Die Symphonien Lateinamerikas

  • Die Symphonien Lateinamerikas

    Die Symphonien Lateinamerikas sind ein noch weitgehend unentdecktes Terrain. Dass Heitor Villa-Lobos 11 Symphonien komponiert hat, dürfte sich herumgesprochen haben und es gibt inzwischen zwei komplette Einspielungen auf cpo und Naxos. Auch gibt es einen eigenen thread im Forum. Den Mexikaner Carlos Chavez und seine 6 Genrebeiträge kennt man ebenfalls schon länger, Eduardo Mata hat sie vor 40 Jahren in London eingespielt (Vox). Dann wird es aber schon dünn.

    Die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung der 9 Symphonien des ecuaduorianischen Luis Umberto Salgados soll Anlass sein, diesen Subkontinent und seine symphonische Musik etwas näher zu beleuchten. Volker Tarnow widmet ihr im FF 10/21 eine längere Kritik und urteilt: ...ein immenses Hörvergnügungen. Da habe ich die 3-CD-Box gleich wieder aus dem Stapel noch zu hörender Werke hervorgeholt und werde sie mir in den nächsten Wochen gezielt anhören. Die Box gibt es übrigens für den Preis einer CD.

    Salgado wurde 1903 in Cayambe geboren und starb 1977 in Quito. Sein Vater Francisco Salgado war ebenfalls Komponist und Gründer des Nationalen Musikkonservatoriums in Quito. Luis übernahm später zweimal die Leitung dieses Instituts. Er komponierte vier Opern, eine Operette, fünf Ballette, acht Konzerte und eben 9 Symphonien:

    Symphonie Nr. 1 Andean-Ecuadorean (1949)

    Symphonie Nr. 2 Synthesis (1953)

    Symphonie Nr. 3 ADBGE written on a pentatonic scale (1956)

    Symphonie Nr. 4 Ecuadorian (1957)

    Symphonie Nr. 5 Neo-Romantic (1958)

    Symphonie Nr. 6 For Strings and Timpani (1968)

    Symphonie Nr. 7 (1970)

    Symphonie Nr. 8 (1972)

    Symphonie Nr. 9 (1975)

    Die Werke sind in der Regel viersätzig (nur Nr. 2 und 9 haben nur einen Satz) und dauern zwischen 13 und 33 min.

    Die erste Symphonie von 1949 - die Andensymphonie - ist eine recht bunte und kurzweilige Mischung verschiedenster Einflüsse sowohl indigener als auch europäischer Natur. Salgado selbst benennt die Quellen: Yaravi, eine Balladenform der Hochlandindios, dann Tänze wie der Sanjuanito, der Albazo usw.
    Für europäisch geschulte Ohren klingt das teilweise etwas schräg, mich hat die Musik dieser ersten Symphonie manchmal entfernt an Milhauds brasilianische Komposition Le Boeuf sur le toit erinnert.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Maurice hatte als erster hier im Forum schon vor einigen Wochen auf diesen Komponisten aufmerksam gemacht:

    Luis Salgado komponierte neun Sinfonien, vier Opern, ein Opernballett, eine Operette, fünf Ballette und acht Konzerte sowie Kammermusik, Klavierwerke, Lieder und Chormusik, dazu viele Stücke ecuadorianischer Volksmusik, immer mit bedeutenden Innovationen. Er extrahierte melodische Motive, Rhythmen und Harmonien aus der traditionellen ecuadorianischen Musik und integrierte sie in einen ebenso einzigartigen wie universellen Stil, den er von den folkloristischen Anfängen zu einer sehr persönlichen Sprache entwickelte. Seine Musik ist lebendig, energiegeladen, voller Schwung und lateinamerikanischer Leidenschaft und Lyrik, während seine Orchestrierungen äußerst farbig und innovativ sind.

    Diese Ersteinspielung der kompletten 9 Sinfonien ist eine Liebes- und Ehrenarbeit für das Cuenca Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Meissner. Die Aufführungen sind auf höchstem internationalem Niveau und die Musiker spielen sich für ihren Landsmann die Seele aus dem Leib.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Luis Umberto Salgado : Sinfonie Nr.6

    Cuenco SO , Michael Meissner

    Es wird nun deutlich freier und moderner. Dabei muss ich sagen, dass ich die Sinfonie Nr.9 noch nicht gehört habe, die auf der zweiten CD mit drauf war. Die Sechste wurde schon sehr frei geschrieben. Das ist weder lateinamerikanisches Feeling, noch Impressionismus, geschweige denn, Romantik. Es erinnert mich weitaus mehr an Berg und Webern, also der Zweiten Wiener Schule verpflichtet. Es klingt auch völlig anders als etwa Toch oder wie den gestern gehörten Kaminski. Es ist für mich keine Entspannungsmusik. Da werde ich mir auch nur die Sechste anhören, sonst wird es mir zu viel auf einmal an Modernität.

    Ja, die 6. ist schon ein ganz interessantes Stück. Mich erinnert sie weniger an Berg oder Webern sondern an Artur Honegger. Allerdings schon noch mit einem lateinamerikanischen Touch, wenn auch nicht so deutlich wie bei Villa-Lobos, Camargo oder Revueltas. Es klingt teils ganz schön schräg, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob nicht auch das Orchester dazu beiträgt. Aber dafür muss ich erst einmal mehr von diesen Aufnahmen hören.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Die 2. Symphonie von Luis Humberto Salgado ist einsätzig (daher wohl der Titel "Synthetische") und wirkt auf mich auch eher wie eine symphonische Dichtung. Ein sehr buntes Werk mit vielen kleinen und oft witzigen Überraschungen, viel Schlagwerk, und einem Rhythmus, der mich ein wenig an den Dukas'schen Zauberlehrling erinnert. Könnte der Soundtrack zu einem Cartoon sein.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • In seinem Beitrag zu den Salgado-Symphonien erwähnt Volker Tarnow auch den kolumbianischen Komponisten Guillermo Uribe Holguin (1880-1971), dessen 11 Symphonien auch noch auf eine Einspielung warten. Holguin war Schüler von Vincent d'Indy. Tatsächlich gibt es von zweien seiner Symphonien historische Aufnahmen. Das scheint mir ebenfalls ein lohnendes Terrain zu sein.

    Symphonie Nr. 4: https://www.youtube.com/watch?v=j1yDf59stPg

    Symphonie Nr. 2: https://www.youtube.com/watch?v=Lwq3U8UlTAU&t=97s

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Auf dieser CD befinden sich 3 kurze Tänze von Holguin und ist damit anscheinend die einzige Aufnahme mit Orcherstermusik dieses Komponisten:
    bzw. bzw. hier
    (AD: 19. & 20. März 2010, Studio, Württembergische Philharmonie Reutlingen)

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Enrique Soro (1884-1954) war ein chilenischer Pianist und Komponist. Geboren in Concepción wurde er ursprünglich durch seinen ebenfalls komponierenden Vater unterrichtet. Ein Stipendium der chilenischen Regierung erlaubte ein Studium am Mailänder Konservatorium. Nach der Rückkehr nach Chile wirkte er als Pianist. Er wurde an das Santiago Konservatorium berufen und wurde später auch sein Direktor.

    Soro schrieb die erste chilenische Symphonie, die Sinfonía Romántica (1921). Das Werk ist typisch viersätzig und bedient sich einer Tonsprache, die irgendwo zwischen Cesar Franck und Alexander Glasunow angesiedelt ist. Leider fehlt so jeder Bezug zur Musik der chilenischen Heimat. Deshalb IMO nur von mässigem Interesse, auch wenn das Werk nicht schlecht ist. Die kürzeren Stücke sind vermutlich aus dieser Perspektive interessanter. Zumindest das Orchester ist authentisch.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Bei der Suche nach Enrique Soro bin ich auf diesen link gestossen. Dahinter verbirgt sich eine 104 Seiten umfassende Auflistung von lateinischen (italienischen, spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen) Komponisten von Symphonien mit ihren Werken.

    http://www.musicweb-international.com/Ntl_discogs/La…_symphonies.pdf

    Genauer gesagt sind dort (vom Anspruch her alle, aber irgendwelche Lücken gibt es natürlich fast immer) CD- oder LP-Aufnahmen solcher Sinfonien erfasst, ein Teil einer ganzen Reihe solcher Diskographien, die alle der letztes Jahr verstorbene Mike Herman erstellt hat:
    http://www.musicweb-international.com/herman_discogs.htm

  • Mittlerweile habe ich mir die Sinfonien von Luis Umberto Salgado zugelegt und die ersten beiden CDs heute gehört - also die Sinfonien 1 bis 5 sowie 9. Wirklich fesselnde, zum Teil sehr überraschende Klänge und Rhythmen zwischen Foklore, Impressionismus und Atonalität - wobei Letztere aus meiner Sicht doch eher versteckt erscheint - bei den noch nicht gehörten Sinfonien mag das anders sein.

    Man muss dem deutschen Dirigenten Michael Meissner und dem Orchester aus Ecuador dankbar sein, dass sie diese Musik zugänglich gemacht haben. Natürlich ist die Orchesterleistung nicht mit den großen europäischen Ensembles zu vergleichen und allenfalls zufriedenstellend. Solange man aber kein absolutes Gehör sein Eigen nennt [ ;) ], bin ich bereit, willens und sehr wohl in der Lage, mich möglichst nur auf das Raffinement dieser Musik zu konzentrieren. Und insofern schließe ich mich gerne der Sichtweise von Wieland und Maurice zu Beginn des Threads an.

    :) Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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