Einstürzende Neubauten - Keine Schönheit ohne Gefahr
Einstürzende Neubauten - Keine Schönheit ohne Gefahr
Anarchistisch, unangepasst, nihilistisch, archaisch, fiebrig, laut - oder: Hören mit Schmerzen. Dabei war Zerstörung nie ein Neubauten-Motto. Blixa Bargeld sagt 1986 in einem Interview: „Der destruktive Charakter ist heiter und freundlich, er kennt nur eine Devise: Platz schaffen.“ (Quelle: Interview Blixa Bargeld, 1986)
Damit bezieht er sich auf den Essay „Der destruktive Charakter“ (1931) des Walter Benjamin:
Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß. Der destruktive Charakter ist jung und heiter.
Am 01. April 1980 sind die Einstürzenden Neubauten als Zufallsprodukt entstanden. Blixa Bargeld wurde gefragt, ob er nicht im Westberliner Moon-Club spielen wolle. Worauf er nach eigener Aussage „einfach ein paar Freunde anrief“. (Quelle: Sonic Seducer, Chronik Einstürzende Neubauten, 2017).
Dieses Konzert und erste Aufnahmen der EN wurden noch mit „normalem“ Instrumentarium gespielt. Finanzielle Not brachte Andrew Unruh dazu, sein Schlagzeug verkaufen zu müssen, woraufhin die Band zumeist ein Instrumentarium aus Schrott und Alltagsgegenständen benutzte. Learning by doing - das seinerzeit noch unfreiwillige Motto der „Genialen Dilletanten" (damals absichtlich falsch geschrieben) entwickelte sich zur Experimentierfreude mit den verschiedensten Klangmaterialien und steht für eine völlig neue Art von Musikverständnis und Soundästhetik.
Schon damals versteht die Band ihren kathartischen „Anti-Pop“ als lärmige Gegenreaktion auf den Kalten Krieg und die reale Bedrohung durch den 3. Weltkrieg. In dieser aufgeheizten Endzeitstimmung, die besonders in Westberlin spürbar war, wurden die Neubauten zu einer der aufregendsten Bands.
Sie wollten den Untergang tanzen. Ihr erstes Album nennen sie „Kollaps“ (1981): Es bleibt nicht viel Zeit bis zum Kollaps, sie schreien lauter, leben schneller, sind radikal wie ein Faustschlag. Zu den Grenzüberschreitungen der Anfangsjahre zählte auch exzessiver Konsum von Amphetaminen. „Yü-Gung (Fütter Mein Ego)“, einer der bekanntesten Songs der Band, beschreibt die Auswirkungen von Amphetamin-Sucht und Schlaflosigkeit. Bargeld sang die Songs weniger, als dass er sie zelebrierte - er konnte schnarren, flüstern und fauchen. Vor allem sein markerschütternder Schrei wurde zu seinem Markenzeichen.
Ich kam über die Beschäftigung mit Nick Cave auf die Neubauten. Bargeld gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bad Seeds und spielte von 1984 bis 2003 als Gitarrist in der Band. Cave sah Bargeld zum ersten Mal bei einem Auftritt mit den Neubauten im TV, während die Birthday Party, Caves damalige Band, in Amsterdam auf Tournee war. Er beschreibt die Musik als "mournful", Bargeld als "destroyed" aussehend und seine Schreie als "a sound you would expect to hear from strangled cats or dying children“. Und er sagt am Ende: „It was one of those defining moments for me of things that you see that just change the way you are.“. - Mir ging es genauso.
Ein frühes Meisterwerk ist zweifelsohne „Armenia“ vom Album „Zeichnungen des Patienten O.T.“ aus 1983: Ein quälend-dumpfer Synthesizer, monotone Geigen, Metallgeräusche und ein abwechselnd wispernder und schmerzerfüllt schreiender Bargeld. Der Song hat weder Rhythmus noch Melodie, er ist pure und intensive Emotion.
Ich habe mir das Video des japanischen Regisseurs Sogo Ishii wohl zig-mal in Folge angeschaut, so fasziniert und bis ins Innerste berührt war ich sofort. Dieses Video war meine Einstiegsdroge. Danach kam, was kommen musste: Ich habe mir nach und nach die CDs der Neubauten angeschafft.
Die Diskographie der EN umfasst diese Studioalben, die ich gerne nach und nach besprechen würde:
- Kollaps (1981)
- Zeichnungen des Patienten O.T. (1983)
- 1/2 Mensch (1985)
- Fünf auf der nach oben offenen Richterskala (1987)
- Haus der Lüge (1989)
- Tabula Rasa (1993)
- Ende Neu (1996)
- Silence Is Sexy (2000)
- Perpetuum Mobile (2004)
- Alles wieder offen (2007)
- The Jewels (2008)
- Alles in Allem (2020)
Lament (2014) - würde ich nicht zu den offiziellen EN-Alben zählen, da es Auftragsarbeit für eine Performance war.
Daneben gibt es noch die Supporter- und Musterhaus-Alben, diverse Compilations, Live-Mitschnitte etc.
Die ersten Stücke der Neubauten entstanden in verlassenen Fabrikhallen und im Hohlraum einer Autobahnbrücke. Seitdem hat sich die Band verändert, ist gemäßigter geworden. Aber auch nach 40 Jahren sind Kreativität und zuweilen Radikalität im künstlerischen Schaffen noch spürbar. Und sie sind sich treu geblieben, dies hier gilt immer noch: