Einstürzende Neubauten - Keine Schönheit ohne Gefahr

  • Einstürzende Neubauten - Keine Schönheit ohne Gefahr

    Einstürzende Neubauten - Keine Schönheit ohne Gefahr

    Anarchistisch, unangepasst, nihilistisch, archaisch, fiebrig, laut - oder: Hören mit Schmerzen. Dabei war Zerstörung nie ein Neubauten-Motto. Blixa Bargeld sagt 1986 in einem Interview: „Der destruktive Charakter ist heiter und freundlich, er kennt nur eine Devise: Platz schaffen.“ (Quelle: Interview Blixa Bargeld, 1986)

    Damit bezieht er sich auf den Essay „Der destruktive Charakter“ (1931) des Walter Benjamin:

    Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß. Der destruktive Charakter ist jung und heiter.

    Am 01. April 1980 sind die Einstürzenden Neubauten als Zufallsprodukt entstanden. Blixa Bargeld wurde gefragt, ob er nicht im Westberliner Moon-Club spielen wolle. Worauf er nach eigener Aussage „einfach ein paar Freunde anrief“. (Quelle: Sonic Seducer, Chronik Einstürzende Neubauten, 2017).

    Dieses Konzert und erste Aufnahmen der EN wurden noch mit „normalem“ Instrumentarium gespielt. Finanzielle Not brachte Andrew Unruh dazu, sein Schlagzeug verkaufen zu müssen, woraufhin die Band zumeist ein Instrumentarium aus Schrott und Alltagsgegenständen benutzte. Learning by doing - das seinerzeit noch unfreiwillige Motto der „Genialen Dilletanten" (damals absichtlich falsch geschrieben) entwickelte sich zur Experimentierfreude mit den verschiedensten Klangmaterialien und steht für eine völlig neue Art von Musikverständnis und Soundästhetik.

    Schon damals versteht die Band ihren kathartischen „Anti-Pop“ als lärmige Gegenreaktion auf den Kalten Krieg und die reale Bedrohung durch den 3. Weltkrieg. In dieser aufgeheizten Endzeitstimmung, die besonders in Westberlin spürbar war, wurden die Neubauten zu einer der aufregendsten Bands.

    Sie wollten den Untergang tanzen. Ihr erstes Album nennen sie „Kollaps“ (1981): Es bleibt nicht viel Zeit bis zum Kollaps, sie schreien lauter, leben schneller, sind radikal wie ein Faustschlag. Zu den Grenzüberschreitungen der Anfangsjahre zählte auch exzessiver Konsum von Amphetaminen. „Yü-Gung (Fütter Mein Ego)“, einer der bekanntesten Songs der Band, beschreibt die Auswirkungen von Amphetamin-Sucht und Schlaflosigkeit. Bargeld sang die Songs weniger, als dass er sie zelebrierte - er konnte schnarren, flüstern und fauchen. Vor allem sein markerschütternder Schrei wurde zu seinem Markenzeichen.

    Ich kam über die Beschäftigung mit Nick Cave auf die Neubauten. Bargeld gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bad Seeds und spielte von 1984 bis 2003 als Gitarrist in der Band. Cave sah Bargeld zum ersten Mal bei einem Auftritt mit den Neubauten im TV, während die Birthday Party, Caves damalige Band, in Amsterdam auf Tournee war. Er beschreibt die Musik als "mournful", Bargeld als "destroyed" aussehend und seine Schreie als "a sound you would expect to hear from strangled cats or dying children“. Und er sagt am Ende: „It was one of those defining moments for me of things that you see that just change the way you are.“. - Mir ging es genauso.

    Nick Cave on Blixa Bargeld

    Ein frühes Meisterwerk ist zweifelsohne „Armenia“ vom Album „Zeichnungen des Patienten O.T.“ aus 1983: Ein quälend-dumpfer Synthesizer, monotone Geigen, Metallgeräusche und ein abwechselnd wispernder und schmerzerfüllt schreiender Bargeld. Der Song hat weder Rhythmus noch Melodie, er ist pure und intensive Emotion.

    Armenia

    Ich habe mir das Video des japanischen Regisseurs Sogo Ishii wohl zig-mal in Folge angeschaut, so fasziniert und bis ins Innerste berührt war ich sofort. Dieses Video war meine Einstiegsdroge. Danach kam, was kommen musste: Ich habe mir nach und nach die CDs der Neubauten angeschafft.

    Die Diskographie der EN umfasst diese Studioalben, die ich gerne nach und nach besprechen würde:

    • Kollaps (1981)
    • Zeichnungen des Patienten O.T. (1983)
    • 1/2 Mensch (1985)
    • Fünf auf der nach oben offenen Richterskala (1987)
    • Haus der Lüge (1989)
    • Tabula Rasa (1993)
    • Ende Neu (1996)
    • Silence Is Sexy (2000)
    • Perpetuum Mobile (2004)
    • Alles wieder offen (2007)
    • The Jewels (2008)
    • Alles in Allem (2020)

    Lament (2014) - würde ich nicht zu den offiziellen EN-Alben zählen, da es Auftragsarbeit für eine Performance war.

    Daneben gibt es noch die Supporter- und Musterhaus-Alben, diverse Compilations, Live-Mitschnitte etc.

    Die ersten Stücke der Neubauten entstanden in verlassenen Fabrikhallen und im Hohlraum einer Autobahnbrücke. Seitdem hat sich die Band verändert, ist gemäßigter geworden. Aber auch nach 40 Jahren sind Kreativität und zuweilen Radikalität im künstlerischen Schaffen noch spürbar. Und sie sind sich treu geblieben, dies hier gilt immer noch:

    Meint ihr nicht...

  • „Kollaps“ (1981) - hier ist der Name Programm. Auf dem ersten Studioalbum der Einstürzenden Neubauten geht es um Zerfall, Zerstörung und Tod. Die Besetzung der Neubauten veränderte sich immer mal wieder, 1981 bestand sie aus Blixa Bargeld, N. U. Unruh und FM Einheit.

    Trackliste und Texte hier auf der Homepage der Neubauten.

    Das ganze Album klingt beklemmend und düster. Und sehr experimentell. Blixa Bargeld beschreibt in der Neubauten-Chronik von Sonic-Seducer (2017), unter welch rudimentären Bedingungen die Aufnahmen entstanden: Die Band hatte das Studio für 10 Tage à 500 DM gemietet. Der Besitzer erklärte ihnen kurz das Mischpult und verschwand danach.

    Das erklärt, warum das Album so komplett anders klingt. Es wurden Sachen gemacht, die man normalerweise nicht unbedingt tun würde: Zum Beispiel nahm die Band zusätzlich abstruse Dub-Versionen auf, die so seltsame Titel wie „Sado-Masodub“ oder „Mikrobendub“ haben und entsprechend klingen. Diese Dub-Versionen waren ursprünglich nur auf einer separaten MC (Musikkassette = Speichermedium des Grauens :evil: ) erhältlich, bei der Wiederveröffentlichung des Albums in 2002 wurden die Stahldubversionen auf CD mit berücksichtigt.

    Und das Album klingt auch wegen des verwendeten Instrumentariums komplett ungewohnt: Gitarre, Spielzeuggitarre, Kinderorgel, eine Menge Metallzeug. Betrachtet man Fotos von Blixa Bargeld aus der Zeit, ergibt alles ein komplettes Bild und Sinn.

    Aber auch auf diesem ersten Studioalbum gibt es schon großartige Titel. Man spürt, wie hier der Grundstein zu einer völlig anderen Form der Musik (Musik, ohne Musik zu machen) gelegt wurde, die nebenbei bemerkt Bands wie Depeche Mode beeinflussen sollte. Es gibt auf „Kollaps“ die Urversion des später noch einmal aufgenommenen „Sehnsucht“ zu hören. „Tanz debil“ und der Song „Kollaps“ sind auch heute noch absolut faszinierend in ihrer Eindringlichkeit. „Draußen ist feindlich“ wurde leider sehr aktuell.

    Ein Faustschlag das ganze Album: Noch kein Industrial, aber auch kein Punk. Irgendwie eine eigene Gattung.

  • Ich kannte die Band höchstens vom Namen her, und auch heute kenne ich eigentlich keine Musik von ihnen. Möchte aber eine kleine persönliche Anekdote nennen.

    Im vorletzten Jahr habe ich ein paar Monate zur Untermiete bei jemandem gewohnt, der in seiner Stadtwohnung ein professionelles, eingebautes Tonstudio besitzt. Er war gerade in einem Projekt mit den Einstürzenden Neubauten. So habe ich Blixa denn auch persönlich kennengelernt bei seinen Besuchen in der Wohnung. Die beiden haben sich dann ins Tonstudio verzogen. Das ist so gut isoliert, dass ich nicht einmal gehört habe, dass sie überhaupt Musik gemacht haben. (Aber haben sie wohl.) Mein Vermieter komponierte auch dazu, spielte die Musik auf seinem Laptop und hatte Aufnahmetermine mit mehreren Musikern (Instrumentalisten, Gesang/Chor (?)) in einem größeren Tonstudio. Also gut möglich, dass davon was auf der neuesten Platte (2020) der Neubauten gelandet ist.


    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Neulich hatte ich ja ein paar Bestenlisten genannt, weil ich mir weitere deutschsprachige Musik zulegen wollte. Die Wahl fiel übrigens auf Fehlfarben, Element of Crime und Kraftwerk. In den genannten Listen sind die Einstürzende Neubauten drei mal vertreten:

    Kollaps (1981)
    1/2 Mensch (1985)
    Haus der Lüge (1989)

    Hab jetzt mal ein bisschen reingehört. Ist doch etwas hart. Klar, man braucht alles. Nach Debussy kommt Haftbefehl, dann Haydn, dann Coltrane. Mit den Neubauten tu ich mir im Moment etwas schwer...

    Der Thread ist aber interessant, hoffentlich schaffst du es bis zum Ende.

    Bei der Gelegenheit:
    Wir reden ja vorerst über Berlin, 80er Jahre. GIbt es dazu auch eine Tatort-Reihe, die thematisch dazu passt? Im Moment sehe ich die Folgen mit "Hans Georg Bülow" (1985-1989, Heinz Drache), aber das scheint in einer komplett anderen Welt zu spielen...


  • So habe ich Blixa denn auch persönlich kennengelernt bei seinen Besuchen in der Wohnung. Die beiden haben sich dann ins Tonstudio verzogen. Das ist so gut isoliert, dass ich nicht einmal gehört habe, dass sie überhaupt Musik gemacht haben.

    Ja, ich wäre Blixa Bargeld auch gerne einmal begegnet. Aber es besteht ja immer noch die Möglichkeit, die Neubauten einmal live zu erleben.

    Überhaupt wüsste ich gerne, ob jemand mal bei einem der Konzerte dabei gewesen ist. Berichte und Eindrücke darüber interessieren mich sehr. In frühen Zeiten sind ja manche Konzerte regelrecht eskaliert.

    Im Januar 2017 waren die Einstürzenden Neubauten übrigens als erstes Nicht-Klassik-Konzert in dem Neubau Elbphilharmonie zu hören. Irgendwie eine witzige Sache. Ich habe mir das Konzert auf YT angehört, wäre aber extrem gerne dabei gewesen. Die laufenden Konzerte wurden auf 2022 verschoben. Es könnte also noch irgendwann klappen.

  • (...) In den genannten Listen sind die Einstürzende Neubauten drei mal vertreten:

    Kollaps (1981)
    1/2 Mensch (1985)
    Haus der Lüge (1989)

    Hab jetzt mal ein bisschen reingehört. Ist doch etwas hart. (...)

    Die drei genannten Alben hätte ich auch in die Liste aufgenommen.

    Ja, die Musik ist erst einmal ungewöhnlich und erscheint fordernd, zuweilen verstörend. Aber ich war so schnell fasziniert davon und habe mich gleich so intensiv damit beschäftigt, dass mir jetzt andere, „normalere“ Sachen langweilig erscheinen. Ein wirklich interessanter Effekt.

    Ich empfinde die Neubauten-Musik inzwischen als herausfordernd, auch als unglaublich schön und vielschichtig, an vielen Stellen auch als tief- und feinsinng. Ich liebe auch Bargelds Stimme, sowohl auf den frühen als auch auf den späten Alben. Da hat sich an meinen Hörgewohnheiten etwas radikal verändert.

    Bargeld arbeitet in seinen Texten viel mit metaphorischen Inhalten, Bildern, Anspielungen - wahrt dabei immer eine gewisse Distanz, die er eigentlich erst im letzten Album etwas aufgegeben hat. Im Grunde hat diese Textbehandlung etwas Altmodisches und Berührendes, sie lässt natürlich auch viel Raum für Interpretationen.

    Aber das sind nur meine eigenen Eindrücke. Hier kann man Blixa Bargeld in einem interessanten Gespräch mit Roger Willemsen hören, er beschreibt darin u.A. seine Arbeit mit Metaphern:

    Roger Willemsen trifft Blixa Bargeld (11.10.1993)

    Ganz zu Anfang spricht Bargeld über das legendäre Konzert der EN im Goldenen Saal, Zeppelintribüne in Nürnberg, am 22.2.1986. Die Neubauten sind die einzige Band, die in dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ein Konzert gegeben haben.

  • Vor vielen Jahren war ich in der Westschweiz (Fribourg) auf einem Konzert. Auch unter den Frankophonen scheint es viele Fans zu geben. Sie nennen die Band einfach nur Einstüürz.

  • Im Januar 2017 waren die Einstürzenden Neubauten übrigens als erstes Nicht-Klassik-Konzert in dem Neubau Elbphilharmonie zu hören. Irgendwie eine witzige Sache.

    Übrigens sagte mir mein ehemaliger Vermieter, dass er in der Elphi als Cellist dabei war. Hast Du einen Link?


    maticus

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    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Danke für den Link. Ja, ich sehe ihn, er wird sogar namentlich vorgestellt. Bei "How Did I Die?". (Ich habe jetzt nur durchgezappt. Finde es aber insgesamt nicht schlecht.)


    maticus

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    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
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  • 2017 ging es in der Elbphilharmonie recht gesittet zu - jedoch wieder zurück zu den Anfängen.

    1983 ließ Nena ihre „99 Luftballons“ steigen, die Neubauten zog es derweil tief hinab in düsterste Abgründe der menschlichen Seele. Auf den noch etwas chaotischen, aggressiven Lärm des Debuts „Kollaps“ folgten die „Zeichnungen des Patienten O.T.“

    „O.T“ bezieht sich auf Oswald Tschirtner, der bis 2007 in einer Nervenklinik untergebracht war. Dort traf er auf den österreichischen Psychiater Leo Navratil, der über künstlerische Ausdrucksformen von Menschen mit Psychiatriehintergrund forschte (Stichwort: Art Brut oder Outsider Art). Angesichts seiner Wurzeln ist es klar, dass diese Kunstform oft Anlass für Diskussionen gab und kontrovers betrachtet wird. Wie dem auch sei: Einige der entstandenen Zeichnungen des O.T. kann man sich im Internet anschauen. Sie sind wirklich sehr speziell und strahlen eine beunruhigende Stimmung aus.

    Bargeld erzählt in der Neubauten-Chronik (Sonic Seducer), dass er ein Buch zu dem Thema bekam, er griff die Inspiration auf. Die Besetzung bestand zu der Zeit aus: Blixa Bargeld, Mark Chung, FM Einheit, N.U. Unruh und Alexander Hacke, der als 16-Jähriger hier erstmals auf Platte zu hören ist.

    Aufgenommen wurde zunächst in zwei verschiedenen Studios, in Berlin und Hamburg. Blixa Bargeld über diese Zeit: „Wir waren nicht in der Lage, weder das eine noch das andere Studio zu bezahlen und sind dann immer irgendwann verschwunden.“ (Quelle: Blixa Bargeld in Sonic Seducer, Chronik Einstürzende Neubauten, S. 20). Durch glückliche Umstände konnte das Album schließlich beim Label Some Bizzare Records in London veröffentlicht werden.

    Auf diesem zweiten Album ist die Musik strukturierter, zuweilen auch rhythmischer, der Lärm klingt gebändigter oder besser gesagt pointierter. Es ist immer noch laut, aber es erscheint in sich schlüssiger und ist durchgängig originell „instrumentiert“.

    Das schier Unglaubliche an diesem Album ist für mich aber die Atmosphäre, die es erzeugt. Ich habe längere Zeit nur Ausschnitte daraus hören können, direkt einen Bogen darum gemacht und es als letztes Album erst komplett anhören können. Das Ding ist der Wahnsinn, ein in Musik gefasster Albtraum, Fieberwahn oder schiere Verzweiflung! So expressiv singt Blixa Bargeld sonst selten, hier klingt er, als würde er nicht nur am Rand der Welt warten, sondern als wäre er bereits in den Vorhof der Hölle eingetreten oder mitten drin in der Apokalypse.

    „Hospitalische Kinder/Engel der Vernichtung“ scheint direkt an meinen Urängsten zu rütteln, so als würden sich Pforten in Bereiche öffnen, die man besser verschlossen hält. Das Fingerknacken und Zähneknirschen auf „Finger und Zähne“ dauert gottlob nur 9 Sekunden an, länger wäre es nicht auszuhalten „Armenia“ ist das Highlight für mich, ich schrieb oben schon darüber: Es ist voller Verzweiflung und Schönheit!

    Das ganze Album ist verstörend, aufwühlend und beängstigend und erzeugt eine morbide Stimmung, die man nicht immer ertragen kann. Wenn die eigene Grundstimmung jedoch passt, dann hat es etwas Befreiendes und ich möchte fast sagen: es hat eine kathartische Wirkung.

    Großartig finde ich u.A. den Titeltrack „Die Zeichnungen des Patienten O.T“, hier in einer Live-Version vom 21.11.1990 (den Konzertmitschnitt aus dem Rockpalast kann man auch auf CD/DVD kaufen, er ist fantastisch):

    Einstürzende Neubauten - Zeichnungen Des Patienten O.T., live

    Mehr Intensität und Dynamik gehen nicht, mich fegt das jedesmal wieder um. Das muss man laut hören und sich einfach ergeben. Der Text ist symbolbeladen, kryptisch und fragmentarisch - überhaupt sind die Texte der Neubauten ein ganz eigenes Kapitel.

    Meiner Meinung nach ist das Album extrem herausfordernd, aber ein zeitloses Meisterwerk. „Das Konzept war, alles abzufordern, was mit Klängen machbar ist; nicht auf Metall beschränkt. Als Ergebnis sind wir als Band in einer Myriade von Möglichkeiten explodiert. Das macht „Zeichnungen des Patienten O.T.“ in meinen Augen zu einem großen Album.“ (Quelle: Blixa Bargeld in Sonic Seducer, Chronik Einstürzende Neubauten, S. 23).

  • Hallo Cosima,
    Ich habe die Neubauten um 2005/2006 im Konzert erlebt. 2004 hatte ich mir "Perpetuum Mobile" gekauft und die Musik daraus bildete das wesentliche Material im Konzert. Die Halle war ausverkauft und es war absolut grandios, vor allem auch die Klangwelten der verschiedenen Instrumente dabei vor Augen geführt zu bekommen.
    Gruß, Frank

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Zitat von Cosima

    Überhaupt wüsste ich gerne, ob jemand mal bei einem der Konzerte dabei gewesen ist.


    War mal in Oberhausen (Blue Moon) bei einem Neubauten-Konzert, irgendwann Ende der 1980er - jedenfalls bevor Haus der Lüge erschien, jedenfalls kannte ich zB "Feurio" noch nicht, was sie bei dem Konzert spielten (und ich kannte derzeit das meiste von EN). Es war laut und sehr verstörend. Alex Hacke etwa hat mit einer el. Bohrmaschine den Tonabnehmer seiner Gitarre aufgebohrt. Das Geräusch bekomme ich bis heute nicht aus dem Kopf. Das Stahlschlagzeug der Einheit war unzumutbar brutal. Eigentlich war dieses ganze Konzert eine einzige Zumutung, weil es den Anwesenden keine Chance lies, sich überhaupt auf welche Weise auch immer zu entziehen. Irgendwie totalitär. Aber geil. Sicher eines der bleibendsten Konzerterlebnisse, die ich hatte. Danach habe ich dann noch die nächste Lp gekauft (eben Haus der Lüge) und die Neubauten dann sukzessive aus meinem musikalischen Kosmos ausgeschlossen. Warum auch immer.

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Angeregt von Cosimas tollem Beitrag habe ich gerade nach langer Zeit mal wieder diese gehört:

    Zeichnungen des Patienten O.T.... (1988)

    War lange mein zweitliebstes (hm, soweit das geht...) Neubauten-Album nach „Halber Mensch“ (und bevor „Haus der Lüge“ erschien). Geht einen immer noch ziemlich an, finde ich - texlich, aber mehr noch geräuschlich/klanglich. Man merkt heute aber i-wie doch, dass es sehr „West-Berlin vor der ‚Wende‘“ ist, oder? „Hospitalische Kinder/Engel der Vernichtung“ empfand ich heute einigermaßen abstoßend. Mein Lieblingsvers auf der ganzen Platte ist übrigens: „Auch Lakaien haben Taktgefühl“. :megalol:

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Hallo Cosima,
    Ich habe die Neubauten um 2005/2006 im Konzert erlebt. 2004 hatte ich mir "Perpetuum Mobile" gekauft und die Musik daraus bildete das wesentliche Material im Konzert. Die Halle war ausverkauft und es war absolut grandios, vor allem auch die Klangwelten der verschiedenen Instrumente dabei vor Augen geführt zu bekommen.
    Gruß, Frank

    Hi Frank,

    ich hoffe, Du hast die CD noch und hältst sie in Ehren. Es ist das einzige der Studio-Alben, das mir noch fehlt, weil es derzeit out-of-print ist und gebraucht nur noch teuer zu bekommen ist. Also bewahre Deinen Schatz gut auf. :)

    Gruß, Cosima

  • War mal in Oberhausen (Blue Moon) bei einem Neubauten-Konzert, irgendwann Ende der 1980er - jedenfalls bevor Haus der Lüge erschien, jedenfalls kannte ich zB "Feurio" noch nicht, was sie bei dem Konzert spielten (und ich kannte derzeit das meiste von EN). Es war laut und sehr verstörend. Alex Hacke etwa hat mit einer el. Bohrmaschine den Tonabnehmer seiner Gitarre aufgebohrt. Das Geräusch bekomme ich bis heute nicht aus dem Kopf. (...)

    Hi Algabal,

    danke für Deine interessanten Eindrücke. Wie gerne ich das erlebt hätte! Ich habe inzwischen einige Berichte über Neubauten-Konzerte gelesen, die eskaliert sind, weil die Bühne in Flammen aufging oder Metall durch die Gegend flog. Das ging richtig zur Sache seinerzeit, aber wie Du schreibst: Es bleibt in der Erinnerung, weil es außergewöhnlich war und etwas in einem auslöste. Das ist toll! :verbeugung1:

    Gruß, Cosima

  • (...) Mein Lieblingsvers auf der ganzen Platte ist übrigens: „Auch Lakaien haben Taktgefühl“. :megalol:

    Ja, die Textzeile ist klasse. :D Überhaupt hat Bargeld einen tollen Humor und es gibt es so viele großartige und schöne Texte (oft eher Fragmente) von ihm. Beizeiten kommen wir darauf zurück. Diese hier aus dem „Patienten O.T.“ gefällt mir auch; vor allem, wenn man sie hört in der Intensität, wie er sie singt/schreit:

    Ich warte am Rand der Welt auf die neue Sonne,
    Die mehr brennt, als dass sie leuchtet“

    (Kompletter Text)

  • (...)
    Eigentlich war dieses ganze Konzert eine einzige Zumutung, weil es den Anwesenden keine Chance lies, sich überhaupt auf welche Weise auch immer zu entziehen. Irgendwie totalitär. Aber geil.
    (...)

    Hier mal ein ganz kurzer Eindruck eines frühen Live-Konzertes der Neubauten. Herrlich auch die etwas ratlosen Minen der Leute :D :

    Einstürzende Neubauten - Live in Oslo 1983: https://www.youtube.com/watch?v=5VsIW3M5p1o&t=56s

    Das ist schon sehr brachial, sieht eher nach Arbeiten auf ner Baustelle oder in der Schwerindustrie aus. :thumbup:
    Erstaunlich finde ich aber, dass Bargelds Texte immer irgendwie im Kontrast zu den erzeugten Geräuschen und Klängen standen. Sie waren nie vulgär oder obszön, im Gegenteil...

  • Hier mal ein ganz kurzer Eindruck eines frühen Live-Konzertes der Neubauten. Herrlich auch die etwas ratlosen Minen der Leute :D :
    Einstürzende Neubauten - Live in Oslo 1983: https://www.youtube.com/watch?v=5VsIW3M5p1o&t=56s

    Das ist schon sehr brachial, sieht eher nach Arbeiten auf ner Baustelle oder in der Schwerindustrie aus. :thumbup:
    Erstaunlich finde ich aber, dass Bargelds Texte immer irgendwie im Kontrast zu den erzeugten Geräuschen und Klängen standen. Sie waren nie vulgär oder obszön, im Gegenteil...

    Oh ja, die Flex hatten sie in Oberhausen auch dabei. Und ich erinnere mich an einen ziemlich derangierten Einkaufswagen mit Metall-/Blechgerümpel drin. An den waren irgendwelche Tonabnehmer montiert und das Ding wurde auf der Bühne rumgeschoben, hin- und hergeknallt oder dagegengetreten. War ziemlicher Krach.

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

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