Gute Gründe für Programmänderungen?

  • Gute Gründe für Programmänderungen?

    Anlässlich von music lovers m. E. berechtigtem Ärger über eine Programmänderung frage ich mich, welche guten Gründe für Programmänderungen gibt. Hinein spielt die Frage, inwieweit die auch kurzfristige Änderung des Programms zur anzuerkennenden künstlerischen Freiheit gehört. Nicht interessiert mich die rechtliche Seite. Das typische Kleingedruckte lässt den Konzertbesucher üblicherweise belämmert im Regen stehen. Sollen sie doch den Bruch hören, wahrscheinlich merken sie den Unterschied gar nicht...

    Zum Einstieg zwei Fälle:

    Fall 1: Der Solokünstler ist aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht imstande, das Konzert zu spielen.

    Da kann man nichts machen, bin ich versucht zu sagen. Allerdings dürfte für die Bewertung der Grund für das Unvermögen eine Rolle spielen. Wenn der Künstler schlicht sternhagelvoll wäre, fände ich das weniger pricklen, insbesondere wenn der Besuch des Konzerts des Künstlers wegen erfolgt.

    Fall 2: Der Solokünstler hat Programm X angekündigt, ist aus beliebigen Gründen am Abend aber nicht in der künstlerischen Stimmung, um dieses Programm zu spielen und spielt daher Programm Y.

    Denkbar sind alle möglichen Gründe. Denken wir uns einen Todesfall und ein lustiges Programm. Könnte schwer fallen, nehme ich an. Oder muss ich von einem Profi erwarten, dass er auch unter schwierigen Voraussetzungen das Programm professionell über die Bühne bringt? Bin geneigt, das anzunehmen.

    Fall 3? Gibt es so etwas wie "Das Orchester/der Solokünstler packt das Stück nicht und deshalb wird etwas einfacheres gespielt"? Kann ich mir kaum vorstellen.

    Was noch? Wie seht ihr das? Sind euch solche Änderungen sogar egal? Ich erinnere eine Familienangehörige mit langem Abo (sie ist nicht mehr unter uns), die sich gern überraschen ließ und sich über alles freute, was kam.

  • Also ich wäre da genauso angesäuert wie Music Lover (ich habe seinen Unmut gelesen) - da ich ein Konzert i.d.R. hauptsächlich wg. der angekündigten Stücke besuche und auch von meinen Lieblingskünstlern nicht einfach nur irgendwas hören wollte ...

    Aber akzeptable Gründe für solch eine Programmänderung fallen mir - abgesehen von den schon genannten - auch keine ein :S

    Viele Grüße - Allegro

    "Musik ist ... ein Motor, Schönheit, Intensität, Liebe, Zauber, alles in allem: ein Elixir." Lajos Lencsés

  • Vor Jahren habe ich es erlebt, daß kurzfristig eine angekündigte Rarität von Elgar (auf die ich gespannt war, weil ich das noch nicht kannte) durch ein mir durchaus vertrautes Werk von Debussy ersetzt wurde. Fand ich ärgerlich.

    Begründung: Die Noten aus England waren nicht rechtzeitig in Deutschland eingetroffen (ich glaube, es gab urheberrechtliche Probleme). So konnte man das nicht proben.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Die Noten aus England waren nicht rechtzeitig in Deutschland eingetroffen

    Und das noch vor dem Brexit? Heutzutage wäre einem das ja eher eine Genugtuung. :versteck1:
    :ironie1:

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Programmänderungen habe ich bis jetzt bei Konzerten selten erlebt. Ich erinnere mich (hoffentlich nicht falsch), dass Pollini einmal die Hammerklaviersonate “ersetzt” hat. War natürlich ärgerlich, warum er das geändert hat, weiß ich nicht mehr.

    Zu dem Auslöser dieser Diskussion durch music_lover möchte ich hier aber auch darauf hinweisen, dass er sich ganz dezidiert über die Veranstalter aufregt und nicht direkt über die Künstler, obwohl die Programmänderungen doch sicher von den letztgenannten ausgehen. Es wäre also zu hinterfragen, inwieweit der Veranstalter verpflichtet ist, den Künstler zu “zwingen” das angekündigte Programm zu spielen.

    Bei Schauspielhäusern sieht es übrigens anders aus. Da gibt es prinzipiell 2 Spielpläne, einen offiziellen, für den die Karten verkauft werden, und einen inoffiziellen für den Fall, dass jemand im Ensemble krank wird. Im Gegensatz zur Oper wird dann nämlich nicht ein anderer mit dem Düsenjet eingeflogen, sondern es wird das Stück vom Ersatzspielplan gespielt. Denn das Ensemble ist so eingespielt, dass da niemand mal schnell einspringen kann. Die Schauspieler, die beim Ersatzspielplan zum Einsatz kommen und daher beim regulären Ablauf eigentlich frei haben, müssen daher bis 12 Uhr mittags an selbigem Tag zur Verfügung stehen und dürfen erst dann in die Berge fahren. So wurde es mir einmal bei den Münchner Kammerspielen vom damaligen Intendanten Frank Baumbauer erklärt.

    Solche Programmänderungen im Schauspiel habe ich öfters erlebt und das muss man eben so hinnehmen.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Fall 1: Der Solokünstler ist aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht imstande, das Konzert zu spielen.

    Hier ist die Sache m. E. klar. Sozusagen "arbeitsunfähig". Also eine Krankschreibung.

    Fall 2: Der Solokünstler hat Programm X angekündigt, ist aus beliebigen Gründen am Abend aber nicht in der künstlerischen Stimmung, um dieses Programm zu spielen und spielt daher Programm Y.

    Weicher Bereich.

    Ich hatte bei music lovers den Eindruck, es würde so getan, als sei eine Konzertdarbietung eine verfügbare Leistung.

    Also etwas, was vorhanden ist, und über dessen Lieferung mit dem Kauf einer Eintrittskarte ein gültiger Vertrag zustande gekommen sei.

    Das ist nicht mein Blick auf ein Konzert.

    Klar habe ich als Hörer und Kartenkäufer den Wunsch, das angekündigte Programm zu hören - möglichst mit Künstler*innen in Bestform.
    Aber es muss m. E. den Künstler*innen möglich sein, ein Konzertprogramm zu revidieren.

    Beispiel 1: Ein für außergewöhnlich gute Wiedergaben zeitgenössischer Kompositionen bekannter Pianist kündigt an, in 12 Monaten Stockhausens Klavierstücke spielen zu wollen. Irgendwann beginnt der Kartenvorverkauf. Kurz danach ist 9/11 und Stockhausen verklärt den Terrorakt zum Kunstwerk. Der Pianist distanziert sich von Komponist und Werk und ändert das Konzertprogramm. Finde ich ok.

    Beispiel 2: Interpret X wird mit der Uraufführung des Werkes Y von Komponist Z angekündigt. Y ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollendet. Als X das Werk Y erhält und einstudiert, findet er Y nicht einer Aufführung wert und setzt darum ein anderes Werk aufs Programm. Finde ich auch ok.

    Kunst bleibt ein Risiko - und künstlerische Erlebnisse sind nicht verfügbar.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Kunst bleibt ein Risiko - und künstlerische Erlebnisse sind nicht verfügbar.

    Das betrifft ja auch Konzerte, bei denen das Programm nach Plan gespielt wird, wo aber der Zuhörer hinterher völlig enttäuscht nach Hause geht, weil ihm die Interpretation nicht gefallen hat. (So etwas passiert dann zumeist noch bei den großen Namen, weil man da eine ganz besondere Erwartungshaltung hat, und dass es ja wieder “sensationell gut” und “unvergleichlich” werden muss.)

    Da gibt es auch keinen Schadensersatz.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Beispiel 1: Ein für außergewöhnlich gute Wiedergaben zeitgenössischer Kompositionen bekannter Pianist kündigt an, in 12 Monaten Stockhausens Klavierstücke spielen zu wollen. Irgendwann beginnt der Kartenvorverkauf. Kurz danach ist 9/11 und Stockhausen verklärt den Terrorakt zum Kunstwerk. Der Pianist distanziert sich von Komponist und Werk und ändert das Konzertprogramm. Finde ich ok.

    Beispiel 2: Interpret X wird mit der Uraufführung des Werkes Y von Komponist Z angekündigt. Y ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollendet. Als X das Werk Y erhält und einstudiert, findet er Y nicht einer Aufführung wert und setzt darum ein anderes Werk aufs Programm. Finde ich auch ok.


    Du argumentierst mit Extrembeispielen. Und in Deinen beiden Extrembeispielen kann ich die Entscheidung des Künstlers nachvollziehen.

    Beispiel 1: In der Tat hat Stockhausen bei einer Pressekonferenz im Hotel Atlantic wenige Tage nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 Folgendes gesagt:

    Zitat von Karlheinz Stockhausen

    Also, was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.
    (...)
    Dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben, total fanatisch, für ein Konzert, und dann sterben. Und dann werden 5.000 Leute in die Auferstehung gejagt.

    Daraufhin wurde das zahlreichen Werken von Stockhausen gewidmete Musikfest Hamburg 2001 abgesagt. Hätte in dieser Situation Pierre-Laurent Aimard bei einem wenige Wochen später anberaumten Klavierabend in der Laeiszhalle das Klavierstück IX von Stockhausen aus dem Programm genommen und durch ein Werk von Ligeti ersetzt, hätte ich das verstanden.

    Beispiel 2: Es hat immer wieder Beispiele gegeben, dass Künstler ein noch nicht fertiggestelltes Werk uraufführen sollten, aber als es dann vorlag, mit diesem Werk nichts anfangen konnten. So ging es z.B. Jewgenij Mrawinsky mit der Sinfonie Nr. 13 von Schostakowitsch, so ging es Günter Wand mit Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“. Das kann ich durchaus verstehen.

    Der Fall, über den ich heute sprach und den Knulp dankenswerterweise in diesen Thread überführte, ist aber ein anderer: Eine Künstlerin (Nicola Benedetti) bittet einen zeitgenössischen Komponisten (Wynton Marsalis), für sie ein Werk für Violine und Orchester zu schreiben. Heraus kommt ein 45-minütiges Violinkonzert. Dieses Werk wird von der Künstlerin einstudiert und für sensationell gut befunden. Nicht anders sieht dies das Konzertpublikum, denn überall, wo sie es aufführt, wird es begeistert aufgenommen.

    Im August 2020 wird angekündigt, dass sie dieses Werk im Juni 2021 auch in Hamburg mit dem WDR Sinfonieorchester aufführen wird. Man freut sich darauf. Dann wird, obwohl dieselbe Künstlerin mit demselben Orchester plus dem angekündigten Dirigenten auf der Bühne steht, plötzlich beschlossen: Ach nein, statt des Marsalis spielen wir einfach ein Standardwerk, nämlich den sattsam bekannten Bruch.

    Hier sage ich - der schon zahlreiche solche Programmänderungen vorgesetzt bekam (Trifonov 2020 war allerdings ein Extrembeispiel) - nunmehr: Das mache ich nicht mehr mit. Ich lasse mir nicht mehr von diesen Leuten auf der Nase herumtanzen.

    Die rechtliche Seite ist eindeutig: Durch das "Kleingedruckte" nehmen mir die Konzertveranstalter alle Rechte. Ich habe gefälligst Programm- und Besetzungsänderungen zu akzeptieren.

    Das ist auch gar nicht mein Punkt. Ich begehre gegen die Selbstverständlichkeit auf, mit der Konzertbesucher solche Willkür hinnehmen. Und ich meine, dass ein Konzert, das mit einem bestimmten Programm angekündigt wird, auch so aufgeführt werden sollte. Von wirklich extremen Fällen wie den von Dir genannten abgesehen.


    Zu dem Auslöser dieser Diskussion durch music_lover möchte ich hier aber auch darauf hinweisen, dass er sich ganz dezidiert über die Veranstalter aufregt und nicht direkt über die Künstler, obwohl die Programmänderungen doch sicher von den letztgenannten ausgehen.

    Das müsstest Du mir bitte näher nachweisen. Hat Nicola Benedetti, die für dieses von ihr in Auftrag gegebene Violinkonzert "brennt", gesagt: "Ach nee, ich möchte in Hamburg ganz dringend den Bruch spielen"? Und der Veranstalter hat widerwillig akzeptiert? Oder sagte ihr der Veranstalter ProArte: Wir wollen das Konzert angesichts der Corona-Beschränkungen zweimal verkaufen (statt eines Konzerts um 20.00 Uhr soll es zwei Konzerte um 18.30 und 21.00 Uhr geben), und da müssen wir zeitlich kürzen, und da lassen wir doch lieber so ein merkwürdiges Werk wie den Marsalis über die Klinge springen statt den Dvorák, den unser äußerst betagtes Abonnentenpublikum doch so liebt?

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Du argumentierst mit Extrembeispielen.

    Ja, ganz bewusst. Mit dir bin ich ja gleich in meinem ersten Satz einig und ich habe mich mit dir geärgert. Bruch statt Marsalis ist m. E. ebenfalls ein Extremfall. Deshalb habe ich plakativ nach den Gegenbeispielen für berechtigte Änderungen gefragt, um von hier aus zur Mitte zu gelangen und dort den Raum abzustecken, in dem Änderungen salopp gesagt okay sind. Da dürften die Meinungen auseinandergehen, hatte ich erwartet. Bislang ist man sich hier aber weitgehend einig.

    Oder sagte ihr der Veranstalter ProArte: Wir wollen das Konzert angesichts der Corona-Beschränkungen zweimal verkaufen (statt eines Konzerts um 20.00 Uhr soll es zwei Konzerte um 18.30 und 21.00 Uhr geben), und da müssen wir zeitlich kürzen, und da lassen wir doch lieber so ein merkwürdiges Werk wie den Marsalis über die Klinge springen statt den Dvorák, den unser äußerst betagtes Abonnentenpublikum doch so liebt?

    Da kommen wir wohl zum Eigentlichen, will ich meinen. Wirtschaftliche Interessen dominieren. Das geht nun gar nicht, finde ich, und zwar auch nicht in Sondersituationen, wie sie sich für Konzertveranstalter in Corona-Zeiten nun einmal darstellen. So etwa ist - Achtung, es folgt ein hanseatisches Schimpfwort - unseriös. Unseriös fand ich immer schon die Preise von ProArte. Das ist aber ein anderes Thema.

  • Bruch statt Marsalis ist m. E. ebenfalls ein Extremfall.

    Was ist denn der Grund für diese Programmänderung, warum gibt es Bruch statt Marsalis? Und wer hat das entschieden?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Oder sagte ihr der Veranstalter ProArte: Wir wollen das Konzert angesichts der Corona-Beschränkungen zweimal verkaufen (statt eines Konzerts um 20.00 Uhr soll es zwei Konzerte um 18.30 und 21.00 Uhr geben), und da müssen wir zeitlich kürzen, und da lassen wir doch lieber so ein merkwürdiges Werk wie den Marsalis über die Klinge springen statt den Dvorák, den unser äußerst betagtes Abonnentenpublikum doch so liebt?

    Das wusste ich allerdings nicht und das erklärt natürlich einiges, vor allem, wenn der Veranstalter zuerst für das Stück die Werbetrommel rührt.

    Und es unterstreicht wieder einmal, dass moderne Musik sowieso ein Nischendasein führt und die Leute im Konzert (Ironieknopf an) nach “schwerer Arbeit” eben unbeschwert “schöne” Musik hören wollen. (Ironieknopf aus)
    Ich entsinne mich da auch eines Klavierabends in München mit Pollini, der damals die “Frechheit” besaß und zunächst Brahms spielte, und nach der Pause (!!) dann Webern und Schönberg. Natürlich war der Saal dann plötzlich halb leer...

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Das wusste ich allerdings nicht und das erklärt natürlich einiges, vor allem, wenn der Veranstalter zuerst für das Stück die Werbetrommel rührt.

    War es denn so oder ist das nicht eher eine Vermutung? Bevor man den Veranstalter kritisiert, fände ich es schon interessant zu erfahren, warum der Veranstalter das Programm geändert hat.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Das müsstest Du mir bitte näher nachweisen. Hat Nicola Benedetti, die für dieses von ihr in Auftrag gegebene Violinkonzert "brennt", gesagt: "Ach nee, ich möchte in Hamburg ganz dringend den Bruch spielen"? Und der Veranstalter hat widerwillig akzeptiert? Oder sagte ihr der Veranstalter ProArte: Wir wollen das Konzert angesichts der Corona-Beschränkungen zweimal verkaufen (statt eines Konzerts um 20.00 Uhr soll es zwei Konzerte um 18.30 und 21.00 Uhr geben), und da müssen wir zeitlich kürzen, und da lassen wir doch lieber so ein merkwürdiges Werk wie den Marsalis über die Klinge springen statt den Dvorák, den unser äußerst betagtes Abonnentenpublikum doch so liebt?

    Lieber music lover,

    zunächst einmal: ich würde mich genauso wie Du ärgern, wenn das Stück, wegen dem ich ins Konzert gegangen wäre, gestrichen wird. V.a. überrascht war ich, dass ein Veranstalter wie ProArte überhaupt ein modernes Violinkonzert ins Programm genommen hat. Normal ist das ja nicht. Egal, ob man auswärtige Orchester in München und deren Konzertprogramme anschaut, oder beobachtet, mit welchen Stücken die Münchner Orchester auf Tournee gehen, merkt man, dass da grundsätzlich und überall extrem risikoarm agiert wird: Bartok oder Schönberg kommen da kaum vor, Moderneres für großes Orchester schon gar nicht.

    Wenn ein WDR Orchester auf Konzert in die Elbphilharmonie geht, dann kommt da in der Regel ein Stück vor, dass sie vorher in Köln auch mindestens zweimal gespielt haben: einfach um sich dem Stück anzunähern, ein bisher wenig gespieltes Stück ordentlich vor fremdem Publikum abzuliefern. Und wenn man sich die Konzerte des WDR Orchesters anschaut: da kommt Nicola Benedetti als Solistin in Köln gar nicht vor. Und das halte ich für den größeren Anteil an der Programmänderung: auch in Köln scheint der Marsalis ersatzlos gestrichen zu sein. Die Mehrzahl der Konzerte außerhalb Kölns scheint auszufallen. Das hat aus meiner Sicht einen deutlich größeren Anteil an der Absetzung des Marsalis als die sicher nicht unbedeutenden Erwägungen eines kommerziellen Veranstalters, dem Corona zwei Spielzeiten viel Organisationsaufwand, aber wenig Einnahmen bereitet haben.

    Selbst mein Chorleiter hat Israel in Egypt als nächstes Oratorium des Hallensers gegen - Überraschung - den Messiah eingetauscht .... das nennt man auf Nummer sicher spielen. Alle Bereiche des Kulturbetriebs werden auf die eine oder andere Art dazu gezwungen sein in den kommenden Jahren ... ob wir es mögen oder nicht.

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Hallo zusammen,

    die Konzertveranstalter und Musiker machen sich ja auch schon ziemliche Gedanken, daß sie nicht mehr das Publikum vollständig zurückholen werden. Sie befürchten, daß ein Teil des Publikums dauerhaft verlorengeht, einfach, weil sich die Gewohnheiten durch die Pandemie verändern werden und vielleicht auch, weil das ältere, treue Publikum risikoscheuer wird.

    Nach meinen Erfahrungen ist es momentan ja auch nicht allzuschwer für die wenigen Konzerte, die stattfinden, Karten zu bekommen - obwohl diese nur vor sehr reduzierter Besucherzahl stattfinden müssen. So habe ich am Sonntag für meine Mutter Karten für das erste Gürzenich-Orchester Konzert seit Monaten gekauft - kein Problem, beste Plätze noch vorhanden (allerdings haben die sich noch nicht angepasst, es gibt die Musik für Seiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Bartok und ein Violinkonzert für Eötvös).

    Anderes Beispiel: In der Münchner Oper gibt es gerade als Neuproduktion Reimanns Lear (mit Christian Gerhaher). Die Premiere war sehr gut besprochen - heute um 10:00 fing der Vorverkauf für die Vorstellung am Donnerstag an. Und ich habe den Termin verschlafen, aber dennoch noch super Plätze bekommen - und es ist immer noch die große Auswahl da. Ja, Reimanns Lear ist auch kein Publikumsrenner - aber ich behaupte mal, daß die Karten vor der Pandemie sehr viel besser weggegangen wären - obwohl die Oper zur Zeit nur ein Drittel der Plätze belegen darf. Vermutlich ist doch nur ein Teil des alten Publikums so süchtig, wie wir....

    Ich denke, Benno hat recht. Die Auswirkungen auf die Kultur ist jetzt überhaupt noch nicht absehbar. Und wenn die Kostendiskussionen losgehen, werden leere Opern- und Konzerthäuser auch nicht helfen. Leider :(

    Viele Grüße,
    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

  • Was ist denn der Grund für diese Programmänderung, warum gibt es Bruch statt Marsalis?

    War es denn so oder ist das nicht eher eine Vermutung? Bevor man den Veranstalter kritisiert, fände ich es schon interessant zu erfahren, warum der Veranstalter das Programm geändert hat.

    Das ist ja gerade die Arroganz der Veranstalter, die ich kritisiere. Gründe hierfür werden nicht bekanntgegeben, es wird einfach das Programm geändert. Es wird nicht um Verständnis geworben, die Gründe erläutert, verbunden mit einer herzlichen Entschuldigung. Diese hohen Herrschaften tun einfach, was sie wollen, und das dummerhaftige Publikum hat es gefälligst hinzunehmen.


    Wenn ein WDR Orchester auf Konzert in die Elbphilharmonie geht, dann kommt da in der Regel ein Stück vor, dass sie vorher in Köln auch mindestens zweimal gespielt haben: einfach um sich dem Stück anzunähern, ein bisher wenig gespieltes Stück ordentlich vor fremdem Publikum abzuliefern. Und wenn man sich die Konzerte des WDR Orchesters anschaut: da kommt Nicola Benedetti als Solistin in Köln gar nicht vor.

    Doch, Nicola Benedetti gibt einen Tag (!) nach dem Hamburger Konzert, nämlich am 25. Juni, in der Kölner Philharmonie folgendes Konzert mit dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Cristian Măcelaru (der auch in Hamburg dirigiert):

    Vito Žuraj
    Api-danza macabra
    (Uraufführung)
    Kompositionsauftrag des WDR

    Mark Simpson
    Violin Concerto
    (Deutsche Erstaufführung)
    Kompositionsauftrag des WDR, des London Symphony Orchestra, des Cincinnati Symphony Orchestra und des Royal Scottish National Orchestra

    Antonín Dvořák
    Sinfonie Nr. 9 e-moll op. 95 „Aus der Neuen Welt“

    (Quelle: https://www1.wdr.de/orchester-und-…dvorak-116.html)

    Warum man statt des Marsalis in Hamburg dann nicht wenigstens das Violinkonzert von Mark Simpson spielt? Keine Ahnung. Wie gesagt: Der Veranstalter kommuniziert dies nicht.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Das ist ja gerade die Arroganz der Veranstalter, die ich kritisiere. Gründe hierfür werden nicht bekanntgegeben, es wird einfach das Programm geändert. Es wird nicht um Verständnis geworben, die Gründe erläutert, verbunden mit einer herzlichen Entschuldigung. Diese hohen Herrschaften tun einfach, was sie wollen, und das dummerhaftige Publikum hat es gefälligst hinzunehmen.

    Ich verstehe Deinen Ärger, aber trotzdem finde ich, dass Du das Kind mit dem Bad ausschüttest. Auf der Webseite des WDR steht vorab eine Entschuldigung, dass es coronabedingt zu Programmänderungen kommen kann. Die Formulierung mit den "hohen Herrschaften" und dem "dummerhaften Publikum" (soll ich mich dabei etwa auch angesprochen fühlen ??) ist doch etwas überheblich und kommt vom hohen Ross. Ich bin nicht verpflichtet die Veranstalter-Branche in Schutz zu nehmen, aber etwas mehr Contenance wäre m.E. angebracht anstatt mit pauschalen Verurteilungen um sich zu werfen. Was soll ich dazu sagen, dem in den vergangenen 10 Monaten mehr als 50 gebuchte Konzerte komplett baden gegangen sind ??

    Da Du anfangs in dem anderen Thread auch auf den Trifonov-Fall angespielt hast mit der Ersetzung der modernen Klavierstücke durch die Kunst der Fuge. Das muss ja eindeutig eine Entscheidung des Künstlers gewesen sein, und ein seichter Ersatz nach Publikumsgeschmack ist es allemal nicht. Jeder hat natürlich andere Präferenzen. Wobei das Konzert dann ja gar nicht stattfinden konnte wegen des Lockdowns.
    Ich kann nur um etwas mehr Verständnis und Geduld in diesen schwierigen Zeiten bitten. Die Reaktion "dann gehe ich nicht mehr ins Konzert" ist jedenfalls im wörtlichen Sinn kindisch. Ich würde nie auf Konzerte verzichten, denn alles andere, egal ob CD, LP oder Stream sind nur Notbehelfe und können nicht das Live-Erlebnis ersetzen.

    Mir fällt übrigens noch ein, dass ich vor ca. 8 Jahren eine kleine briefliche Auseinandersetzung mit einer Agentur hatte. Das war in den letzten Monaten vor Abbados Tod und da fielen reihenweise Konzerte aus, die er mit dem Orchestra Mozart geplant hatte. (Das Orchester war dann auch zunächst insolvent und wurde erst etliche Jahre später wieder neu aufgebaut). Damals beschwerte ich mich, warum die Konzerte ersatzlos gestrichen wurden anstatt einen Ersatzdirigent zu verpflichten. Darauf antwortete man mir, dass ohne das Zugpferd Abbado die Konzerte finanziell nicht zu stemmen seien, weil dann der Publikumszuspruch erheblich zurückgehen würde. Sie seien eine kleine Agentur, die auf den Euro schauen müssten.... (so ähnlich, nicht unbedingt wörtlich). Ich fand das sehr enttäuschend, denn hier verschwendete offensichtlich keiner der Leute einen Gedanken an das gebeutelte Orchester.
    Aber sicher hätte es damals etliche gegeben, die sich dann vehement beschwert hätten, wenn man ihnen den Dirigent xy vorgesetzt hätte statt Abbado.

    Du hast aber offensichtlich übersehen, dass das ein Geister-Konzert ohne Zuschauer ist und als Internet-Stream gesendet wird...

    Bei Internet-Streams ohne Zuschauer gibt es bekanntlich auch keine Zeitbeschränkungen für die Dauer des Konzerts. Ich habe gerade mal nach dem Simpson-Violinkonzert gesucht und gefunden, dass es im April mit dem London Symphony Orchestra uraufgeführt und dabei aufgezeichnet wurde. Es scheint auch in London ein Geisterkonzert gewesen zu sein.
    https://seenandheard-international.com/2021/05/mark-s…ng-tchaikovsky/
    Bei dem kostenpflichtigen Streaming-Dienst Marquee TV kann man das Konzert ansehen, wobei neben dem Violinkonzert auch die 6. Sinfonie von Tschaikowsky gespielt wurde. Der Video-Stream dauert 97 Minuten. Wenn man die Tschaikowsky-Sinfonie mit 45 Minuten ansetzt (so z.B. die Aufnahme mit Petrenko und den Berlinern), dann bleiben für das Violinkonzert noch satte 50 Minuten. Wie lange das Simpson-Konzert nun genau dauert, weiß ich nicht, aber offensichtlich deutlich länger als der Bruch mit ca. 25 Minuten.

    So, das nur einmal zu Aufhellung, warum nun eventuell die Aufführung des Simpson-Konzerts in Hamburg unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist, wenn die Konzertdauer eingeschränkt werden muss. Dass der Dvořák als Hauptwerk nicht einfach wegfallen kann, solltest Du eigentlich akzeptieren. Und der Bruch ist auf Grund seiner Kürze dann eben ein realisierbarer Kompromiss in der derzeitigen Situation. Außerdem scheint das Konzert von Simpson technisch äußerst schwierig zu sein. Wenn es dann im Abstand von drei Stunden zwei Mal gespielt werden soll, dann muss man auch die Interpretin fragen, ob sie das will... Auch dies ist nämlich eine Möglichkeit der Erklärung, warum der Simpson in Hamburg nicht gespielt wird.

    Oder hättest Du lieber ein Streaming-Konzert in voller Länge in Deinem gemütlichen Sessel ??

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Die Reaktion "dann gehe ich nicht mehr ins Konzert" ist jedenfalls im wörtlichen Sinn kindisch.

    Diese in Deinen Augen "kindische" Entscheidung habe ich schon im letzten Jahr getroffen. Kannst Du in diesem Forum auch nachlesen:

    Das war's für mich. Eine lange Konzertgängerzeit im Klassiksektor geht für mich zuende. Erst bekommt man von Teodor Currentzis und Patricia Kopatchinskaja das Hauptwerk des Abends nicht zu hören (dies habe "organisatorische Gründe", so wurde man wenige Minuten vor Konzertbeginn überraschend informiert), dann sagt Yuja Wang bei einem ohnehin schon arg abgespeckten Programm kurzfristig ab und wird durch einen Einspringer ersetzt (die vollen 120 Euro hatte man trotzdem zu zahlen bzw. man bekam sie nicht zurück), und jetzt das mit Trifonov. Ich habe die Schnauze voll.

    Wenn Du für Dich eine andere Entscheidung triffst, dann fühle Dich gern im Vergleich zu mir "erwachsen".

    Dass ich nicht mehr in Klassikkonzerte gehen werde, heißt übrigens nicht, dass ich dem Kultursektor kein Geld mehr zukommen lasse. Ich werde jetzt häufiger in die Oper gehen. Derzeit läuft "Agrippina" von Händel an der Hamburgischen Staatsoper, und ich bin mir sicher, dass ich dort nicht zwei Minuten vor der Vorstellung vom Intendanten erfahre, dass man "aus organisatorischen Gründen" heute "Hänsel und Gretel" statt der Händel-Oper spielt. Das würde nämlich das Opernpublikum nie mit sich machen lassen. Wer eine Karte für "Lohengrin" kauft, will auch "Lohengrin" hören und nicht plötzlich "Madame Butterfly". Die Leute würden Sturm laufen bei solchen Programmänderungen.

    Wenn das Opernpublikum so etwas niemals mitmachen würde, warum macht es das Konzertpublikum mit? Geht bei wesentlichen Programmänderungen trotzdem brav in das Konzert, ohne aufzumucken?

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Die Diskussion wird jetzt wirklich kindisch, denn offensichtlich bist Du überhaupt nicht bereit, einen Millimeter zur Seite zu rücken und in irgendeiner Weise Verständnis zu zeigen. Du hättest z.B. zu meinen Überlegungen betreffs Simpson Violinkonzert etwas sagen können. Und wenn Du schon im letzten November Deinen Entschluss gefasst hast, warum jetzt diese Aufregung wegen des Konzerts in Hamburg?? Jedenfalls werde ich in dieser Angelegenheit nichts mehr schreiben. Jeder soll nach seiner Façon selig werden...

    Aber wenn Du glaubst, dass die Opernintendanten nur aus Angst vor einem dort nicht "dummerhaften" Publikum keine Programmänderungen machen, so ist das auch kindisch. Denn das geschieht einzig und allein deshalb, weil der Opernapparat vom Organisatorischen viel zu schwerfällig ist, um auf kurzfristige Dinge zu reagieren. Da wird ja schon der Spielplan mindestens zwei Jahre im Voraus festgelegt. Und wenn dann ein Problem mit einem*r Sänger*in besteht, dann wird Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um per Düsenjet jemand einzufliegen, der dann schlecht und recht versucht, im vorhandenen Bühnenbild und der Inszenierungsidee des Regisseurs (der dann gar nicht mehr da ist) zurecht zu kommen.
    Das kommt einer Programmänderung beim Konzert sehr nahe, denn die Opernfreaks wollen doch ihren geliebten Tenor x oder den Sopran y hören (und haben dafür viel Geld investiert) und nicht einen schnöden Ersatz...
    Einzige Alternative dazu ist dann die totale Absetzung der Aufführung, wenn kein Ersatz gefunden werden kann.

    Da unterscheidet sich eben auch das Schauspiel von der Oper, denn beim Schauspiel hat das Ensemble den höchsten Stellenwert und nicht einzelne Stars, die heute hier und morgen da auftreten. Und da kommt es eben deshalb öfters zu Programmänderungen, wie ich schon weiter oben am Anfang des Threads ausgeführt hatte.

    Good bye...

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!