Das Lucerne Festival gestern und heute
Liebe Capricciosi,
im Thread über die 2. Sinfonie von Gustav Mahler gab es im Zusammenhang mit der Live-Aufnahme vom Lucerne Festival 2003 unter Claudio Abbado eine kleine Diskussion über die Entstehung des Orchesters. Dies hat mich ermuntert dort eine kurz gefasste Dokumentation über die Geschichte des Festivals zu posten. Da das Thema vielleicht von allgemeinem Interesse ist und nicht unbedingt mit Mahlers Sinfonie zusammenhängt, erlaube ich mir einen eigenen Thread zum Lucerne Festival zu eröffnen, der vielleicht auch dazu ermuntert, eigene Erlebnisse beim Festival mitzuteilen, egal ob schon vor 50 Jahren oder erst knapp vor Corona...
Die wesentlichen Informationen zur Geschichte des Festivals habe ich aus dem folgenden Buch entnommen und teils wörtlich oder in verkürzter eigener Formulierung übernommen:
Erich Singer: Lucerne Festival – Von Toscanini zu Abbado
Verlag Prolibro, Luzern, 2014
Das Buch ist sehr empfehlenswert, weil es fern von chauvinistischer Lobhudelei die Geschichte des Festivals mit all ihren Ecken und Kanten und auch den internen Auseinandersetzungen im Führungsgremium darstellt.
Ich werde den Anfang meiner Ausführungen etwas ausführlicher gestalten, weil dadurch deutlich wird, dass Toscanini eigentlich gar nicht der eigentliche Motor des Unternehmens war, sondern Ernest Ansermet und die örtliche Verkehrskommission Luzern.
ZitatAlles anzeigenDie Gründung von Festspielen in Luzern wurde seit 1936 geplant. Das geschah dabei in erster Linie um den Fremdenverkehr zu beleben, und weniger aus dem Geist als Hort der Freiheit, wie es dann später in lokalpatriotischen Äußerungen oft verbrämt dargestellt wurde.
Spätestens im ersten Halbjahr 1937 nahm die Planung konkrete Formen an. Im ersten Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der Vorstände der Verkehrskommission und des Offiziellen Kurkomitees vom 16.11.1937 ist festgehalten, der Vorsitzende Zimmerei habe die "Anwesenden über vorangegangene Besprechungen mit Herrn Ansermet (Orchester Romand [sic!]) und Herrn Schulthess (Zürich)" orientiert. Weiter liest man: "Der Vorsitzende glaubt, dass die große Veranstaltung den Namen Luzerns als Fremdenplatz mit einem Ruck in den Vordergrund rücken würde. Schon die Mitwirkung berühmter Dirigenten würde eine Sensation bedeuten und die Veranstaltung durch ihre propagandistische Wirkung auch wirtschaftlich rechtfertigen." Der legendäre Dirigent Ernest Ansermet, 1918 Gründer des Orchester de la Suisse Romande,fasste aus menschlichen und künstlerischen Gründen ins Auge, dem in den Folgejahren gültigen Arbeitsvertrag seiner Musiker zu einer sinnvollen Ergänzung zu verhelfen. Diese waren nämlich lediglich für die Konzertsaison, also für rund ein halbes Jahr, fest angestellt; während der anderen Jahreshälfte waren die Mitglieder arbeitslos, was sie zu einem Nebenerwerb zwang. In der Regel verdienten sie sich in der Sommersaison ein Einkommen durch die Mitwirkung in einer Kurkapelle, was der künstlerischen Entwicklung nicht unbedingt förderlich war.
Deshalb hielt Ansermet nach künstlerisch ergiebigeren Betätigungsfeldern Ausschau, ging auf Mission und fand für sein Anliegen Gehör - in Luzern, nach seinen Worten dem «Montreux der deutschen Schweiz». Das Begehren passte haargenau zu den dortigen Festwochen-Absichten - man benötigte schließlich ein gutes Orchester...Ursprünglich wollte man bei der Eröffnung der ersten Festwochen Richard Strauss dabei haben, der zunächst zusagte. Jedoch ergaben sich im Verlauf der Verhandlungen Schwierigkeiten und schließlich lehnte Strauss ab. Über die Gründe gibt es keine klaren Antworten, nur Mutmaßungen...
Auch Hermann Scherchen sollte (zumindest als Berater und Helfer) eingebunden werden, aber auch dies scheiterte. Der als «Kulturbolschewist» in die Schweiz Verjagte erlebte in Luzern einmal mehr, dass ihn konservative Exponenten der Musikgilde unter Zuhilfenahme der Behörden mit allen Mitteln zurückbanden.Schließlich und endlich fand man aber eine beeindruckende Zahl von international bekannten Exponenten der Musikszene, die dem Festival zur Eröffnung Glanz gaben:
Fritz Busch sprang für Richard Strauss ein. Zudem lagen Zusagen von Toscanini und Bruno Walter vor. Dabei willigte Toscanini spontan ein, neben dem Galakonzert noch zwei weitere Konzerte im Kunsthaus zu dirigieren.1938: Das erste Konzert fand am 18. Juli im Kursaal statt unter Ernest Ansermet mit Alfred Cortot als Solist. Dazu hatte Ansermet ein Orchester zusammengestellt, das aus dem Luzerner Kursaal-Orchester bestand und um Mitglieder des Orchestre de la Suissse Romande erweitert wurde. Am 19. August gab es ein weiteres großes Orchesterkonzert unter Fritz Busch, wobei dessen Bruder Adolf als Solist auftrat. Erst am 25. August fand dann das legendäre „Gala-Konzert“ vor dem Wagner-Haus in Tribschen unter Toscanini statt, das seitdem als Geburtstunde des Lucerne Festival und seines Festival-Orchesters angesehen wird. Der als „Elite-Orchester“ bezeichnete Klangkörper ging aus dem von Ansermet zusammengestellten hervor, wurde aber nochmals erweitert. Dies organisierte in erster Linie Adolf Busch in Absprache mit Toscanini. Dabei wurden die Streicher des Orchesters durch das Busch-Quartett, den Geiger Enrico Polo und weitere führende Streichquartette (namentlich nicht genannt) sowie die Geigerin Stefi Geyer verstärkt. Dieses so erweiterte Orchester stand aber nur Toscanini zur Verfügung, nachfolgende Konzerte in Luzern unter Willem Mengelberg und Bruno Walter fanden wieder mit dem von Ansermet zusammengestellten Orchester statt.
1939: Das von Adolf Busch und Ernest Ansermet zusammengestellte Elite-Orchester stand nun nach einer Intervention von Bruno Walter nicht nur Toscanini, sondern auch anderen Dirigenten zur Verfügung. Walter selbst konnte jedoch wegen der bekannten tragischen familiären Ereignisse nicht teilnehmen und musste während der Proben abreisen (er hätte die 2. Sinfonie von Mahler dirigieren sollen) .
1940: keine Festwochen.
1941-42: Auf Initiative des Verkehrsdirektors Pessina wurde das Orchester der Mailänder Scala eingeladen. Dies stieß nicht überall auf Zustimmung, aber man entschied sich für die Lösung, weil dadurch Proben schon in Mailand stattfinden konnten. Ansermet fühlte sich vor den Kopf gestoßen und war nicht bereit zu dirigieren. Man fand schließlich zwei - allenthalben nicht achsenfeindliche - Dirigenten schweizerischer Provenienz, die das Orchestra della Scala di Milano leiten konnten: Robert E. Denzler und Othmar Schoeck. Zusätzlich kamen Victor de Sabata, Antonio Guarneri und Bernardino Molinari. 1942 war auch Tullio Serafin mit von der Partie.
1943: Es ergaben sich nun doch starke Widerstände gegen die neuerliche Verpflichtung eines Klangkörpers aus einem faschistischen Staat. Ein „Schweizer Orchester“ aus verschiedenen lokalen Orchestern wurde daher gebildet, das als Festwochenorchester der IMF (Internationale Musikfestwochen) von 1943 an ca. 50 Jahre bestand und mit nur einer Ausnahme (1954, siehe unten) bis zur Auflösung Anfang der 90er-Jahre in Luzern auftrat. 1943 war laut Singer «mehr als die halbe Formation des Eliteorchesters von 1939» dabei, u.a. Rudolf Baumgartner, der spätere künstlerische Direktor der IMF. Sicher fehlten dabei aber auch wichtige Exponenten von 1939, wie z.B. das Busch Quartett, das zu der Zeit in den USA war [meine eigene nicht nachprüfbare Meinung]. Auch Toscanini dirigierte das Orchester nach 1939 nicht mehr. Er kam nur 1946 zu sogenannten "Extra-Konzerten" noch einmal nach Luzern, dabei allerdings mit dem Orchester der Mailänder Scala.
1944: Erstmals tritt Wilhelm Furtwängler ans Dirigentepult in Luzern. Ab 1947 nimmt er regelmäßig bis zu seinem Tod an den Festspielen teil.
1945-1952: Zum 10-jährigen Jubiläum 1948 konnten Karajan und Kubelik verpflichtet werden. Toscanini jedoch war zu dieser Zeit schon nicht mehr reisefreudig und winkte ab. 1949 entstehen Streitereien zwischen IMF und SMV (Schweizer Musikverband) über Zuständigkeit und Programmgestaltung, die fast zum Zerwürfnis führen. 1952 ergaben sich neue Differenzen.
1954: Das Philharmonia Orchestra aus England ersetzte das Festspielorchester vollständig, das wohl wegen der beschriebenen Differenzen nicht verpflichtet wurde. Zusätzlich gab es organisatorische Probleme, um die «Gegenpäpste» Karajan und vor allem Furtwängler bei der Stange zu halten. Das Orchester wünschte zwei Konzerte mit seinem Chef (Karajan). Das hätte die Absage Furtwänglers bedeutet, der exklusiv 2 Auftritte verlangte. Es gab dabei Grabenkämpfe der jeweiligen Anhänger: Die einen unterstellten Karajan gewiefte Taktik, warnten vor ihm und fürchteten, Furtwängler werde geopfert. Die anderen argumentierten, Furtwängler sei ein kranker Man, Karajan gehöre die Zukunft. Schließlich fand man einen Kompromiss. Eines der Furtwängler-Konzerte wurde doppelt gegeben und so hatte er am Ende ein Konzert mehr als Karajan.
1955: Neuer Anlauf und Wiederverpflichtung des Festspielorchesters, das ab jetzt unter dem Namen Schweizer Festival-Orchester (SFO) auftritt.
1956: Die „Lucerne Festival Strings“ werden gegründet und geben ein erstes Konzert mit Schneiderhan u. Baumgartner. Zusätzlich wird auch das Philharmonia Orchestra als Gastorchester wieder eingeladen. Damit beginnt die Phase der Gastorchesterauftritte, die sich in den folgenden Jahren immer mehr verstärkt.
1957: Erstmaliger Auftritt der Wiener Philharmoniker. (Davon gibt es einen Mitschnitt von Beethovens Klavierkonzert op. 73 mit Robert Casadesus und Dimitri Mitropoulos).
Später treten auch die Berliner Philharmoniker auf und ab Mitte der 60er-Jahre amerikanische Orchester.
1992 (oder 1993 ?) wird das SFO aufgelöst.
Danach erfolgt vom damaligen Intendanten Bamert der Versuch, ein neues Festivalorchester zu schmieden aus Mitgliedern des Gustav Mahler Jugendorchester (GMJO) und des European Community Youth Orchestra (ECYO). Dies gelingt nur zwei Jahre lang (1994-95), in denen verschiedene Dirgenten (Sanderling, Menuhin, Roshdestvenski, Dutoit) künstlerisch erfolgreiche Aufführungen realisieren. Allerdings lässt der Besucherzuspruch zu wünschen übrig und deckt damit in keiner Weise die organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten für die Weiterführung eines solchen „Sommer-Orchesters“. 1996 wird der Plan endgültig aufgegeben.
1999: Festliche Einweihung des neuen KKL und der „Salle blanche“ durch die Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado mit Rihms In-Schrift und Beethovens 9. Sinfonie.
2000: Claudio Abbado kontaktiert den Intendanten Michael Haefliger und unterbreitet ihm die Idee eines neuen Lucerne Festival Orchestra.
2003: Eröffnungsgala des LFO unter Abbado mit Debussy’s La Mer. Danach in zwei weiteren Konzerten Aufführung der 2. Sinfonie von Gustav Mahler.
2013: Letzte Konzerte unter Abbado, der am 20. Januar 2014 in seiner Heimatstadt Bologna stirbt.
2016: Riccardo Chailly wird Nachfolger von Claudio Abbado
Aus den Entwicklungen der ersten beiden Jahre erkennt man, dass das erste Luzerner Festival-Orchester nicht im eigentlichen Sinn ein von Toscanini komplett „handverlesenes“ Orchester war, sondern nur durch zusätzliche illustre Kammermusikformationen erweitert wurde. Eine Beständigkeit dieses Orchesters gab es eigentlich auch nur 1938-39. Selbst wenn nach den Angaben des Singer-Buchs im Jahr 1943 „mehr als die halbe Formation des Elite-Orchesters von 1939“ spielte, so war nach meiner Vermutung dann z.B. das Busch-Quartett nicht mehr dabei, das in Kriegszeiten natürlich nicht von USA aus anreisen konnte. Und auch Toscanini dirigierte das Orchester nach 1939 nicht mehr. Er kam nur 1946 zu sogenannten "Extra-Konzerten" noch einmal nach Luzern, dabei allerdings mit dem Orchester der Mailänder Scala.
Nach dem Krieg war das Festival-Orchester Luzern bzw. Schweizer Festival-Orchester auf jeden Fall ein nationaler Klangkörper. Nur so ließen sich anfänglich überhaupt die Festwochen im organistaorischer und finanzieller Hinsicht realisieren. Dabei gab es allerlei Gerangel um Zuständigkeiten. Mit dem Beginn der Gastspiele fremder Orchester ab den späten 50er-Jahren ging die Bedeutung des Festival-Orchesters offensichtlich allmählich Stück um Stück zurück, so dass die Auflösung 1992 nicht verwunderlich ist.
So gesehen war der Neuanfang 2003 wirklich von ganz anderer Qualität und der Beginn einer ganz anderen Ära, wo nach anfänglichen stark variierenden Orchesterbesetzungen auch mit den Berlinern und sogar den Wienern (Franz Bartolomey!) so ab 2007 ein klar definierter Klangkörper entstand, wo bis auf wenige Ausnahmen immer dieselbe Besetzung spielt. Natürlich gab es nach dem Tod von Abbado eine größere Veränderung, als Chailly übernahm und Leute aus dem Scala-Orchester unterbringen wollte. Ich war zum letzten Mal 2016 bei einem Konzert des LFO. Über den derzeitigen Stand habe ich aber nun auch wegen Corona keinen Überblick mehr.