Das Lucerne Festival gestern und heute

  • Das Lucerne Festival gestern und heute

    Liebe Capricciosi,

    im Thread über die 2. Sinfonie von Gustav Mahler gab es im Zusammenhang mit der Live-Aufnahme vom Lucerne Festival 2003 unter Claudio Abbado eine kleine Diskussion über die Entstehung des Orchesters. Dies hat mich ermuntert dort eine kurz gefasste Dokumentation über die Geschichte des Festivals zu posten. Da das Thema vielleicht von allgemeinem Interesse ist und nicht unbedingt mit Mahlers Sinfonie zusammenhängt, erlaube ich mir einen eigenen Thread zum Lucerne Festival zu eröffnen, der vielleicht auch dazu ermuntert, eigene Erlebnisse beim Festival mitzuteilen, egal ob schon vor 50 Jahren oder erst knapp vor Corona...

    Die wesentlichen Informationen zur Geschichte des Festivals habe ich aus dem folgenden Buch entnommen und teils wörtlich oder in verkürzter eigener Formulierung übernommen:

    Erich Singer: Lucerne Festival – Von Toscanini zu Abbado
    Verlag Prolibro, Luzern, 2014

    Das Buch ist sehr empfehlenswert, weil es fern von chauvinistischer Lobhudelei die Geschichte des Festivals mit all ihren Ecken und Kanten und auch den internen Auseinandersetzungen im Führungsgremium darstellt.

    Ich werde den Anfang meiner Ausführungen etwas ausführlicher gestalten, weil dadurch deutlich wird, dass Toscanini eigentlich gar nicht der eigentliche Motor des Unternehmens war, sondern Ernest Ansermet und die örtliche Verkehrskommission Luzern.

    Aus den Entwicklungen der ersten beiden Jahre erkennt man, dass das erste Luzerner Festival-Orchester nicht im eigentlichen Sinn ein von Toscanini komplett „handverlesenes“ Orchester war, sondern nur durch zusätzliche illustre Kammermusikformationen erweitert wurde. Eine Beständigkeit dieses Orchesters gab es eigentlich auch nur 1938-39. Selbst wenn nach den Angaben des Singer-Buchs im Jahr 1943 „mehr als die halbe Formation des Elite-Orchesters von 1939“ spielte, so war nach meiner Vermutung dann z.B. das Busch-Quartett nicht mehr dabei, das in Kriegszeiten natürlich nicht von USA aus anreisen konnte. Und auch Toscanini dirigierte das Orchester nach 1939 nicht mehr. Er kam nur 1946 zu sogenannten "Extra-Konzerten" noch einmal nach Luzern, dabei allerdings mit dem Orchester der Mailänder Scala.

    Nach dem Krieg war das Festival-Orchester Luzern bzw. Schweizer Festival-Orchester auf jeden Fall ein nationaler Klangkörper. Nur so ließen sich anfänglich überhaupt die Festwochen im organistaorischer und finanzieller Hinsicht realisieren. Dabei gab es allerlei Gerangel um Zuständigkeiten. Mit dem Beginn der Gastspiele fremder Orchester ab den späten 50er-Jahren ging die Bedeutung des Festival-Orchesters offensichtlich allmählich Stück um Stück zurück, so dass die Auflösung 1992 nicht verwunderlich ist.

    So gesehen war der Neuanfang 2003 wirklich von ganz anderer Qualität und der Beginn einer ganz anderen Ära, wo nach anfänglichen stark variierenden Orchesterbesetzungen auch mit den Berlinern und sogar den Wienern (Franz Bartolomey!) so ab 2007 ein klar definierter Klangkörper entstand, wo bis auf wenige Ausnahmen immer dieselbe Besetzung spielt. Natürlich gab es nach dem Tod von Abbado eine größere Veränderung, als Chailly übernahm und Leute aus dem Scala-Orchester unterbringen wollte. Ich war zum letzten Mal 2016 bei einem Konzert des LFO. Über den derzeitigen Stand habe ich aber nun auch wegen Corona keinen Überblick mehr.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)


  • Mindestens eines der Konzerte aus dem Philharmonia-Jahr ist in guter Qualität mitgeschnitten worden - live aus dem Kunsthaus Luzern am 22. August 1954 (also genau sieben Wochen nach dem Endspiel):

    Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125

    Elisabeth Schwarzkopf, Elsa Cavelti, Ernst Haefliger, Otto Edelmann
    Lucerne Festival Chorus
    Philharmonia Orchestra
    Wilhelm Furtwängler

    Meines Wissens ist das Furtwänglers letzte Aufnahme der Neunten (von gut 13 erhaltenen) und meiner unmaßgeblichen Meinung nach in dieser Reihe eine der besten.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Meines Wissens ist das Furtwänglers letzte Aufnahme der Neunten

    In der Tat. Und wenn man nur über seine Nachkriegsaufnahmen der Neunten spricht, ist Luzern unter diesen bestimmt seine beste Aufnahme.

    Zu den "Klassikern" der Luzern-Aufnahmen von Furtwängler zählt das Brahms-Violinkonzert mit Yehudi Menuhin und dem Festspielorchester. Erhältlich in vielen Editionen, u.a. in dieser hier

    die auch einige weitere Mitschnitte von Furtwänglers Wirken in Luzern bereit hält.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Herzlichen Dank für Deinen wertvollen Beitrag zur Chronik des Lucerne Festivals, lieber leverkuehn.

    Als das Musikfest in der Zentralschweiz noch "Internationale Musikfestwochen Luzern" hiess und in der Tat in der Schweiz ein gesellschaftliches Grossereignis war, erlebte ich meine musikalische Initiation!

    Ich kopiere aus dem Thread zu Bruckner's Sinfonie Nr.3:

    Insofern verdanke ich dem Festival in Luzern eine lebenswegweisende Erfahrung.

    Gruss aus Bern vom Walter

  • Die Aufführung der IX. von Beethoven war das erwähnte Programm, das doppelt gegeben wurde (21. & 22.8.54)

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Herzlichen Dank für Deinen wertvollen Beitrag zur Chronik des Lucerne Festivals, lieber leverkuehn.

    Als das Musikfest in der Zentralschweiz noch "Internationale Musikfestwochen Luzern" hiess und in der Tat in der Schweiz ein gesellschaftliches Grossereignis war, erlebte ich meine musikalische Initiation!

    Ich kopiere aus dem Thread zu Bruckner's Sinfonie Nr.3:

    Insofern verdanke ich dem Festival in Luzern eine lebenswegweisende Erfahrung.

    Gruss aus Bern vom Walter

    Dein Erweckungskonzert war dann also am 3.9.1966...

    Mein eigener erster Besuch in Luzern fand 1975 statt, zu einer Zeit, als für mich Reisen zu Konzerten in fernen Städten und Ländern eigentlich noch überhaupt kein Thema waren. Aber damals ritt ich gerade auf meiner ersten - nicht Corona- :D - sondern Mahlerwelle und hörte speziell die 9. Sinfonie so im Abstand von ca. 10 Tagen, zumeist in der Aufnahme mit Barbirolli. Da fiel mir bei der damals abonnierten NZfM ein Programmprospekt aus Luzern in die Hände, wo die 9. von Mahler mit dem New York Philharmonic Orchestra unter Pierre Boulez angekündigt wurde. Das war für mich der Antrieb, das zu Studentenzeiten nicht reichlich vorhandene Geld zu sichten und zu sammeln, um eine Kurzreise nach Luzern zu diesem Konzert zu finanzieren.
    Damals wurden die IMF, wie sie noch hießen, in dem nicht sehr attraktiven Kunsthaus durchgeführt, das dort stand, wo sich heute das KKL befindet. Ich hatte natürlich einen billigen Platz, sehr weit hinten, in einem Bereich, der gar nicht mehr zum eigentlichen Saal gehörte, so weit ich mich entsinne. Akustisch war das nicht optimal und so richtig erinnern kann ich mich an das Konzert nun doch nicht mehr.
    Danach kam ich erst 2005 wieder nach Luzern, auf Betreiben von guten Freunden, die ich regelmäßig in Salzburg bei der Mozartwoche und bei den Osterfestspielen traf. Das war dann natürlich alleine vom Saal und der Akustik im neuen KKL etwas ganz anderes. Als Einstand erlebte ich dort die 7. von Mahler mit Abbado und auch ein Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra unter dem damaligen Chef Daniel Harding. Dieser Besuch war für mich in gewissem Sinn weichenstellend, denn ich meldete mich damals als Unterstützer und "Friend" beim Mahler Chamber Orchestra an und durfte von da an bei allen Proben des Orchesters dabei sein, besonders natürlich in Luzern, wenn sie mit Abbado spielten, aber auch an allen anderen Spielorten, wo ich das Orchester hörte. 2005 war das Orchester noch nicht so richtig aus den Kinderschuhen gewachsen (es hatte sich 1997 gegründet mit Hilfe von Abbado, als viele der Mitglieder des GMJO gleichzeitig die Altersgrenze erreicht hatten und ausscheiden mussten, aber eben weiter zusammen musizieren wollten). Ich habe es seitdem bei über 100 Konzerten gehört und miterlebt, wie es immer besser und auch professioneller wurde. Ein Höhepunkt dabei war die sogenannte "Beethoven Journey", bei der alle 5 Beethoven-Klavierkonzerte und auch die Chorfantasie zusammen mit Leif Ove Andsnes (Klavier und Leitung) in vielen europäischen und überseeischen Städten aufgeführt wurden. Alle Musiker sind mit einer ungeheuren Begeisterung bei der Sache und scheuen nicht die Nachteile eines internationalen Tournee-Orchesters, das keinen festen Sitz hat und immer unterwegs ist. Desto schwieriger ist die derzeitige Situation, wo seit dem Ausbruch der Pandemie vor einem Jahr wohl mehr als 90% der Auftritte ins Wasser gefallen sind.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Meine Aufnahmen von den IMF Luzern bzw. vom Lucerne Festival sind folgende:

    Mozart, Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur, KV 467
    Dinu Lipatti, Schweizer Festspielorchester, Herbert von Karajan (Aufnahme vom 23.8.1950)
    Dies ist eine wahre Perle in meiner Vinyl-Sammlung (noch als 10" gepresst !!)


    Mozart, Klavierkonzert Nr. 20 d-moll, KV 466
    Clara Haskil, Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer (Aufnahme vom 8.9. 1959)

    Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur, op. 73
    Robert Casadesus, Wiener Philharmoniker, Dimitri Mitropoulos (Aufnahme vom 1.9.1957)


    Dvorák, Cellokonzert op. 104
    Pierre Fournier, Schweizer Festspielorchester, István Kertész (Aufnahme vom 16.8.1967)

    Saint-Saëns, Cellokonzert Nr. 1
    Pierre Fournier, Orchestre Philharmonique de la RTF Paris, Jean Martinon (Aufnahme vom 10.9.1962)

    Pablo Casals, "El cant dels ocells"
    Pierre Fournier, Festival Strings Lucerne, Matthias Bamert (Aufnahme vom 4.9.1976)


    Schubert, Sinfonie Nr. 7 h-moll
    Wiener Philharmoniker, Claudio Abbado (Aufnahme vom 5.9.1978)

    Beethoven, Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 36
    Richard Wagner, "Siegfried-Idyll"
    Chamber Orchestra of Europe, Claudio Abbado (Aufnahme vom 25.8.1988)


    [ohne Bild]
    Eröffnungskonzert im neuen KKL Luzern, Aufnahme vom 19.8.1998
    (limitierte nicht käufliche Sonderedition)
    Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-moll, op. 125
    Soile Isokoski, Birgit Remmert, Reiner Goldberg, Bryn Tefel
    Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado


    darin enthalten:
    Debussy: Auszüge aus "Jeux"
    Boulez: Notations & Auszüge aus Répons
    Lucerne Festival Academy Orchestra, Pierre Boulez (Aufnahmen 2009)


    darin enthalten:
    Mozart: Konzertarien KV 369, 579 und 583
    Rossini, Ouvertüre zu "La scala di seta"
    Fauré: Pelléas et Mélisande, op. 80
    Ligeti: Concert Romànesc
    Ligeti: Mysteries of the Macabre

    Mahler Chamber Orchestra, Barbara Hannigan (Sopran und Leitung), (Aufnahme vom 16.8.2014)
    und zusätzlich eine umwerfende Hannigan-Performance im kleinen Schwarzen bei Mysteries of the Macabre


    Bruckner, Sinfonie Nr. 1 (Wiener Fassung)
    Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Aufnahme 17./18.8.2012)


    Bruckner, Sinfonie Nr. 4
    Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Aufnahme vom Gastspiel in Tokyo, 18./19.10.2006)


    Prokofiev, Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur, op. 26
    Mahler, Sinfonie Nr. 1
    Yuja Wang, Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Aufnahme 11.-15.8.2009)


    Bruckner: Sinfonie Nr. 9
    Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Aufnahme 23.-26.8.2013)

    Das war der letzte öffentliche Auftritt Abbados. Ich war in der ersten Aufführung vom 23.8., wo man schon sah, dass es ihm unwahrscheinlich schwer fiel. Eine Geigerin des MCO sagte mir später, dass viele bei der letzten Aufführung am 26.8. befürchteten, er würde es nicht durchstehen und während der Aufführung zusammenbrechen.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Ja, ich habe auch einige in der Sammlung, eigentlich ohne es genau zu wissen.
    Das Konzert mit Haskil/Klemp habe ich schon ewig, das es nun neu aufgelegt wurde und endlich so sauber klingt, als wäre es neu abgeputzt, ist wunderbar.
    Es war übrigens der erste(?) Auftritt Klemperers nach seinem Brandunfall.
    Doch es gibt noch andere Schätze.
    Fleisher und Annie Fischer

    oder ein Szell Konzert:

    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!