hatte, widmete er sich der Komposition seiner Zweiten Sinfonie. Zuvor waren bereits die Sinfonie Nr. 1 (komponiert 1896-99, uraufgeführt 1902) und die Oper "Notre Dame" (komponiert 1902-04, uraufgeführt 1914) entstanden. Für die Sinfonie Nr. 1 hatte er den Beethoven-Preis der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde gewonnen.
Die Arbeiten an der Sinfonie Nr. 2 waren im August 1913 abgeschlossen. Am 3. Dezember 1913 erfolgte die Uraufführung im Musikverein unter der Leitung des Widmungsträgers, nämlich des Hofkapellmeisters Franz Schalk. Es spielte das Wiener Hofopernorchester. Die Wiener Philharmoniker spielten das Werk erstmals am 29. November 1914 unter der Leitung von Felix Weingartner.
Das Werk hat die Satzbezeichnungen
- Lebhaft
- Allegretto con variazioni
- Finale: Langsam
Vordergründig handelt es sich also um eine dreisätzige Sinfonie, was zur damaligen Zeit ungewöhnlich war. Man kann aber bei näherem Hinsehen eine Viersätzigkeit erkennen, denn das zwischen einem langsamen zweiten Satz und dem Finale üblicherweise eingeschobene Scherzo mit einem Trio ist durchaus vorhanden: Die ausgedehnte neunte Variation des Variationensatzes ist von Schmidt ausdrücklich als "Scherzo: Sehr lebhaft" bezeichnet worden, während die zehnte und letzte Variation "Trio: Sehr ruhig" heißt und zudem eine Wiederholung des Scherzos beinhaltet.
Das etwa 45- bis 50-minütige Werk ist für ein riesiges Orchester gesetzt. Die Bläser und die Streicher spielen oft für sich allein, werden dann aber wieder überaus kunstvoll zusammengeführt. Faszinierend an diesem Werk ist nicht nur die Instrumentenbehandlung, etwa der gewaltige Einsatz der Blechbläser am Ende des Finales, sondern beeindruckend sind auch die thematischen Querverbindungen zwischen den drei Sätzen. Ich erlaube mir, insoweit auf die Analyse bei Wikipedia zu verweisen:
https://de.wikipedia.org/wiki/2._Sinfonie_(Schmidt)
Der Vergleich mit dem Schluss der Sinfonie Nr. 5 von Bruckner, den ich nicht nur bei Wikipedia, sondern auch in einem meiner CD-Booklets vorgefunden habe, erschließt sich mir allerdings nicht so ganz, es sei denn man meint wirklich ausschließlich die Wirkung der Blechbläserchoräle, die in der Tat bei Bruckner ebenso fantastisch ist wie bei Schmidt. Noch beeindruckender an dem Finale der Schmidt-Sinfonie ist für mich allerdings nicht dessen Schluss, sondern sein Beginn: Die Fuge, die sich zunächst allein in den Bläsern abspielt, bis nach etwa 1 Minute und 15 Sekunden die Streicher (ohne Bläser) einen Mittelteil spielen, gefolgt wiederum von einer längeren reinen Bläserpassage, der nach insgesamt etwa 3 Minuten und 25 Sekunden wiederum eine reine Streicherpassage folgt, bis dann die Orchestergruppen nach etwa 3 Minuten und 40 Sekunden erstmals zusammenspielen. All dies ist so unglaublich kunstfertig komponiert, dass ich mich kaum daran satthören kann.
Gehört habe ich dieses grandiose Werk erstmals in einem Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der Leitung von Horst Stein. Ich erinnere, obwohl seitdem mehr als 30 Jahre ins Land gegangen sind, noch als wäre es heute die ungeheure Wirkung, die diese Sinfonie im Konzertsaal auf mich hatte. Nach der Aufführung unterhielt ich mich - völlig aufgekratzt - im Künstlerzimmer mit Horst Stein, der mir sehr das Anhören der Musik von Franz Schmidt ans Herz legte. Insbesondere empfahl er mir neben der Sinfonie Nr. 2, die er als eins seiner Leib- und Magenstücke bezeichnete, das Oratorium "Das Buch mit sieben Siegeln".
Nun zu den Einspielungen:
Ich kaufte mir nach dem Konzerterlebnis mit Horst Stein die damals gerade erschienene Chandos-Aufnahme von Neeme Järvi mit dem Chicago Symphony Orchestra (rec. Chicago 20.-25.4.1989)
Bis heute ist dies meine Lieblingsaufnahme. Das damalige Chicago Symphony Orchestra, dessen Chefdirigent Sir Georg Solti war, hatte einfach zu seiner Zeit die besten Blechbläser der Welt, und das hört man in dieser Aufnahme deutlich. Die Orchesterkultur ist aber auch sonst überragend.
Eine weitere ganz ausgezeichnete Aufnahme hat Semyon Bychkov mit den Wiener Philharmonikern vorgelegt (rec. Wien 1.-4.9.2015)
Der Klang der Streicher ist hier wärmer und klangschöner als in der Aufnahme aus Chicago. Was die Leistung der Bläser angeht, ziehe ich allerdings die Aufnahme vom Michigansee vor. Dennoch meine ich, dass Bychkovs Einspielung quasi ein "Muss" ist, allein schon weil kein Orchester mit diesem Werk eine auch nur annähernd so große Geschichte hat wie die Wiener Philharmoniker.
Abraten möchte ich von meiner dritten CD mit diesem Werk, nämlich dem Mitschnitt der besagten Aufführung der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Dimitri Mitropoulos im Großen Saal des Musikvereins am 28. September 1958
Nach heutigen Maßstäben ist das dort gezeigte Orchesterspiel nicht konkurrenzfähig. Schlechtes Zusammenspiel, jede Menge Verblaser. Jedes Studentenorchester bekommt das heutzutage besser hin. Mit den Wiener Philharmonikern des Jahres 2015 und dem Chicago Symphony Orchestra des Jahres 1989 kann man die Wiener Philharmoniker an jenem 28. September 1958 nicht vergleichen - da liegen Welten dazwischen. Wurde vielleicht nicht genug geprobt? Im Booklet der Music&Arts-CD heißt es, dass die Wiener Philharmoniker vom 24. bis 26. September 1958 unter der Leitung von Sir Georg Solti die berühmte Decca-Aufnahme von Wagners "Rheingold" einspielten, dies jedoch nicht fertigstellen konnten, weil am 27. und 28. September 1958 die beiden Konzerte mit Dimitri Mitropoulos anstanden. Deshalb musste man, was vorher so nicht geplant war, am 29. September 1958 im Studio mit dem "Rheingold" weitermachen. Dies erklärt vielleicht, dass die Konzentration möglicherweise am 28. September 1958 nicht ganz bei Schmidt war bzw. die Probenarbeit für dieses Werk nicht ausreichte.
Weitere Aufnahmen, die ich allerdings nicht in der Sammlung habe und zu denen ich daher nichts sagen kann, sind diese:
Wer an der Partitur der Sinfonie interessiert ist, findet sie unter der Seite
https://www.universaledition.com/franz-schmidt-…2-symphonie-336
Die Diskussion über Franz Schmidts Sinfonie Nr. 2 möge beginnen