DOLPHY, ERIC : Eine One-Man-Avantgarde des modernen Jazz

  • Seinen "Ton" auf dem Sax finde auch ich nicht besonders eigenständig. Und ich habe mich gefragt, woran das liegen mag. Vielleicht am Instrument, also dem Alt-Sax, das ggf. weniger einen sehr individuellen "Ton" zulässt als das Tenorsax?

    Das würde ich so nicht unterschreiben. Wenn man etwa die drei traditionellen Altisten dazu zieht, wird man große Unterschiede bei Johnny Hodges, Willie Smith und Benny Carter feststellen können. Dazwischen liegen Hilton Jefferson, Charlie Holmes und etwa Russell Procope. Earle Warren und Marshall Royal verbanden Hodges und Carter, Warren mit viel Kansas City-Dampf dazu.

    Im modernen Jazz gab es vor allem die Parker-Linie und die Konitz-Linie. In der Mitte war etwa Herb Geller gewesen. Art Pepper schwankte immer ein wenig, Charlie Kennedy war mehr Bopper gewesen (er spielte auch immer mal wieder Tenorsax dazwischen). Preston Love war mehr aus der Kansas-City-Linie zuzuordnen.

    Dolphy hat den harten Ton von Charlie Parker, das kann ich klar hören. Hier war z.B. Sonny Stitt geschmeidiger gewesen. Bei Dolphy kommt auch noch eine Brise Rhythm&Blues dazu. Etwa Louis Jordan und Earl Bostic. Natürlich moderner als diese beiden Kollegen, aber man hört bei Dolphy diese Tradition noch an. Bei Coltrane war das später doch weg gewesen, bei Sonny Rollins immer vorhanden.

    Übrigens empfinde ich das bei Ornette Coleman auch so.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Findest Du sein "Spiel" oder seinen "Ton" nicht so eigenständig wie den von Coltrane oder Sanders (oder Ayler)?

    Zunächst mal meine ich wohl in der Tat seinen Ton. Dass das an Alt vs. Tenor liegt, glaube ich aber nicht. Aber da steht ja noch sehr viel zu Hörendes aus!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Hm, war ja nur so ein Gedanke. Jedenfalls fällt mir kein Altsaxophonist ein, der einen annähernd individuellen „Ton“ hätte, wie er für viele Tenoristen „typisch“ ist. Oder doch, zwei: Paul Desmond und Ornette Coleman. Die beiden erkennt man ähnlich unmittelbar am „Ton“ wie Sanders. Aber sonst? Selbst die Individualität Parkers erkenne ich eher an seinem „Spiel“ denn an seinem „Ton“. Ist aber sicher vor allem mein Problem resp. das meiner Ohren.

    Dass Dolphys „Ton“ näher an Parker ist als an Hodges, höre ich aber auch so. Also. Vielleicht doch eine Frage des „Tons“?

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Jedenfalls fällt mir kein Altsaxophonist ein, der einen annähernd individuellen „Ton“ hätte, wie er für viele Tenoristen „typisch“ ist. Oder doch, zwei: Paul Desmond und Ornette Coleman.

    Ohne Zweifel Johnny Hodges. Seine Art die Glissandi zu spielen und sein Ton überhaupt sind unverkennbar. Das ist nur nicht Deine Musik, an der Einzigartigkeit von Hodges liegt es nicht. Seine Nachfolger bei Ellington (Willie Smith, Hilton Jefferson, Rick Henderson 1951-1955, Norris Turney (der ihm manchmal recht nahe kam), Harold "Geezil" Minerve und Bill Easley (der auch Klarinette und Tenorsax spielte)) konnten ihn nie wirklich ersetzen.

    Paul Desmond war zwar auch "einzigartig", aber ich habe viele Jahre nach dem Tode Desmonds durch Zufall einen Musiker aus Italien gehört, der ihm unheimlich nahe kam. Er war damals Dirigent eines Profi-Orchesters gewesen und griff bei Jazzstücken hin und wieder zum Altsax. Ich sprach ihn nach dem Konzert auf seine Nähe zu Desmond an. Die Antwort fand ich total stimmig und verblüffend: Er hatte bei Desmond in den USA studiert !!! Das war der Hammer !! Wir sprechen hier von einer Zeit um 1997 herum. Der Mann selbst war damals um die 73 Jahre alt gewesen.

    Ich finde, dass bei den Tenoristen so viele Musiker herumlaufen, die "Coltrane geschädigt" sind, dass es teilweise qualvoll ist, sie sich länger anzuhören. Klar, später kamen Mischungen diverser anderer Tenoristen dazu (und auch Sopranisten), doch dieser Coltrane-Touch ist ja bis beute noch vorhanden. Mal mit einer Brise Rollins, Henderson, Dexter Gordons oder anderen Tenoristen.

    Heute ist es viel schwieriger einen wirklich eigenen Stil zu entwickeln und zu haben. Im Grunde ist bei jedem Instrument alles gesagt worden. Heute gibt es teilweise nur noch die Perfektion es besser zu machen. Dabei bleiben wirklich eigene Stile und Elemente auf der Strecke.

    Ich finde, dass das Thema eigentlich einen eigenen Thread benötigte. Etwa "Ist heute wirklich kein eigener Stil mehr möglich? Diese Frage muss ich mir auch selbst stellen als ausübender Musiker. Übrigens gibt es solche Diskussionen auch in Musikerkreisen immer mal wieder.

    Selbst im "Alten Jazz" sind gewisse Einflüsse anderer Stilrichtungen unüberhörbar. Vielleicht nicht immer so extrem wie im "Modernen Jazz", aber alleine die technischen Fertigkeiten heute sind bei den Musikern (die ja fast alle Musik studiert haben) um ein Vielfaches höher als jenen, die etwa um 1910 oder 1920 herum diese Musik damals populär machten. Was etwa ein Bix Beiderbecke spielte (und der war wirklich ein auch technisch sehr guter Kornettist gewesen), war bereits 30 Jahre später für viele Musiker völlig problemlos "TECHNISCH" spielbar. Heute können viele Trompeter die Soli von Armstrong oder gar Dizzy Gillespie nachspielen ohne sich die Finger zu brechen. Was ihnen oftmals fehlt, steht "zwischen den Zeilen": Das Gefühl für diese Musik, auch das Gefühl, wann man seine Technik einsetzen kann und wann es nur noch Selbstzweck ist. Übrigens eine extrem schwere Angelegenheit, was man entweder eines Tages oder nie lernen wird. Als Zwanzigjähriger hatte ich dazu eine völlig andere Einstellung als heute. Auch das war und ist ein Lerneffekt.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Du hast recht, Maurice, das Thema wäre einen eigenen Thread wert. Das habe ich auch schon gedacht. Machst Du?

    Deshalb hier nur ganz kurz: was Du über das Typische bei Hodges schreibst („seine Art, die Glissandi zu spielen“), würde ich dem „Spiel“ und weniger dem „Ton“ zuordnen. Es gibt aber Leute, die man an einem einzigen einzelnen Ton erkennen kann - an der Anblase, der Tonfarbe, dem spezifischen Timbre. Das ist bei Sanders und Ayler ganz ausgeprägt so. Und auch bei Coleman. Ein Ton genügt und man weiß, wer da bläst (bei Brötzmann ist das auch so). Bei Coltrane finde ich das gar nicht so sehr. Seinen „Ton“ finde ich überhaupt nicht sonderlich besonders oder individuell. Eher seine Art zu spielen (die Skalenkaskaden eben), sein „Spiel“ also. Und so ist es, wenn auch auf andere Art, auch bei Dolphy. In my ears.

    Aber das ist eben wirklich nur ein subjektiver Eindruck, unüberprüft (aber hörerfahrungsgesättigt). Vielleicht brauchen wir einen Thread dazu. Machst Du, Maurice? (Hatte ich das schon gefragt?)

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Wer ist schon auf Anhieb am Ton erkennbar? Hawkins, Webster, Brötzmann, Ayler, mehr erkennte ich nicht (doch, Garbarek :D ) - aber ist das so wichtig, solange die Spielweise mir bringt was ich will, und da werden die geilen Saxophonisten dann Legion.

    Wie immer, Lieblingsalben in Sachen Dolphy. Ich liebe wie gesagt vor allem auch seine Beiträge bei Coltrane und Mingus. Und eines dieser Alben läuft hier :

    Eines der Europa-64-Konzerte,wo und wann genau, darüber schweigt sich das Cover dieser ehemaligen Billigproduktion aus. Aber eine irre Intensität, eine meiner Dolphysternstunden - woran allerdings die ganze Band einen Anteil hat.

    Coltrane und Mingus taten Dolphy gut und er ihnen vielleicht noch mehr. Bei Mingus paßt die ebenso beseelte wie irgendwie abstrakte Spielweise Dolphys in meinen Ohren perfekt zu den etwas verschlungen-komplexen Arrangements des Leaders. Ich schätze, Dolphy muß sich mit Mingus' Ideen sehr wohl gefühlt haben. Er hat ja oft und immer wieder mit ihm gespielt, obgleich dessen Persönlichkeit(sdefizite) für einen sanften, sensiblen Menschen wie Dolphy ein Alptraum gewesen sein müssen. Aber die beiden passen musikalisch dermaßen zusammen...

    Eines meiner Lieblingsjazzalben auch jenseits von Dolphy, die hier.


    :)

    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Du hast recht, Maurice, das Thema wäre einen eigenen Thread wert. Das habe ich auch schon gedacht. Machst Du?

    Nein. Ich mag nicht so recht was eröffnen gerade.


    Deshalb hier nur ganz kurz: was Du über das Typische bei Hodges schreibst („seine Art, die Glissandi zu spielen“), würde ich dem „Spiel“ und weniger dem „Ton“ zuordnen.

    Du kannst Hodges auch sofort am Ton erkennen. Lege mir 20 verschiedene Aufnahmen von Altisten aus der Zeit vor, ich kann Dir Hodges, Carter und Willie Smith sofort sagen, Earle Warren vermutlich auch. Hodges hat einen singenden Ton, voll und rund, dazu ein typisches Vibrato, was bei Balladen durchaus an den Rand der Sentimentalität gehen kann. Auch sehr bluesig angehaucht. Carter hatte einen klaren, leichten Sound, der genau das Gegenteil von Hodges war. Seine Glissandi sind keinen Deut schlechter als jene von Hdoges, aber eben so unverkennbar. Willie Smith war erdiger als Carter, auch war sein Ton dünner als der von Hodges. Smith war auch ein exzellenter Baritonsaxophonist (und Klarinettist) gewesen übrigens.

    Parkers harter Sound war abhängig von seinem gesundheitlichen und seelischen Zustand. "Lover Man" ist im Grunde tontechnisch ein Desaster gewesen, aber vom Feeling und musikalisch-improvisatorischen her nicht zu überbieten. Er war so high gewesen, dass er die Nacht später einen Zusammenbruch hatte und nach Camarillo in die Psychiatrie musste für längere Zeit.

    Parkers harter Stil wurde von keinem Musiker damals erreicht, meiner Meinung nach. Er hatte nur recht wenige wirkliche "Jünger: Sonny Stitt, der - so seine eigene Aussage - Parker erst hörte, als er seinen Stil bereits entwickelt hatte (auf dem Alto. Er spielte bekanntlich auch Tenor und gelegentlich Bartionsax), Art Pepper (der auch von der coolen Ecke beeinflusst wurde) und einige weniger bekannte Altisten. Auch Sonny Criss war ein Schüler von Parker, natürlich dann auch Phil Woods, aber der kam erst einige Jahre später in die Szene rein. Sahib Shihab war zunächst Altist gewesen und ein Parker-Schüler, Jimmy Heath auch, Leo Parker ebenso.

    Es gab auch einige weiße Altisten, die teilweise einen Misch-Masch aus Swing und Bop spielten. Etwa Johnny Bothwell, Harry Terrill und Charles Kennedy. John La Porta sollte 1944-1946 bei Woody Herman kaum zu Soli kommen. Er wurde später in diversen "Workshops" in den 1950-er Jahren bekannt, die im modernen Umfeld um Teo Maceo und Charles Mingus stattfanden.

    Charlie Mariano machte dabei den längsten und größten Wandel durch: blutjung fing er an a la Johnny Hodges zu spielen, dann kam Parkers Bop dazu, bevor er wieder mehr cool spielte (man höre seine Zeit bei Stan Kenton mal genauer an). Später dann Weltjazz, Rockjazz, Free Jazz.....

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Gestern gehört: Outward Bound und Out There.

    Outward Bound:
    Bei der ersten ähnlicher Eindruck wie Algabal: Das ist im Untergrund noch sehr in der Bebop-Tradition verhaftet. Am meisten gilt das für das schematische Spiel der Rhythmusgruppe. Jaki Byard ist in seinen Soli immerhin um Anschluss an Dolphys Ausflüge bemüht. Freddie Hubbard spielt irgendwie in einer anderen Welt als Dolphy, aber er spielt toll, und das gibt einen interessanten Kontrast. Dolphy selbst finde ich auch hier (oben ging es um das späte Album Out to Lunch) am Altsaxophon noch relativ zahm; ungewöhnlich sind allerdings die manchmal extremen Intervallsprünge, und typisch für sein Spiel scheinen mir getrillerte Skalen bis ins höchste Register. Auf der Bassklarinette hingegen geht Dolphy neue Wege (soweit er auf diesem Instrument nicht im Jazz ohnehin ein Pionier ist), vor allem, weil er den gesamten (sehr großen) Tonumfang des Instruments nutzt, ungewöhnlich vor allem die Nutzung des höchsten Registers. Möglicherweise spielt er das auch Instrument mit einem eher Saxophon-typischen Ansatz und dickerem Blatt. Auch die Flöte klingt bei ihm potentiell "fetter", als man das von diesem Instrument gewöhnt ist (fein ziseliert kann er aber auch).

    Out There:
    Der Verzicht auf ein Harmonieinstrument ermöglicht beiden Solisten mehr Freiräume. Ron Carter (der hier lt. Wikipedia auf einer seiner ersten Plattenaufnahmen dabei ist) spielt hier Cello, ein Instrument, für das es Anfang der 60er im Jazz vermutlich keine oder wenig Tradition gibt; man weiß manchmal nicht so recht, wo er hinwill, obwohl ich das sehr interessant finde. Die problematische Intonation ist eigentlich nur bei den gemeinsamen Solopassagen zu hören, im thematischen Material (wo das Cello mit Sax und Bcl übrigens perfekt verschmilzt) überhaupt nicht. Dolphys Spiel höre ich auf ähnlicher Basis wie beim vorherigen Album, nur dass er mit seinen Eigenheiten weiter geht und vor allem auf der Bassklarinette schon Ansätze zeigt, über das "normale" Tonmaterial hinauszugehen, also nicht nur den Tonumfang des Instruments auszureizen, sondern auch Klänge zu erforschen, die darüber hinausgehen.

    Gerade läuft hier Far Cry: Das empfinde ich bisher gewissermaßen als kleinen Rückschritt auf dem Weg zur Avantgarde - andererseits klaffen hier nicht solche Abgründe zwischen ihm und seinen Sidemen. Die beiden Balladen (Ode to Charlie Parker und das soeben erklingende Left Alone) sind auch gerade im Zusammenspiel von Solisten und Rhythmusgruppe vom feinsten! Vor allem Ron Carter (jetzt am Bass) ist ein ganz anderes Kaliber als George Tucker auf Outward Bound. Was auch Roy Haynes zu viel differenzierterem Schlagzeugspiel animiert.

    Maurice, das müsste doch die Dolphy-Platte für Dich sein!

    Jetzt läuft noch Tenderly, Dolphy auf dem Altsax solo. Das schlägt nun allerdings einen großartigen Bogen von der Tradition des Instruments (Dolphy kannte seinen Johnny Hodges sicher gut!) in die Ausweitung der Möglichkeiten des Instruments! Während ich das schreibe, geht das direkt über in den Beginn von It's Magic, wo es zunächst nicht leicht auszumachen ist, dass Dolphy das Instrument gewechselt hat! Das als Beispiel dafür, was ich oben meinte mit Saxophon-typischem Ansatz: die Bassklarinette ist bei ihm im hohen Register nur schwer vom Altsax zu unterscheiden, aber dann steigt Dolphy in endlosen Schleifenskalen in die Tiefen des Instruments hinab. Mann, das ist einfach nur großartig! Aber eine avantgardistische Platte ist das nicht!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Aber eine avantgardistische Platte ist das nicht!

    Ein bißchen hätte ich noch warten sollen! Jetzt läuft Serene. Und da fängt Dolphy an, die Bassklarinette auseinanderzunehmen! Sein Solo schießt zwischen den Registern hin und her, der saxophonmäßige Ansatz wechselt mit einem weicheren Klarinettenansatz (so klingt das für mich), und bei den Ausflügen ins höchste Register sind auch schon Nebentöne zu hören (der Begriff Multiphonics war 1960 womöglich noch nicht erfunden). Das nachfolgende Solo von Booker Little holt einen dann wieder auf den Teppich zurück, das ist ein Wechsel zwischen Welten!

    Insgesamt eine großartige Platte!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Ron Carter (der hier lt. Wikipedia auf einer seiner ersten Plattenaufnahmen dabei ist) spielt hier Cello, ein Instrument, für das es Anfang der 60er im Jazz vermutlich keine oder wenig Tradition gibt; man weiß manchmal nicht so recht, wo er hinwill, obwohl ich das sehr interessant finde.

    Falsch !! Das war um 1960 herum bereits mehr als nur bekannt. Der erste Jazzbassist, der Cello halbwegs jazzmäßig gespielt hat, war Harry Babasin, ein Bassist, der stilistisch im Bereich später Swing, Bop und später West Coast Jazz stand. Er dürfte dem Außenstehenden eher unbekannt geblieben sein, aber er war ein studierter Musiker (auch auf dem Cello !!), der mit Gene Krupa, Harry James, Boyd Raeburn (auf der Aufnahme "Boyd meets Strawinsky" war er mit dabei gewesen), Benny Goodman, Charlie Barnet, Woody Herman (1948 in der "Four Brothers-Band") und dann in den Hollywood Studios spielte. Er machte bereits mit dem Bop-Pianisten Dodo Marmarosa 1947 Aufnahmen auf dem Cello.

    Dann natürlich Oscar Pettiford, der Aufnahmen mit Duke Ellington machte, auf denen er Cello spielte 1950. Er beschäftigte sich 1949 mit dem Cello, als er bei Woody Herman spielte für einige Monate. Eventuell durch Harry Babasins EInfluss hin. Als er sich 1950 den Arm brach, konnte er nicht Bass, aber Cello spielen. "Perdido" wurde die Aufnahme, die das Cello wirklich bekannt machte mit eben Ellington.

    Hier mal dazu Beispiele:

    https://www.youtube.com/watch?v=JgUplTSYnXw
    - Perdido

    https://www.youtube.com/watch?v=3KPLauMeBFI

    https://www.youtube.com/watch?v=x-8BVU5ez_w
    - Dodo Marmarosa mit Harry Babasin : Ab 31,39 Min bis zu 43,40 Min kommen jene Aufnahmen, die 1947 entstanden waren

    Sorry, aber das mal als Seitenschritt, was das Cello angeht.

    Viele Grüße sendet Maurice

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  • Danke! Pettiford hatte ich tatsächlich vergessen!

    Also nicht "keine Tradition", aber doch "wenig Tradition".

    Richtig. Ich zähle mal nicht die Streicher dazu, die es aber in den sog. "Sweet Bands" seit den 1920-er Jahren gab, auch nicht in den "Ragtime-Bands, die mit Geige und Cello teilweise arbeiteten. Viele Musiker, die bereits in den 1910-er und 1920-er Jahren aktiv waren, konnten ein Streichinstrument spielen (etwa Russell Procope, Quentin Jackson), das wurde damals verlangt. Etwa so, wie man als Bassist auch oder zuerst Tuba spielte.

    Bei uns Trompetern war es oftmals zuerst das Kornett, später kam dann neben der Trompete das Flügelhorn dazu (hier etwa schon Bill Coleman, der 1909 geboren wurde, aber später sehr gerne und gut auch auf dem Flügelhorn spielte. Man kennt ihn heute nicht mehr, aber es war ein richtig guter, sehr lyrischer Trompeter gewesen, der bereits lange vor Miles Davis auch mit dem Harmon Mute agierte, wie es Davis in den 1950-er Jahren erst tat.).

    Ron Carter spielte wohl dann einen Barock-Bass, kein reines Cello, wenn ich das mal richtig gelesen habe. Man sollte erwähnen, dass es bei den Bässen auch kleinere Bässe gab, wie bei Geigen und Celli auch. Ich habe gerade nachgeschaut. Es gibt sogar 1/16-Celli. Das klingt fast wie eine Miniaturausgabe eines Cellos.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Gerade läuft hier Far Cry: Das empfinde ich bisher gewissermaßen als kleinen Rückschritt auf dem Weg zur Avantgarde - andererseits klaffen hier nicht solche Abgründe zwischen ihm und seinen Sidemen. Die beiden Balladen (Ode to Charlie Parker und das soeben erklingende Left Alone) sind auch gerade im Zusammenspiel von Solisten und Rhythmusgruppe vom feinsten! Vor allem Ron Carter (jetzt am Bass) ist ein ganz anderes Kaliber als George Tucker auf Outward Bound. Was auch Roy Haynes zu viel differenzierterem Schlagzeugspiel animiert.


    Hab sie ja gestern auch gehört und mein Eindruck deckt sich ziemlich mit dem Deinen. Eher ein „Rückschritt“, wenn auch einer, der musikalisch auf überaus beeindruckendem Niveau getan wird.

    Live war die Combo Dolphy/Little doch ein ganzes Stück avancierter als hier im Studio. Aber insgesamt sind das die vielleicht „klassischsten“ Jazzperformances, die Doplphy unter eigenem Namen/als (Co)Leader gemacht hat.

    Werde gleich mal das Five Spot-Konzert anmachen... :)

    Adieu
    Algabal

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  • Eben auf Youtube "gehört u. geguckt":

    Charles Mingus & Eric Dolphy, Palais des Congrès de Liège, Belgium, April 19th, 1964

    https://www.youtube.com/watch?v=03NX_EjGijM

    Eric Dolphy (alto sax, bass clarinet, flute)
    Charles Mingus (contrarbass)
    Clifford Jordan (tenor sax)
    John Artur Byard (piano)
    Charles Dannie Richmond (drums).

    Direkt im Anschluss folgt ein weiteres Konzert:
    Charles Mingus Sextet, at the Konserthuset Stockholm, Sweden, April 13th, 1964

    Eric Dolphy - Sax, Bass Clarinet and Flute
    Charles Mingus – Bass
    Clifford Jordan - Tenor Sax
    Jaki Byard – Piano
    Dannie Richmond – Drums
    Johnny Coles – Trumpet.

    :thumbup: Wenige Monate später ist er ja verstorben. :/

    Am Wochenende, wenn ich etwas mehr Zeit habe, werde ich mir mal weitere Videos anschauen.

    Beim ersten Video fand ich auch Charles Mingus sehr interessant und irgendwie lustig, wie er da plötzlich anfängt, an den Klaviersaiten herumzuzupfen.
    Und zwischendurch, während Clifford Jordan spielt, schaut Eric Dolphy auch noch ziemlich gelangweilt. :D Weiß jemand, ob die beiden sich gemocht haben?
    Jedenfalls bin ich von Eric Dolphy und Charles Mingus ziemlich begeistert.

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



  • Es freut mich echt, dass jetzt grad so fleissig Dolphy gehört wird hier!!!! :) :) :)

    Adieu
    Algabal

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  • Zitat von garcia

    Wer ist schon auf Anhieb am Ton erkennbar? Hawkins, Webster, Brötzmann, Ayler, mehr erkennte ich nicht (doch, Garbarek )

    Sanders. Wer den nicht erkennt, hat keine Ohren am Kopf (oder Sanders noch nie gehört). :P Und, doch, naklar Ornette Coleman und Paul Desmond. Die erkennt man auch ganz klar unmittelbar am Ton. Dann wirds für mich schwierig. Shepp vielleicht noch. Der hat so einen merkwürdig unerotisch-trockenen, fahlen Ton. Auch sehr eigen (nicht recht mein Fall, wie man weiß...).

    Hawkins und Webster erkenn ich übrigens überhaupt nicht auf Anhieb am Ton - kenne die einfach nicht gute genug, fürchte ich.... Asche über mein Haupt.

    Adieu
    Algabal

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  • Womit wir herausgefunden haben, daß auch die Unverwechselbarkeit des Tones eine hörerseits sehr individuelle Angelegenheit ist: erkennen kann man was man gut kennt, also wahrscheinlich liebt.

    Ich würde Sanders etwa nicht allein am Ton erkennen. Er hat einen großen, sehr tollen Ton, ja, aber den haben andre auch. Würde ich Coleman Hawkins wirklich am Ton erkennen? Ich fürchte da war ich voreilig. Es gibt zu viele Saxophonisten, die sich an ihm orientiert haben und ihm sehr nahekommen.

    Ornette Coleman ist meine große peinliche Bildungslücke. Ich kenne nur die Free Jazz (die mich nicht sooo erreicht hat), die Virgin Beauty mit diesem sehr eigenen Jazzrock (nix zum Ofthören aber interessant) und eine alte Liveplatte aus Stockholm wo er auch Violine spielt (was er hätte lassen können), die ich ansonsten aber sehr mag. Sein eigentliches Kernwerk kenne ich nicht. Es steht weit oben auf der Liste.... Ich würde ihn nicht erkennen am Ton.

    Coltrane vielleicht schin, wenn er Sopran spielt.

    Webster ist der Balladentyp bei dem soviel Luft mit durchgeblasen wird :D Smooth bis zur Selbstkarikatur. Ich meine das positiv. Ich liebe ihn sehr.

    Garbarek hingegen liebe ich nicht sehr, und er ist extrem unverwechselbar. Was ja nur zeigt daß das zumindest nicht alles ist...


    War etwas OT was Dolphy betrifft, dies Thema verdiente wirklich einen eigenen Thread. Also zurück zu meinen Lieblingen mit seiner Beteiligung:

    Ich bin kein großer Big Band Hörer. (Die Coverbeschriftung führt in die Irre: die meisten Stücke hier sind nicht von Coltranes Quartett, sondern einer großen Band eingespielt). Aber diese hier... Absolut faszinierend. Und die Arrangements stammen von Eric Dolphy. Eigentlich unverständlich daß er sowas nicht häufiger gemacht hat. Oder hat er und ich kenn das nicht? Es ist eine Ungerechtigkeit biblischen Ausmaßes, jedenfalls, daß Coltrane als mythischer Gigant gilt und Dolphy eher was für Spezialisten ist heutzutage. Mit Dolphy hat JC seine erregendsten Sachen gemacht, und ich glaube, das war ihm auch bewußt. Aber die Africa/Brass ist nochmal eine singuläre Sache in der Zusammenarbeit der beiden, der Arrangements wegen, dieser erstaunlichen Mixtur aus Kraft und Sensibilität.

    Aber Obacht :alter1: Es müssen die "Complete Africa/Brass Sessions" sein, es existiert auch eine abgespeckte Einzel-CD und da sind die großartigsten Sachen nicht enthalten.


    :)

    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Zitat von garcia

    Ich würde Sanders etwa nicht allein am Ton erkennen. Er hat einen großen, sehr tollen Ton, ja, aber den haben andre auch.

    Hm, so unterschiedlich ist es im menschlichen Leben. Ich erkenne Sanders (meist!) nach einer Viertelsekunde - am Ton. Egal ob im krassesten Free Jazz-Environment oder im beklopptest-banalen Schmuse-Jazz-Balladen-Kontext. Neben Ayler hat er in meinen Ohren den allerindividuellesten Sax-Sound überhaupt. Aber Du hast recht - es ist auch Konditionierung. Irgendwie. Und es ist nicht eine Frage des Dolphy-Threads, ob man Sanders am Sound erkennt oder nicht ... ;)

    Die kompletten Africa/Brass-Sessions sind eine Wucht. Aber eben nicht so sehr wegen Coltrane ... :D

    Adieu
    Algabal

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  • Und zwischendurch, während Clifford Jordan spielt, schaut Eric Dolphy auch noch ziemlich gelangweilt. Weiß jemand, ob die beiden sich gemocht haben?

    Ich weiß es nicht, aber manchmal schauen Musiker sehr gelangweilt aus, das ist fast schon durch die Stile festzustellen. Johnny Hodges und Lawrence Brown bei Duke Ellington schauen immer so aus, als ob man ihnen vor der Nase ihre Lieblingsgerichte abgenommen haben, Miles Davis konnte das auch sehr gut, Und Dizzy Gillespie lief mal während eines Konzertes ständig in den Nebenraum, um einen Boxkampf zu verfolgen (beim legendären Massey Hall Concert mit Charlie Parker war das gewesen). Eine Untugend, die übrigens viele Bandleader teilweise drastisch unterbunden haben, weil es eine Missachtung der eigenen Band und Solisten war und noch immer ist. (Wenn das jemand bei mir machen würde, könnte es durchaus passieren, dass ich ihn während des Gigs nach Hause schicken würde. Auch würde ich diesen Musiker nie wieder einladen mit mir zu spielen: Sowas ist einfach disziplin-und charakterlos).

    Um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen: Da Clifford Jordan nicht das Bedürfnis hatte, Eric Dolphys moderne Pfade mitzugehen, vermute ich mal, dass Dolphy Jordans Spiel langweilig empfand. Das gibt es immer wieder und muss nicht unbedingt am zwischenmenschlichen Bereich liegen.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Maurice:
    Danke für deine Rückmeldung! 8)
    Ja, bei Miles Davis war mir das auch schon aufgefallen, aber da hatte ich bislang irgendwie den Eindruck, dass das halt einfach seine Art ist und nicht konkret gegen anwesende Musiker gerichtet ist.

    Das mit dem Boxkampf ist ja irre! 8| Da muss man ja schon fast schmunzeln. Aber da bin ich natürlich ganz bei dir: geht gar nicht.


    ... Um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen: Da Clifford Jordan nicht das Bedürfnis hatte, Eric Dolphys moderne Pfade mitzugehen, vermute ich mal, dass Dolphy Jordans Spiel langweilig empfand. Das gibt es immer wieder und muss nicht unbedingt am zwischenmenschlichen Bereich liegen.

    Das mag sein, aber ich denke, eben weil sie so unterschiedlich gespielt haben, konnten sie sich halt auch gegenseitig recht gut ergänzen.

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



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