Wie hört man atonale Musik?


  • Zitat

    Sie lassen aber eine Musik ohne festes Grundtongefühl zu, wenn z.B. Tonhäufungen und Dreiklangsbildungen vermieden werden.

    Ja, das ist das Gedudel auf den üblichen "Meditations-CDs", da ist die fehlende Spannung Programm. (Das war mir schon klar. Ich wollte nur ein wenig provozieren… ;+) )

    Übrigends der ideale Tonvorrat zum risikolosen Improvisieren...


    Zitat

    Tut mir echt leid, aber ich hab's immer noch nicht verstanden... Ich könnte ja auch sagen: Tonarten wie D-Dorisch sind Fixierungen einer bestimmten Tonskala auf einer bestimmten Transpositionsstufe. Die Tonskala (also Dorisch) bestimmt nur den Tonvorrat, die Tonart (behaupten wir mal Fis) sagt dann, welcher Ton der Grundton ist - dann wären wir bei Fis-Dorisch. Und warum ist das jetzt keine Tonart...?

    Im Prinzip: jein. Das ursprüngliche (antike/mittelalterliche) Konzept der Modi kennt keine Transponierung, weil das in der damals üblichen pythagoräischen Stimmung nicht sinnvoll ist. Da gab es einfach nur die bekannte Abfolge der Töne in Tetrachorden entsprechend der weißen Tasten am Klavier. Begann die (authentische) Skala auf c , dann war das ionisch, begann sie auf d, dann war das dorisch, auf f lydisch, auf a äolisch etc. Die entsprechenden plagialen Modi begannen einfach eine Quart tiefer bei gleicher Finalis. Wenn also "dorisch" davorstand, dann war das immer ausgehend von d, mit Finalis auf d, und umgekehrt. Dorisch gab es nur in d!

    Tonartwechsel gab es in der mittelalterlichen Musik nicht, das wäre auch bei vielen der verwendeten Instrumente und aufgrund der pythagoräischen Stimmung gar nicht möglich gewesen. Ein mittelalterlicher Musiker hätte also die Frage schon gar nicht verstanden, nicht einmal, wenn man ihm das Prinzip der gleichschwebenden Temperatur erklärt hätte. Wenn wir ihm gleichschwebend fis-dorisch vorgespielt hätten (das er wahrscheinlicherweise als total verstimmt wahrgenommen hätte!) wäre das für ihn trotzdem dorisch auf d gewesen, er hätte nur höher gestimmt (sofern das sein Instrumentarium zugelassen hätte). Das System der Modi ist ein relatives System, kein absolutes! Aus diesem Grund hat man bei den frühen (spätantiken) Orgeln die Register auch nicht deswegen erfunden, um verschiedene Klangfarben zu realisieren, sondern um in unterschiedlichen Modi spielen zu können! (der antike Organist hatte halt nur weisse Tasten. Denen sieht man nicht an, wo die Halbtonschritte liegen…..)

    Die gleichschwebende Temperatur erlaubt natürlich bei fixem Kammerton diese Skalen beliebig zu transponieren. Es gibt allerdings Fundamentalisten, die darin das ursprüngliche System der Modi nicht mehr wiederfinden wollen. In der Tat ist das eine Erweiterung, die ursprünglich gar nicht vorgesehen war...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)


  • Die gleichschwebende Temperatur erlaubt natürlich bei fixem Kammerton diese Skalen beliebig zu transponieren. Es gibt allerdings Fundamentalisten, die darin das ursprüngliche System der Modi nicht mehr wiederfinden wollen.

    Hmm... was ist es denn dann?

    für die Erläuterungen dankend,
    Philipp :wink:

  • Hmnaja… Wie will der Hörer in dieser Musik (lassen wir mal Messiaen beiseite) vorausahnen, was später passiert? In aleatorischen Werken kann er das nicht. Gut, serielle Musik ist streng deterministisch was die Tonhöhe betrifft. Auf diese Weise ist der jeweils folgende Ton bis zum Ende des Stückes prinzipiell vorhersagbar. Damit ist der Determinismus aber auch schon erschöpft, und die hier wesentlichen Elemente wie Dynamik, Tondauer, Tonabstand, Klangfarbe sind ja gerade nicht vorhersehbar. Tatsächlich ist das Ergebnis für den Hörer exakt das gleiche, wie bei Aleatorik in freier Atonalität. Ligeti hat eben diese Beobachtung mal so kommentiert, daß es für einen Passanten, der auf der Straße von einem Stein am Kopf getroffen würde auch völlig unerheblich sei, ob dieses Ereignis eine Folge des Zufalls ist oder das Ergebnis einer minutiösen Vorausberechnung von Raum und Zeit. Auf die gleiche Weise gibt es für den Hörer von serieller oder aleatorischer Musik keinen Unterschied.

    Bei welcher Musik kann man den weiteren Verlauf vorhersagen? Ist Schuberts "Unvollendete" unvollendet, weil man sich ja eh denken kann wie's weitergeht?
    Die Nachkriegsavantgarde scheint mir nicht generell Musik zu bieten, wo man nur den Augenblick genießen kann. Cage ist da doch eher die Ausnahme.

    :wink:

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • hier nur eine Nachbemerkung zu einem Seitenthema aus einem anderen Faden:

    Die Frage ist ja: ist das so? Bekommen die relativen Konsonanzen in dem Kontext der "emanzipierten Dissonanz" etwas von dem "Strebevermögen", das vorher nur den Dissonanzen zukommt? mein Verdacht ist: das tun sie nicht, und deshalb besteht halt dann die Tendenz, dass sie eher als Fremdkörper empfunden werden und vermieden werden.

    zugegeben, daß die Idee einer "Emanzipation der Konsonanz" etwas recht Spekulatives an sich hat, aber ich bin soeben über ein Schönberg-Zitat gestolpert, daß m.E. in diese Richtung geht bzw. etwas derartiges impliziert:

    Jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, macht dessen Bedeutung zweifelhaft. Wenn zum Beispiel G auf C folgt, kann das Ohr nicht sicher sein, ob dadurch C-Dur oder sogar F-Dur oder e-Moll ausgedrückt wird; und die Hinzufügung anderer Töne kann dies Problem klären oder nicht. Jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, macht dessen Bedeutung zweifelhaft. Wenn zum Beispiel G auf C folgt, kann das Ohr nicht sicher sein, ob dadurch C-Dur oder sogar F-Dur oder e-Moll ausgedrückt wird; und die Hinzufügung anderer Töne kann dies Problem klären oder nicht.

    (Schönberg: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke«, in: Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (= Gesammelte Schriften 1), 1976, S. 33)

    Allerdings hält sich Schönbergs Argumentation hier ganz im Rahmen einer Tonalität, ich denke aber, man kann sie auf atonalen Kontext übertragen. Wenn Schönberg davon spricht, jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, mach[e] dessen Bedeutung zweifelhaft, so setzt er doch eine Art "Konkurrenzverhältnis" zwischen den Tönen voraus. Und dieses Konkurrenzverhältnis kann man sich m.E. auch in atonaler Musik vorstellen, etwas so, das tendenziell jeder Ton eine Art eigener Perspektive auf seine Umgebung eröffnet. Das würde dann für die Konsonanzen deren "Emanzipation", besser deren "emanzipative Auffassung" bedeuten. Na ja, so ganz ausgegoren ist das nicht.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Danke, hab diesen alten Thread eben mal wieder mit Genuss überflogen :) Capriccio vor elf Jahren war schon toll... So viele Mitglieder und ellenlange Beiträge... :wink:

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